Ein «Segantini-Tag»

Ein «Segantini-Tag»

F: Was ist ein «Segantini-Tag»?

R: An einem «Segantini-Tag», erlebe ich das Engadin so, wie Segantini es gemalt hat. «Diese Berge. Diese Weite. Dieses Licht», sagen wir heute. Er konnte das malen. Und das ist spürbar, wenn man vor seinen Bildern steht.

F: Also muss man ins Segantini-Museum, um das zu erleben?

R: Segantini konnte die Engadiner Landschaft so malen, dass Herz und Seele erzittern. So begreife ich seine Bilder. Aber um dies zu begreifen, musste ich zuerst draussen erfahren, was die reale Landschaft mit mir macht.

F: Und wie sieht diese Erfahrung aus?

R: Sie besteht aus purer Begeisterung und purer Freude. Die Berge sind ja immer da. Die Weite auch, nur das Licht hat nicht immer die gleiche Qualität. Aber an «Segantini-Tagen» leuchtet es sozusagen aus dem Innern der Landschaft. Und das ist wunderbar.

F: Aber geschieht das nicht immer, wenn hier im Engadin die Sonne scheint?

R: Eigentlich schon, aber wir sind nicht immer bereit, dieses Leuchten so zu sehen. Im normalen Alltag schauen wir von aussen auf die Lärchen oder auf den grünen Inn, der von der Sonne beleuchtet wird. An «Segantini-Tagen» kehren wir diese Perspektive um und schauen von innen.

F: Das ist mir zu abstrakt. Wie soll ich mir das vorstellen?

R: Ganz konkret: Am letzten Freitag lag zum ersten Mal im Jahr Schnee hier. Der Himmel war wolkenlos. Die Lärchen noch gelb aber schneebedeckt. Eiskristalle von gefrorenem Nebel an allen Ästen – eine magische Stimmung. Ich bin am revitalisierten Inn bei Bever entlang spaziert und konnte mich kaum sattsehen. Und so erging es allen. Ich habe noch nie so viele Leute gesehen, die immer und immer wieder nach ein paar Schritten stehen blieben und fotografiert haben. Und alle strahlten und waren glücklich. Ich habe auch noch nie so viele Gespräche geführt. Man konnte gar nicht anders als die Begeisterung und Freude, die alle verspürten, allen andern mitzuteilen. Nicht nur die Lärchen leuchteten, auch die Spaziergängerinnen und Spaziergänger hatten dieses Leuchten auf ihren Gesichtern.

F: Das klingt beeindruckend.

R: Es war überwältigend. Diese Wucht von Schönheit erfasste alle und alles. Und plötzlich war man eben nicht mehr nur Beobachter oder Fotograf, sondern Teil dieser leuchtenden Landschaft, wie die Lärchen, wie der Beverin, der Inn oder der Kirchturm. Alles leuchtete und man leuchtete mit.

F: Also quasi ein Erleuchtungserlebnis (schmunzelt)?

R (lacht): Ich würde das jetzt auch nicht zu hoch hängen wollen. Sagen wir doch einfach: ein «Segantini-Tag». Ich glaube, dass Maler wie Segantini, aber auch Van Gogh, eben nicht nur die Kunst des Malens beherrschten, sondern auch die Gabe hatten, Landschaften von innen zu sehen. Sie verschmolzen sozusagen mit der Landschaft und genau das macht ihre Bilder so berührend. Wir Normalsterblichen besitzen diese Gabe auch, aber sie ist bei uns weniger ausgeprägt. Aber an solchen «Segantini-Tagen» poppt sie auf und das ist dann eine pure Freude.

#gemeindebever (instagram)

Rhythm of the Saints

Rhythm of the Saints

Vorhang auf, grosse Bühne. Darauf ein Turm von Trommeln, Congas, Bongos, Cimbeln und Zeugs, das ich noch nie gesehen habe … dann schlendert der erste Musiker rein, setzt sich irgendwo in diesen Wirrwarr und gibt einen Rhythmus vor. Ein zweiter kommt, nimmt den Rhythmus mit einem anderen Instrument auf. Ein Dritter klettert auf den Turm, setzt ein. Ein Vierter, Fünfter. Die ganze Bühne schwingt sich ein, dann kommen mehr Musiker. Der Rhythmus schwappt über den Bühnenrand hinaus. Das Stadion beginnt zu schwingen. Boden, Stühle, Wände. Dann die Leute. Dann noch mehr Musiker auf der Bühne, fast zwei Dutzend jetzt, nur Rhythmus. Dieser Teppich bläst mich glatt weg, rollt über mich und hört nicht auf zu stampfen und zu schwingen und zu pumpen.

Dann erst kommen die Bläser, die Gitarristen, die Akkordeonisten und beginnen die Rhythmen mit Melodien zu bearbeiten, walzen sich durch, kneten das Bummern. Mein Zwerchfell ist ein einziger Resonanzboden inzwischen. Ich darf nicht vergessen Luft zu holen! Jetzt ist die Musik auch bei den Füssen angelangt. Nicht nur bei mir. Das ganze ausverkaufte Hallenstadion wippt, stampft und grooved. Ein Hexenkessel!

Und erst jetzt, zehn Minuten nach dem ersten Taktschlag, kommt der Star auf die Bühne. Ein kleiner, winziger Paul Simon vor diesem riesigen wummernden Turm mit einer Gitarre in der Hand, die er zusammen mit seiner Stimme zum Mikrofon trägt. Er hat diese «Rhythm of the Saints» inszeniert, war in Brasilien, hat Musiker von dort mitgenommen, Lieder zu den Rhythmen geschrieben und die spielen sie jetzt, direkt für unsere Zwerchfelle, wo die Fröhlichkeit, die Ausgelassenheit und die Lebensfreude explodieren. Mitten im Bauch. Und das halten sie durch, zwei Stunden lang, ein Lied ins andere rein, immer tranceartiger bis zur Erschöpfung, bis unsere Felle nur noch schlaff zwischen den Knochen hängen und die Füsse es kaum mehr bis zum Ausgang schaffen.

(Hallenstadion, Zürich, 1991)

Smalltalk mit einem Berg

Smalltalk mit einem Berg

Die Greina ist eine der schönsten Hochebenen der Schweiz, eine Landschaft von nationaler Bedeutung und ein Symbol des erfolgreichen Politwiderstands. Denn die Greina sollte überflutet werden, weil Stromfirmen einen Stausee bauen wollten. Deshalb ist die Greina unter Linken und Grünen ein beliebtes Wanderziel. Ich bin allerdings mit einem Zeitungsredaktor der bürgerlich orientierten Neuen Zürcher Zeitung unterwegs, völlig unideologisch, einfach weil uns die Landschaft hier oben fasziniert.

Wir kommen vom Süden her, aus dem Tessin und steigen über einen kleinen Pass in die Hochebene hinunter. Es ist Frühsommer. Der Schnee ist geschmolzen, aber überall fliesst noch reichlich Wasser. So viel, dass es gar nicht so einfach ist, das namensgebende Flüsschen Greina zu überqueren. Wir müssen eine Passage suchen, bei der wir von Felsblock zu Felsblock springen können. Das Wasser ist hier noch reissend, eisig kalt und von milchiger Farbe.

Weiter unten wird es dann klarer und durch die Ebene schlängelt und windet sich die Greina als einer der letzten, freien Flüsse der Schweiz. Es ist ein herrlicher Anblick! Er erinnert uns an nordische Landschaften. Wollgras winkt bereits mit seinen schneeweissen Zotten im Wind. Noch weiter unten grasen ein paar Pferde. Die ganze Landschaft wirkt unberührt, heil. 

Über diese Hochebene zu wandern dauert ungefähr eine Stunde. Wir geniessen sie sehr. Reden kaum miteinander. Machen Fotos. Bleiben immer wieder auch stehen. Am unteren Ende der Hochebene, dort, wo die Ebene gegen das Tal abknickt, steht eine rostig orange Stahlskulptur, ein Engel. Mir gefällt sie. Ich bleibe lange neben ihr stehen und folge ihrem Blick. Er ist über den Fluss hinweg auf den Bergkegel vis-à-vis gerichtet. Ich geniesse nochmals die Ruhe, blicke zurück auf das breite Tal mit dem mäandrierenden Fluss, freue mich, dass dieses Tal unversehrt geblieben ist und gehe dann weiter. Mein Freund ist jetzt bereits ein paar hundert Meter vorausgelaufen. Aber wir haben Zeit, eilen muss ich nicht. Und so schaue ich mir den Bergkegel auf der anderen Talseite etwas genauer an. Er hat gegen Süden eine trockene, felsige Flanke und eine Felskante, die den Süden vom Norden trennt. Nördlich der Felskante ist es schattig und dunkelgrün und nass. Hier fliesst Schmelzwasser zur Greina hinab. Es ist Mitte Nachmittag und die Sonne wirft ihre Strahlen schräg auf den Berg. Dieses Licht macht seine Konturen sehr lebendig. Dann höre ich ihn sagen: „Alles ist gut.“

Mit einem Ruck bleibe ich stehen. Was habe ich gerade gehört? Ich schaue hinüber zum Berg und er wiederholt: “Alles ist gut.“ Der Berg spricht. Ich schaue ihn verdattert an. Sehe wie das Wasser in Rinnsalen seine Flanken hinunterfliesst. Alles ist gut? Er stehe schon sehr, sehr lange hier, sagt er. Und werde auch noch sehr, sehr lange hierstehen. „Einfach da sein“, meint er. „Friedlich ruhen in sich selbst.“ Ich merke, wie das Zeitgefühl dieses Berges auf mich übergreift, wie die Jahrmillionen spürbar werden. Die Staumauer, die hier hätte gebaut werden sollen – ein Wimpernschlag in seiner Zeit. Der politische Widerstand, der sich hier manifestierte – schon vorbei. Mein eigenes Leben – einmal einatmen des Berges und einmal ausatmen. Unheimlich die Ruhe und Beständigkeit, die mir der Berg in diesem Moment entgegenbringt! „Vertraue, alles ist gut“, wiederholt er. Aber die ganze Umweltzerstörung in der Welt!? All die Katastrophen, Meeresverschmutzung, Artensterben?! „In meinen Zeiträumen ist das nur ein Zittern an der Oberfläche“, versichert er. „Ich reiche tief bis ins Innere der Erde und gegen oben weit in den Himmel hinein. Deshalb kann ich sagen, in meinem Empfinden ist alles gut so wie es ist.“

Ich stehe immer noch auf diesem Weg, wie angewurzelt, und sehe mich plötzlich von aussen, wie ich mit diesem Berg gegenüber rede. Ich nehme wahr, wie dieser Mann und dieser Berg und dieser Engel aus Stahl eins sind, zutiefst miteinander verbunden. Dass es deshalb gar nicht verwunderlich ist, was dieser Mann tut, nämlich mit einem Berg sprechen. Und dass es ganz natürlich ist, dass dieser Berg mit diesem Mann spricht. Ich nehme das alles wahr und lache. Gleichzeitig höre ich, wie dieser Mann lacht, sehe wie er sich leicht vor dem Berg verneigt, ihm adieu sagt und weitergeht.

Gott ruht im Herzen der Steine, atmet mit den Pflanzen, träumt in den Tieren und erwacht im Menschen. (aus Indien)

Integrale Kommunikation in einem Hörsaal

Integrale Kommunikation in einem Hörsaal

Ich gebe seit über zwanzig Jahren eine Vorlesung an einer der besten Hochschulen der Welt. Nur dass ich sie nicht gebe, sondern sie empfange und es auch keine Vorlesung ist, sondern ein Experiment und eine Erfahrung, wie Kommunikation zwischen Menschen gelingen kann. Das läuft folgendermassen ab:

Zu Anfang fordere ich die Studierenden auf, sich ihre Ohren zu massieren. Für Leute, die zu spät kommen und dieses Ritual noch nicht kennen, wirkt das einigermassen skurril. Sie platzen dann in eine «Vorlesung» und sehen als erstes zwei bis drei Dutzend Kommilitonen, die sich die Ohren kneten, inklusive eines Dozenten, der mit derselben Tätigkeit beschäftigt ist.

Dieses Massageritual zögert den Moment hinaus, in dem ich etwas sagen muss. Beziehungsweise es stimmt auf ihn ein. Denn um Einstimmung im wahrsten Sinne des Wortes geht es.

Wenn ich dann den Mund aufmache, weiss ich nicht was rauskommt. Ich folge in diesem Moment meiner Intuition. Ich habe keine bestimmte Absicht. Will nichts Bestimmtes lehren, sondern stehe einfach mit meinem Wissen und meiner Erfahrung da, um sie zu teilen. Was geteilt wird, wie es geteilt und wie es mitgeteilt wird überlasse ich dem Augenblick.

„Kommunikation stammt aus dem Lateinischen communicareund bedeutet teilen, mitteilen, teilhaben lassen, gemeinsam machen, vereinigen.“ (wikipedia). Normalerweise geht das Mitteilen von einem Sender aus und trifft den Empfänger. Der Sender verfolgt dabei ein Ziel, will eine Botschaft rüberbringen. Normalerweise scheitert dieses Unterfangen, zumindest ist das meine Überzeugung nach vierzig Jahren professioneller Kommunikationsarbeit. Der Grund für dieses Scheitern liegt kurz gesagt darin, dass auf diese Weise nichts wirklich geteilt wird. Es wird etwas rübergeschoben, so wie man ein Paket über den Tisch schiebt. Das genügt jedoch nicht und bewirkt nichts – mit Ausnahme von simplen Informationspaketen wie «bei der nächsten Kreuzung links abbiegen». Deshalb verfolge ich in meiner Vorlesung, die keine ist, einen anderen Ansatz. Dieser Ansatz ist eine Mischung aus zwei Erfahrungsbereichen, die ich «Flow» und «Resonanz» nenne. Wie sieht das konkret aus? 

Wie ein Freund von mir einmal treffend bemerkte: „Im Fluss sein kann man nur, wenn man den Boden unter den Füssen verliert.“ Bildlich gesprochen steige ich nach der Ohrenmassage nackt in diesen Fluss, stosse mich ab vom Ufer und lasse mich treiben. Und meistens legen meine Zuhörerinnen und Zuhörer nach einiger Zeit ebenfalls ihre schützenden Hüllen ab und gleiten ins Wasser. Dann treiben wir gemeinsam mit der Strömung. Diese Strömung ist der uns umspülende Bewusstseinsstrom. Was dabei auftaucht bestimmen wir gemeinsam, nicht ich allein. Dabei findet spürbar eine Öffnung statt, sowohl bei mir als auch bei einer Mehrheit der Studierenden. Es erscheinen dabei zum Teil sehr persönliche Erfahrungen; aber indem sie auftauchen verlieren sie ein Stück weit ihre Intimität und fliessen einfach ein, in das Miteinander-Reden und sich Einander-Zeigen.

Nach 15 Jahren Schulzeit, das heisst nach 15 Jahren Erdulden dieses epischen Wissenstransfers wirkt das Eintauchen in den Bewusstseinsstrom ungemein entspannend. Es ist die Erfahrung, dass wir als Menscheneinander etwas zu sagen haben, unabhängig von unserem Wissen. Etwas kommt dabei in Schwingung und diese Schwingung nehmen wir wahr. An uns selbst und an den anderen. Wenn das passiert entsteht ein Klang, wie derjenige eines Orchesters. Und wie bei einem Orchester muss weder das Piano noch die Trompete recht haben, sondern alle Instrumente geben ihres, um einen runden, schwingenden Klangkörper zu schaffen. So läuft das auch in dieser Vorlesung. Die Studenten und ich machen die Erfahrung, dass wir miteinander kommunizieren können und dass dadurch etwas in Bewegung kommt. Das ist ganz grundlegend, aber für viele, die hier im Hörsaal sitzen, ist es das erste Mal, dass sie ein solches Kommunikationserlebnis haben.

Es ist eine schlichte Erfahrung, die wir da machen. Eine aussergewöhnliche Erfahrung an einer Hochschule, aber eine wertvolle. Und sie mündet in die schlichte Erkenntnis, dass wir als Menschen einander etwas zu sagen haben. Dass wir füreinander bedeutungsvoll sind. Erst jetzt, wenn wir uns in diesem Bewusstseinsstrom treiben lassen, kann ich mein Wissen und meine Erfahrungen teilen. Erst jetzt bekommen sie eine Bedeutung und nur wenn sie eine Bedeutung haben, können sie wirken.

Ich wollte als Junge immer Dirigent werden. Aber damals habe ich mir das als machtvolle Position vorgestellt. Und so ist es nicht. Wenn die Musik erst einmal spielt, ist es einfach ein Entspannen, in dem was da an Schwingungen und Tönen auftaucht. Und es so geniessen und sein lassen, stimmig wie es ist.

Der Vorlesungstitel heisst «Integrale Umweltkommunikation». Die Vorlesung, die keine ist, findet jeweils im Herbstsemester an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich statt.

Mondwanderung Bödmeren-Silberen

Mondwanderung Bödmeren-Silberen

Die Magie einer Mondnacht, die einen silbernen Schein über die Karstlandschaft legt – das wollten wir erleben.

Losgewandert sind wir vom Bödmerenwald, dem grössten Urwald des Alpenraums. Er liegt am Pragelpass im Kanton Schwyz, in der Schweiz. Manche der Bäume hier sind 500 Jahre alt, Fichten mit meterlangen Bart-Flechten behangen, wie im Wald Fangorn aus dem «Herr der Ringe» von Tolkien. Kein Mensch weit und breit, ausser ein junger Freund von mir und ich. Er geht voran, auf Wegen die mehr Trampelpfade sind als Wege. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen. Schaut, weist mich auf besondere Blumen hin, auf spezielle, riesige, von Moosen und Farnen überwucherte Steine, auf die phantastischen Wuchsformen von Ästen der alten Fichten. Er hat ein gutes Auge, das ehrfürchtig auf diese unberührte Natur schaut.

Wir reden nicht viel. In der Stille schwingen wir uns ein auf diesen Ort hier und auf uns. Hier stimmt alles. So wie es ist, so ist es gut. Das Wachstum dieser riesigen Bäume ist gut. Und wenn der Sturm einen alten fällt, ist es auch gut, selbst wenn der alte einige Junge unter sich begräbt. Die Erde hier ist in ihrer vollen Kraft und wir spüren, dass sie uns daran teilhaben lässt.

Je weiter wir den Berg hoch wandern, um so lichter wird der Wald. Am Mittag haben wir die Waldgrenze erreicht und machen ein Picknick. Es geht uns gut. Wir haben etwas zu essen, zu trinken, sitzen in einer der grossartigsten Landschaften der Schweiz und fühlen, dass wir hier und jetzt gemeinsam etwas erleben, das aussergewöhnlich wertvoll und schön ist.

Dann geht’s weiter hinauf, über die Baumgrenze. Vor uns entfaltet sich die Karstlandschaft, hell fast grell glänzend im Sonnenschein. Wir kommen ins Schwitzen. Auch weil wir die Wege ab und zu verlieren, uns verlaufen, neu suchen müssen, uns neu orientieren müssen. Trotzdem ist es herrlich. Wir sind vollkommen für uns. Inmitten dieser phantastischen Natur. Wir wandern über arg zerklüftete Felsrücken, federn durch Moore, entdecken kleine Seen und Tümpel. Der Wind pfeift an gewissen Ecken und nutzt die Karren und Schratten als Orgelpfeifen. Wir fühlen uns in eine andere Welt versetzt. Die Düfte, die Formen, die Töne, die Einsamkeit, alles zusammen wirkt entrückt, irreal.

Es ist eine weite Wanderung. Stunde um Stunde vergeht und wir spüren, wie wir langsam ermüden. Die Dämmerung legt sich über uns. Es wird dunkler und dunkler. Wir rasten erneut. Diesmal an einem kleinen Tümpel. Wir sind erschöpft. Essen, was wir noch haben. Und dann geht der Mond auf. Er erscheint über dem Berggipfel und spiegelt sich im Wasser des Teiches. Es fühlt sich an wie ein Zauberschlag. Plötzlich verwandelt sich die dunkle Landschaft in ein Bild von Formen, die allesamt mit einem silbrig glänzenden Schleier überzogen sind. Von oben scheint der volle Mond, von unten scheint die Erde zurück. Uns laufen die Augen über. So schön ist das. Es gibt gar nichts mehr zu sagen. Wir staunen nur. Sind selber verzaubert. Sehen wie der andere auch feuchte Augen bekommt von alldem Zauberhaften, das sich vor uns ausbreitet.

Leise packen wir unsere Rucksäcke zusammen und machen uns auf den Weg durch dieses Zauberland. In dem jeder einzelne Stein glänzt. Jeder Ast plötzlich von Silber überzogen ist. Jeder Halm eine Silbersträhne. Der Rückweg hinunter zum Pragelpass ist noch weit. Wir gehen ihn in einer Art Trance, bezaubert und vollkommen erschöpft. Als wir endlich unten auf der Passstrasse ankommen, fallen wir uns in die Arme. Wir können kaum noch stehen und hängen aneinander, drücken einander, atmen einander ein und realisieren, dass wir zusammen etwas Surreales und etwas Esoterisches erlebt haben, das wir nie vergessen werden. Und noch in dieser Umarmung kommen wir beide langsam wieder in der realen Welt an. Der Zauber, der uns eben noch vollständig umfangen hat, weicht zurück, wie ein leichter Nebel, der vom Wind weggetrieben wird. Wir öffnen die Augen, lösen uns, blicken einander in die Augen. Es ist ein tiefer Blick. Ein Lächeln. Ein gemeinsames Abschiednehmen und Zurückkehren in die normale Welt jenseits der Magie einer Mondnacht.

(2009)

Bitte anschnallen

Bitte anschnallen

Im Bergwald von Laax erkunde und ersinne ich einen Pfad, der Touristen die Natur der Alpen nahebringen soll. Über ein Dutzend Stationen habe ich mir bereits ausgedacht. Es soll Duftglocken geben, unter denen die Wanderer in Arven-, Tannen- und Erikawolken eintauchen. Oder Liegen aus Moos, auf denen sie die Stille eines Bergwaldes geniessen können. Oder ein Baumstamm-Xylophon, das bespielt werden kann. Der Wegverlauf und die einzelnen Stationen sind inzwischen schon ziemlich klar. Deshalb laufe ich heute den Weg nochmals ab und teste, ob auch der Rhythmus stimmt; also ob in sinnvollen Abständen die nächste Station auftaucht oder ob es Lücken gibt. Und tatsächlich: nach ungefähr zwei Dritteln der Wegstrecke gibt es eine ganze Weile lang keine Station. Der Wald ist dort sehr licht, grosse alte Einzelbäume stehen verstreut, der Jungwuchs ist spärlich, es gibt Polster von Heidelbeeren und Böschungen mit Erika, viel Moos auch.

Ich schaue mich um. Der grösste Einzelbaum ist eine alte Buche, die etwas vom Weg entfernt steht. Ich gehe zu ihr hin und stelle mich darunter, lehne mich an ihren Stamm – und stelle mir vor, ich wäre diese Buche. Nach ein oder zwei Minuten will ich weitergehen, mich weiter umsehen, aber etwas hält mich zurück. Mir geht auf, dass diese Buche wohl schon 80 oder hundert Jahre hier steht. Wenn ich also etwas mehr vom Geist dieser Buche erfahren möchte, muss ich es noch etwas länger hier am Stamm aushalten. Ich bleibe also stehen. Dabei kommt mir in den Sinn, dass es hilfreich wäre, wenn hier ein Gurt hängen würde, mit dem man sich an die Buche anschnallen könnte. Und ich stelle mir vor, wie ich angeschnallt am Stamm festgebunden bin. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Stehe einfach da. Wie die Buche. Bin verwurzelt. Bin ein Baum. 

Ich schaue mich um als Baum. Alleine bin ich nicht. Es gibt andere wie ich. Es gibt den Wind, der mir Düfte und Nachrichten von weither bringt. Es gibt die Vögel, die auf meinen Ästen rumalbern oder absitzen und sich ausruhen. Es wird Tag und wieder Nacht. Jahrein, jahraus. Ich bin einfach da. Regen kommt. Sonne scheint. Im Winter fällt Schnee. Das alles stört mich nicht in meinem Dasein. Ich bin da, ganz Baum, der nirgends hinmuss. Ruhe. Ich wachse. Ich repräsentiere Stabilität, nicht zehn, sondern hundert Jahre und auch mehr, wenn ich stehen gelassen werde. Einige hundert Jahre alt kann ich werden und einfach hier stehen bleiben. Ich bin die Seele dieses Ortes, zusammen mit den anderen Stämmen hier. 

Ich mache auch Junge, blühe, trage Früchte und werfe diese ab. Aus den allerwenigsten wächst ein neuer Baum. Wenn ich mich umschaue, sehe ich vielleicht ein halbes Dutzend Nachkommen. Sie leben am Rande meines Schattens. Ich sehe, wie sie kämpfen müssen, auch mit meiner Grösse, aber auch mit dem Wild, das ihre jungen Knospen zerbeisst, oder mit dem Schnee, der sie niederdrückt. Ich kann ihnen nicht helfen. Es ist auch nicht meine Aufgabe, ihnen zu helfen. Ich habe sie zur Welt gebracht. Mehr vermag ich nicht für sie zu tun.

Ich spüre auch, wie weit hinunter in die Erde meine Wurzeln reichen. Aus dieser Dunkelheit und Tiefe hole ich Wasser und Mineralien ins Licht. Diese Wurzeln machen meine Kraft aus. Ich kann nicht umfallen, nicht im Sturm und nicht vom Schnee und seiner Last; dazu bin ich viel zu stark.

So angeschnallt und verbunden mit dem Leben dieser Buche verbringe ich zwanzig Minuten. Dann löse ich die imaginären Gurten und trete unter der Krone hervor. Mit einem Dank verabschiede ich mich. «Bitte anschnallen» wird eine Station auf diesem Naturpfad, ganz sicher.

(2017)

#Ankommen

#Ankommen

Der Auslöser für den Titel #Ankommen ist eine Umkleidekabine. Ich bin mit meinem Sohn auf Einkaufstour. Er braucht eine neue Skijacke, ich ein paar Wintersocken. Mit suchenden Blicken passieren wir Regale, nehmen dort ein Stück heraus, um es genauer zu betrachten, schieben an einem anderen ein paar Bügel beiseite, um einen besseren Blick zu bekommen. Schliesslich probiert er eine erste Jacke: nicht schlecht, die Ärmel sind vielleicht eine Spur zu kurz. Danach ein zweite: nein, die Farbe sah zwar am Bügel gut aus, an ihm aber nicht. Die dritte: er schlüpft rein in die Ärmel und sie umschliessen seine Arme wie eine zweite Haut, er zieht den Reissverschluss hoch bis unters Kinn und es ist als würde sein Körper in eine vollendete Form fallen – das Stück passt perfekt, Farbe, Form, Material, einfach alles.

Manchmal, selten genug, passiert’s, wenn man Kleider anprobiert. Dann gibt es keinen Zweifel mehr. Dieses Stück und kein anderes muss es sein. #Ankommen. Man kommt zu diesem Kleidungsstück als ob es für einen bestimmt wäre; als ob es die ganze Zeit da im Regal gehangen und auf einen gewartet hätte. Wunderbar! Es sind diese Stücke, die einem lange erhalten bleiben und von denen man sich nur mehr ungern trennt, selbst wenn man aus ihnen herausgewachsen ist.

Man geht in Resonanz mit diesem einmaligen Ding. Das geschieht plötzlich, ist nicht vorhersehbar, und auch mit ausführlichen Internetrecherchen nicht planbar.

Bei mir gibt’s das bei Autos. Jahrzehntelang betrachtete ich Autos als Vehikel, um von A nach B zu gelangen. Die einen etwas komfortabler als die anderen. Aber irgendwann, nachdem unser alter Ford kaputt gegangen war, setzte ich mich in einen Jaguar X-Type. Und da war es: alles passte wie angegossen; ich sass auf schwarzen Ledersitzen, die sich an meinen Rücken und meine Oberschenkel schmiegten, ich genoss die gediegende Atmosphäre, die das Armaturenbrett aus Holz verbreitete; ich freute mich am Klang des surrenden 6-Zylinder-Motors; alles war handlich, passend, auf mich zugeschnitten, einfach wunderbar. Ich kaufte das Teil und erlebte mit ihm die beste Autofahrzeit meines Lebens.

#Ankommen kann man auch:

  • im Körper
  • beim Essen
  • daheim
  • im Beruf
  • in einem Buch
  • in einem Film
  • in einer Freundschaft
  • beim Sex
  • in einem Land
  • in einem Garten
  • bei einer Hose

Es ist dingliches, materielles Verbundensein. Wenn’s passiert, erlebt man Resonanz.

(2017)

Der Federer-Effekt

Der Federer-Effekt

Plötzlich sehe ich es. 

All die Jahre, in denen ich Tennis spiele, habe ich es nicht gesehen. Jetzt ist die Sicht da. Ich stehe mit einem Freund auf dem Platz in der Tennishalle Pilatus und realisiere mit einem Mal, wie absolut unglaublich es ist, überhaupt den Ball zu treffen. Ich nehme wahr, mit welch unfassbarem Zusammenspiel aller Muskeln und Sinne er den Ball zum Service hochwirft, ihn trifft und in mein Feld spielt. Und wie in Zeitlupe verfolge ich, wie meine Augen diesen Ball fixieren und mein Gehirn gleichzeitig aus sämtlichen Rohren schiesst, um meine Muskeln dorthin zu bewegen, wo ich den Ball treffen soll. Es kommt mir ganz und gar unwirklich vor, wie so etwas, solch eine Bewegung überhaupt auszuführen ist. Und wie ich mich gleichzeitig mit allen Sinnen im Raum orientiere, die richtige Stellung zum Ball finde, aushole und den Schlag führe. Es ist ein wunderbarer Tanz. Vollkommen perfekt in sich. Es ist ein irrsinniges Zusammenfliessen und Verströmen von Energien, von Reizen, von Antworten darauf. Und alles geschieht in natürlicher Eleganz, eben wie ein Tanz. 

Man könnte auf die Idee kommen, dass das eine Erleuchtung auf dem Tennisplatz war.

Am nächsten Tag schaue ich dann Roger Federer im Fernsehen zu und habe dieses Erlebnis in abgeschwächter Form (höchstens noch 10%) nochmals.

Viel Vergnügen beim Australian Open!!

(Tennisplatz, November 2017)

Sein wo man ist

Sein wo man ist

Eine Zeit lang bin ich jeden Donnerstagmorgen in unseren Garten gegangen und habe dort zwanzig Minuten lang achtsam gearbeitet; mal Rosen geschnitten, mal Wege gejätet, mal Beeren angebunden, … Das hat mir sehr viel Ruhe in den Alltag gebracht. So viel, dass ich über diese stillen zwanzig Minuten ein kleines Buch geschrieben habe. «Meditatives Gärtnern» (https://www.google.com/search?client=firefox-b-ab&q=Meditatives+G%C3%A4rtnern)

Es sind kurze Texte. Einer davon ist der Folgende:

Sechs Uhr in der Früh. Der Garten ist ohne mich gewachsen in den vergangenen zwei Monaten. Das tut er, einfach so. Das Leben darin hat sich ohne mich abgespielt. Ich stand daneben, einfach so.

Jetzt versuche ich, wieder hinein zu kommen. Die Stille ist schon da, wie sie es immer ist. Sie wartet nur auf mich. Ich gehe hinein. Es hat geregnet in der Nacht. Jetzt donnert es. Ich gehe ein Stück des Weges in den Garten, atme, spüre, wie der Atem kommt und geht, aber nicht fliesst. Dann beginnt es zu tröpfeln. Das Räucherwerk, das ich in den Händen halte, darf nicht nass werden – ich gehe zurück, stelle mich unter das Garagendach, lege das Räucherwerk ins Trockene.

Nur ein warmer Sommerregen, denke ich. Den Hut habe ich vergessen. Ich trete wieder hinaus, spüre die Tropfen auf meinem Schädel, hole die Grasschere und beginne mit Gras schneiden rund um die kleine Buddhastatue aus Stein. Die Messer wetzen gegeneinander, ritsch-ratsch, schön regelmässig. Der Regen hat die Halme gebeugt, gerade so, dass ich deutlich sehen kann, wo ich zu schneiden habe. Ritsch-ratsch ist ein leises, schönes Geräusch, nicht unähnlich demjenigen einer Sichel. Ich schneide gebückt die zwei Quadratmeter, denke an die Millionen von Sicheln, die jetzt gerade, im selben Augenblick den Reis schneiden in Asien, fühle mich verbunden, vergessen ist der Regen, ritsch-ratsch.

Der Buddha kommt frei. Ich hole das tiefgelbe Tuch, das mir eine Leserin geschenkt hat, um unseren Buddha zu schmücken. Es liegt noch im Trockenen. Ich binde es ihm um die Schultern. Es ist Licht. Ich hole die Räucherstäbchen, die sie mitgegeben hat und zünde sie an, trotz Regen. Dann trete ich drei Schritte zurück und blicke ihn an. Ich weiss, dass es nicht stimmt, aber er lächelt jetzt etwas breiter, schaut etwas zufriedener, befreit von Gras und zwei Schnecken, geschmückt mit einem leuchtenden Tuch und dem süsslichen Duft seiner Heimat in der Nase.

Ich lächle auch. Es regnet trotzdem. Ich bin nass. Es ist gut so. Ich gehe zurück, putze die Grasschere und lege sie zurück in den Schrank. Jetzt ist die Achtsamkeit da. Ich spüre, wie die Streichhölzer in meiner Hosentasche gegen den Schenkel drücken, gehe nochmals zurück, um auch sie an ihren Ort zu verstauen. Und weil ich dafür nochmals in den Regen hinaustreten muss, werde ich nochmals nass und genau in diesem Augenblick bin ich verbunden mit all den vielen, die durchhalten, die Disziplin üben, die tun, was getan werden muss, ob es regnet oder schneit, auch wenn es dunkel ist und mühselig und nichts als ihre Pflicht, ihr Tun an dem Ort, an den sie hingekommen sind.

Ihnen widme ich diese Zeilen. Und ihnen wünsche ich, dass sie beschenkt werden, wie ich heute, mit einem hellen, gelben Tuch, das Licht in den Regentag bringt.

(geschrieben am 29.6.06)

Weit weg am Laghetto di Pianca

Weit weg am Laghetto di Pianca

Die Freiheit hat zwei Gesichter. Das eine steht auf der Bergspitze, schaut in das weite Alpenpanorama, sieht dort im Abendrot den Monte Rosa glühen, den höchsten Gipfel der Schweiz, und fühlt sich entbunden von allem, was unten im Tal vor sich hin dämmert. Das andere schaut mich an und fragt: was willst du?

Unser Kursleiter, Bergführer, Koch und Künstler hat mich und ein paar andere zum kleinen Bergsee Laghetto di Pianca mitgenommen. Der See bedeutet ihm viel. „Es ist der schönste Platz, den ich in meinem Leben gefunden habe“, sagt er. Das Seelein liegt über dem Maggiatal im Tessin und es dauerte über sechs Stunden bis wir es erreichten, die Rucksäcke voll mit Proviant für eine Woche, mit Zelt und Schlafsack. Der Aufstieg, die Anstrengung bis an die Grenze unserer Kraft und der Schweiss waren der Preis für das erste Gesicht der Freiheit. Hier oben sind wir allein. Kein Haus, keine Strasse, nur ein Fussweg. Nicht einmal eine Telefonverbindung kommt hier zustande. Die Zivilisation und damit alle Anforderungen, Termine, Bindungen, Routinen haben wir unten im Tal gelassen. Ich spüre wie die Brust weit und der Atem frei wird. Die Luft schmeckt nach Harz und Holzfeuer und Wind. Es ist wunderbar still hier. Ab und zu zwitschert ein Vogel oder singt und wenn ich es rascheln höre, könnte es eine Schlange sein, die von mir in ihrer Ruhe oder ihrem Sonnenbad aufgescheucht wird. Das Wasser des Sees kräuselt sich nur, wenn wir selber reinsteigen; niemand anders macht hier Wellen. Und wenn ich auf den ruhigen Seespiegel blicke, sehe ich das andere Gesicht der Freiheit. Es schaut mich an und fragt: was willst du?

Eine Woche verbringe ich hier oben. Wir stehen am Morgen früh mit der Sonne auf, geweckt vom Gesang unseres Bergführers, essen etwas, bekommen einen heissen Kaffee und haben dann den ganzen Tag für uns. Am Abend kehren wir zurück ans Lagerfeuer, im Topf köchelt ein Risotto, wir essen, tauschen uns aus und gehen dann schlafen. Zum ersten Mal seit Jahren schlafe ich hier tief und fest. Und während des ganzen Tages schaut mich das zweite Gesicht an und fragt: was willst du? Ich kann auf einem Felssporn sitzen und nichts tun. Ich kann etwas gestalten mit Ästen, mit Steinen oder den uralten, gedrungenen Wacholderwurzeln. Ich kann mich ins kalte Wasser des Sees gleiten lassen und von einem Ufer zum andern schwimmen. Ich kann auf der Bergwiese in der Sonne liegen. Ich bin frei zu tun oder zu lassen, was ich will. Es ist ein Zustand, wie H.D.Thoreau ihn so gut in «Walden» beschreibt. Ungewohnt, überraschend, vor allem für mich. Wobei ich schnell merke, dass auch die zwei anderen Männer unserer kleinen Gruppe viel Mühe haben mit dieser inneren Freiheit.

Ich bin es gewohnt zu leisten, Pflichten zu erfüllen, Resultate zu liefern. Wie es mir selber dabei geht, ist weniger wichtig. Mein Selbstwert bemisst sich am Erfolg in der Welt. Dass ich es mir wert bin, selber zu entscheiden, was mir Spass und Freude macht, um das dann auch zu tun, frei und einfach weil ich ausprobieren möchte, ob es wirklich Spass macht, muss ich erst noch lernen. Ich habe keine Erfahrung damit, zu wissen, was ich wirklich will. Ich weiss nicht, was ich wirklich will. Ich weiss auch nicht, wer ich wirklich bin. 

Deshalb probiere ich einiges aus in dieser Woche, die sich als ein grosses Geschenk entpuppt. Der Kurs hier am Laghetto ist mit «Land Art» übertitelt. Das heisst, wir versuchen kreativ zu sein, mit Naturmaterialien etwas Schönes oder Wahres zu schaffen, zu spielen. Was da entsteht, kommt aus uns selber, von niemandem sonst. Unser Kursleiter begleitet uns dabei, das heisst, er kommt einmal pro Tag vorbei und fragt, ob und wie er behilflich sein kann. Dann geht es um Handwerkliches, aber meist öfter um Seelisches, um unseren Umgang mit dieser unbekannten Freiheit am See.

Das beste, was mir diese Woche gelingt, ist ein Alpenrosenbild. Ich steige vom Laghetto di Pianca hoch zum nächsten, etwas kleineren See. Das dauert eine halbe Stunde. Dort bin ich ganz allein. Dann tue ich etwas Verbotenes. Ich kneife die gesetzlich geschützten Alpenrosenblüten aus ihrem Blütenstand, sammle hunderte von ihnen und lasse sie zwischen zwei schwarz glänzenden Steinen am Seeufer zu Wasser. Es entsteht ein blutroter Blütenteppich in einem kleinen Fjord. Am Ausgang dieses Fjords klemme ich eine gebleichte Wacholderwurzel zwischen die schwarzen Steine, eine Art Brücke oder ein Tor zur offenen See. Dann mache ich ein Foto von dieser Komposition. Die Farbkontraste gefallen mir. Und beim Fotografieren bemerke ich, wie einzelne Blüten sich aus dem Teppich lösen. Sie gleiten unter dem Tor hindurch ins offene Wasser. Wahrscheinlich ist es der Wind, der sie sanft vor sich her bewegt. Hinaus in die Freiheit schwimmen sie, aus der Enge der schützenden Felsen ins offene Wasser. Ein gutes Bild.

Die Woche am Laghetto wird eine der besten meines Lebens. Einmal verbringe ich die halbe Nacht im Schlafsack unter freiem Himmel und schaue den Sternen zu, wie sie über das Firmament ziehen. Einmal kämpfen wir Männer mit schweren Stämmen eine Art Titanenkampf gegeneinander, lassen die Stämme aufeinander krachen, wieder und wieder bis wir nicht mehr können. Einmal klettere ich auf den äussersten Felssporn, setze mich dort hin und schaue abwechselnd ins Tal weit unter mir und in die Weite des Alpenpanoramas einen ganzen Morgen lang. Und immer wieder steige ich in den See und immer wieder gibt es Risotto zum Nachtessen, liebevoll zubereitet von unserem Koch und Leiter. Schon nach einem Tag legt sich eine grosse Ruhe auf uns und in uns, die uns bis zum Ende der Woche nicht mehr verlässt. Ich bin hier und bei mir angekommen. Alles ist gut.

(Laghetto di Pianca, Tessin, 2006)

(www.karijoller.ch)