Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Wir wollten auf Muottas Muragl, das ist ein 2400 Meter hoher Berg im Engadin, übernachten. Das Wetter war den ganzen Tag über trüb gewesen. Und es war saukalt, fast – 20 Grad Celsius. Wir sassen im Speisesaal des Hotels am Fenster und blickten auf die Engadiner Seen hinunter. Ausser weissen schnee- und eisbedeckten Flächen war da allerdings nicht viel zu sehen. Der Wein ging langsam zur Neige. Eigentlich hatten wir vorgehabt noch einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen, aber das da draussen war wenig einladend. Also aufs Zimmer? Wir blickten nochmals durch die grossen Fenster hinaus auf die Bergwelt. Da zeigte sich plötzlich ein kleiner schwacher gelber Streifen am Himmel. Mickrig aber stark genug, um uns rauszulocken, nur kurz, ohne Jacken und Mützen, für eine kurze Runde.

Als wir draussen ankamen war der Streifen ein klein bisschen gewachsen. Wir gingen ein paar Schritte, hundert Meter vielleicht, bis wir auf eine Fotografin trafen. Sie hatte ihr Stativ aufgestellt und wartete. Wir blickten in die Richtung ihres Objektivs: Der gelbe Streifen war deutlich gelber geworden und auch breiter. Also gingen wir nochmals 50 Meter weiter, um in die andere Talseite zu schauen. Dort war nichts zu sehen, alles grau in grau. Aber als wir uns umdrehten war der Streifen zu einer gelb, hell orangen Fläche über den weissen Gipfeln angeschwollen. Und mit jedem Schritt, den wir machten, schüttete der Himmel weiter Farbe ins Firmament. Als wir wieder bei der Fotografin ankamen war sie bereits am Bilder machen.

Wir nahmen unsere Kamera beziehungsweise das Handy ebenfalls zur Hand und taten es ihr nach. Der Himmel pumpte weiter Farbe. Und jetzt holte er auch den grossen Pinsel heraus und strich die Wolkenbalken. Hinter uns übergoss er die weissen Gipfel mit Orange und Rosa. Dann begann er richtig zuzulangen. Die Wolken wurden jetzt tief orange. Zwischendrin leuchteten türkisfarbene Himmelsfetzen aus dem All. Und jetzt begann er auch mit Rot um sich zu werfen. 

Wir schlotterten schon die ganze Zeit. Und um das zu ändern rannten wir wie junge Hunde über den Schnee Richtung Hotel. Dort auf der Terrasse fotografierten und staunten und bewunderten wir weiter. Der Himmel kannte nun kein Halten mehr. Purpur erschien. Orange wurde noch oranger. Wir konnten die Farben nicht mehr nur sehen, sie flossen so stark über, dass wir sie auch fliessen hören konnten. Es war alles symphonisch. Es gab keine Grenzen mehr. Alles zerfloss ineinander und zueinander in einem überwältigenden Farbenrausch. Wir wurden trunken. Auch wir zerflossen. Überall war Farbe. Orange auf unseren Gesichtern. Gelb und Rot auf unseren Händen. Ich lachte und weinte abwechslungsweise. Ich spürte wie es kein Entrinnen vor der Erkenntnis gab, dass hier für uns ein Wunder an Farbenfülle und Lebenslust inszeniert wurde, in das wir eingetaucht waren, ohne zu wissen wie uns geschah. Wir waren einfach mitgenommen worden in dieses grosse Gestalten. Es war ein einziges, riesiges Fest von Farben über den weissen Gipfeln der Engadiner Berge. Ein Fest fürs Leben.Und irgendwann war es vorbei. Wir waren äusserlich halb erfroren, aber innerlich so heiss vor Freude und Glück, dass die kalten Nasen, Finger und Zehen nichts ausmachten.

24.2.22

Ein «Segantini-Tag»

Ein «Segantini-Tag»

F: Was ist ein «Segantini-Tag»?

R: An einem «Segantini-Tag», erlebe ich das Engadin so, wie Segantini es gemalt hat. «Diese Berge. Diese Weite. Dieses Licht», sagen wir heute. Er konnte das malen. Und das ist spürbar, wenn man vor seinen Bildern steht.

F: Also muss man ins Segantini-Museum, um das zu erleben?

R: Segantini konnte die Engadiner Landschaft so malen, dass Herz und Seele erzittern. So begreife ich seine Bilder. Aber um dies zu begreifen, musste ich zuerst draussen erfahren, was die reale Landschaft mit mir macht.

F: Und wie sieht diese Erfahrung aus?

R: Sie besteht aus purer Begeisterung und purer Freude. Die Berge sind ja immer da. Die Weite auch, nur das Licht hat nicht immer die gleiche Qualität. Aber an «Segantini-Tagen» leuchtet es sozusagen aus dem Innern der Landschaft. Und das ist wunderbar.

F: Aber geschieht das nicht immer, wenn hier im Engadin die Sonne scheint?

R: Eigentlich schon, aber wir sind nicht immer bereit, dieses Leuchten so zu sehen. Im normalen Alltag schauen wir von aussen auf die Lärchen oder auf den grünen Inn, der von der Sonne beleuchtet wird. An «Segantini-Tagen» kehren wir diese Perspektive um und schauen von innen.

F: Das ist mir zu abstrakt. Wie soll ich mir das vorstellen?

R: Ganz konkret: Am letzten Freitag lag zum ersten Mal im Jahr Schnee hier. Der Himmel war wolkenlos. Die Lärchen noch gelb aber schneebedeckt. Eiskristalle von gefrorenem Nebel an allen Ästen – eine magische Stimmung. Ich bin am revitalisierten Inn bei Bever entlang spaziert und konnte mich kaum sattsehen. Und so erging es allen. Ich habe noch nie so viele Leute gesehen, die immer und immer wieder nach ein paar Schritten stehen blieben und fotografiert haben. Und alle strahlten und waren glücklich. Ich habe auch noch nie so viele Gespräche geführt. Man konnte gar nicht anders als die Begeisterung und Freude, die alle verspürten, allen andern mitzuteilen. Nicht nur die Lärchen leuchteten, auch die Spaziergängerinnen und Spaziergänger hatten dieses Leuchten auf ihren Gesichtern.

F: Das klingt beeindruckend.

R: Es war überwältigend. Diese Wucht von Schönheit erfasste alle und alles. Und plötzlich war man eben nicht mehr nur Beobachter oder Fotograf, sondern Teil dieser leuchtenden Landschaft, wie die Lärchen, wie der Beverin, der Inn oder der Kirchturm. Alles leuchtete und man leuchtete mit.

F: Also quasi ein Erleuchtungserlebnis (schmunzelt)?

R (lacht): Ich würde das jetzt auch nicht zu hoch hängen wollen. Sagen wir doch einfach: ein «Segantini-Tag». Ich glaube, dass Maler wie Segantini, aber auch Van Gogh, eben nicht nur die Kunst des Malens beherrschten, sondern auch die Gabe hatten, Landschaften von innen zu sehen. Sie verschmolzen sozusagen mit der Landschaft und genau das macht ihre Bilder so berührend. Wir Normalsterblichen besitzen diese Gabe auch, aber sie ist bei uns weniger ausgeprägt. Aber an solchen «Segantini-Tagen» poppt sie auf und das ist dann eine pure Freude.

#gemeindebever (instagram)

Julia Roberts – inexistent

Julia Roberts – inexistent

Sie stehen im Laden an der Kasse. Vor Ihnen legt eine Frau ihre Einkäufe aufs Band. Die Frau heisst Julia Roberts.

Sie kennen Julia Roberts nicht? Ok, dann ist diese Frau einfach eine Frau, die ihre Einkäufe bezahlen möchte.

Sie kennen Julia Roberts? Sie wissen, dass Julia Roberts eine der berühmtesten Schauspielerinnen Hollywoods ist? Ok, dann schauen Sie genauer hin. Ist sie es wirklich? Ja, sie ist es!

Im ersten Fall existiert Julia Roberts für Sie nicht. Sondern es existiert nur die Frau mit den Einkäufen.

Im andern Fall existiert Julia Roberts sehr wohl – für Sie. Ob etwas existiert oder nicht hängt also einzig und allein von Ihrem Wissen ab. Weil Sie Julia Roberts kennen, sehen Sie Julia Roberts. Wer Julia Roberts nicht kennt, kann sie nicht sehen. Genau so funktioniert Bewusstsein. Was nicht im Bewusstsein ist, existiert nicht. So ist es auch mit der Biodiversität.

Wenn Sie nichts von der Lorbeerweide – der schönsten Weide der Schweiz – wissen, dann werden Sie sie auch nicht sehen, selbst wenn dieser Weidenbaum neben dem Parkplatz steht. Wenn Sie den Bluthänfling  (eine Vogelart) nicht kennen, werden Sie ihn auch nicht sehen, selbst wenn er durch Ihren Garten fliegt. All die Tier- und Pflanzenarten, die Sie nicht kennen, existieren für Sie nicht, Sie nehmen sie gar nicht wahr. Sie sind nicht in Ihrem Bewusstsein. Geschätzte 75‘000 Arten gibt es in der Schweiz, 42’000 davon kennt man. Für Sie und für fast alle anderen Menschen in der Schweiz existieren aber 99,999% dieser Arten nicht, obwohl sie den gleichen Lebensraum mit Ihnen teilen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir uns so schwertun mit der Biodiversität.

Nun ist es aber nicht möglich, der ganzen Schweizer Bevölkerung einen Kurs in Artenkenntnis zu verpassen. Die einzige Lösung dieses Problems, die ich sehe, ist, dass wir den Menschen vertrauen, die etwas von Biodiversität verstehen. Genauso wie Sie ihrem Garagisten, ihrem Zahnarzt oder ihrem IT-Spezialisten vertrauen. Diese Biodiversitäts-Fachleute sind wichtig, vielleicht wichtiger als Zahnarzt, Garagist oder IT-Spezialist, weil diese Menschen fundamentale Zusammenhänge unserer Lebensgrundlage verstehen. Wir sollten sie ernster nehmen, als wir das heute tun. Einfach weil unsere Lebensgrundlage wichtiger ist als unser Gebiss, unser Auto oder unser Computer.

Only one

Only one

Ich habe heute Nacht von einem Meditations-Retreat geträumt, in dem ein alter amerikanischer Lehrer zu uns sagte: «When I give you a hand, you give me my hand. When I swim in the ocean. You swim in the ocean. When I live, you live. When I die, you die. There is no I. There is no you. Not two. Only one.» 

Das war so schön, dass ich im Traum weinen musste.

Genesis

Genesis

Wenn Samen und Eizelle miteinander verschmelzen, ist diese Vereinigung das Allererste, das im Leben passiert. Unsere grosse Sehnsucht nach Vereinigung und Einheitserfahrungen rührt unter anderem daher. Nach der Verschmelzung beginnt das neue, individuelle Leben sich zu entwickeln. Die Grundlage dieser Entwicklung ist Vertrauen. Vertrauen der Mutter, das alles in Ordnung ist. Vertrauen des Kindes, das es im Bauch der Mutter sicher und geschützt ist. Aber dieses Vertrauen ist nicht immer vorhanden. In meinem Fall war das Vertrauen gestört; für meine Mutter kam ich zu früh. Sie hatte andere Pläne mit ihrem Leben. Das Kind in ihr durchkreuzte diese Pläne. Deshalb lehnte sie es ab. Ich bekam das zu spüren. 

Psychologen sagen, dass man sich an die ersten zwei Lebensjahre kaum erinnert und an vorgeburtliche Erfahrungen noch viel weniger. Das ist eine Lehrmeinung. Es gibt jedoch auch Studien, die nahelegen, dass man sich zum Beispiel an Melodien erinnert, die während der Schwangerschaft oft gespielt wurden. Und neuste Forschungen zeigen, dass es so etwas wie ein zelluläres Gedächtnis gibt. Wie dem auch sei: Wenn ich meditiere und dieser Zeit im Bauch und nach der Geburt nachspüre, erhalte ich ziemlich eindeutige Bilder und Erinnerungen. 

Einer dieser Eindrücke aus der Meditation ist, dass ich schon einen Monat nach der Vereinigung spüre, wie meine Mutter Panik bekommt, als sie ihre Schwangerschaft realisiert. Ich spüre, wie ich gegen diese Panik Widerstand leisten muss; ich spüre das auf zellulärer Ebene. Diese Panik hält dann rund sieben Monate an und wird mit dem wachsenden Bauch immer schlimmer. Dann komme ich zur Welt und die Panik wächst nochmals. Denn jetzt hängt ihr Bauch und ist wabbelig, die Vagina erweitert und schlaff, alles schrecklich. Und bei meiner Mutter mit der Angst verbunden, nicht mehr attraktiv zu sein. Zudem will dieses kleine Kind nun auch noch die schönen Brüste attackieren. Panik in ganz grossem Ausmass!

Auf der einen Seite bekomme ich als Baby also zu spüren, das ich nicht unbedingt gewollt bin, das ich irgendwie falsch bin. Zugeben kann meine Mutter das jedoch nicht. Also muss sie diese Frustration, diese Durchkreuzung ihres Lebensplans kompensieren. Sie tut das, wie viele Mütter das tun: Indem sie mich herumreicht und beteuert, wie wunderbar dieses Kind ist. Es gibt ein Bild aus dieser Zeit, auf dem meine Mutter wie ein Fotomodell (das sie immer werden wollte) im Wochenbett posiert und ich irgendwie verloren daneben liege. Ich werde also herumgereicht. Als kleines Kind will man aber nicht herumgereicht und bewundert werden. Und als Baby begreife ich auch nicht, was das soll: warum ich so wunderbar sein soll, wenn man mich herumzeigt, ich kurz darauf aber wieder Ablehnung spüre, sobald ich zurückgereicht werde. Das ist eine äusserst verwirrende Doppelbotschaft.

Eigentlich will ich mich als Baby nur in den armen meiner Mutter entspannen können, mich gehen lassen können, vertrauen können. Stattdessen spüre ich in diesen Armen eine gewisse Ablehnung. Stattdessen reicht sie mich herum und sagt wie grossartig ich bin. Also lerne ich mit der Zeit folgendes: Ich muss meiner Mutter zeigen, wie grossartig ich bin, um von ihr liebevoll in die Arme genommen zu werden und Vertrauen zu bekommen. Wenn alle finden, ich sei grossartig, und alle sagen, ich sei wundervoll, wird das auch meine Mutter so sehen. So funktioniert das natürlich nie, weil meine Mutter dieses Vertrauen selbst auch nicht hat und deshalb mir auch nicht geben kann. Aber so entsteht in mir eine unsinnige Lösungsstrategie für ein Grundproblem, die ich über Jahrzehnte hinweg beibehalte. Das Motto dazu lautet: «Ich leiste, dafür bekomme ich Vertrauen/Liebe geschenkt.» Ich suche also über Leistung und im Aussen dieses Vertrauen zuerst von meiner Mutter, dann von meinen Liebsten zu bekommen, was schlicht und ergreifend der falsche Weg ist. Ein Tauschhandel, der nicht funktioniert. Ein Schlüssel, der nicht passt. Aber da ich keinen anderen habe, versuche ich immer wieder diesen nicht passenden Schlüssel ins Schloss zu stecken.

Diese Suche nach dem (Ur)-Vertrauen begleitet mich seit Geburt. Ich suche permanent und kann mich deshalb fast nie ganz entspannen. Das hat auch körperliche Auswirkungen, zum Beispiel Schlaflosigkeit. Auch heute noch, mit 60 Jahren habe ich das Problem nicht gelöst. Es wird sich auch nicht von einem auf den anderen Tag lösen lassen, dazu ist es zu alt. Wo die Lösung liegt, weiss ich zwar schon eine ganze Weile. Aber Wissen hilft hier nicht wirklich weiter. Doch seit einigen Monaten mache ich dazu auch eine körperliche Erfahrung, vor allem durch Meditation. 

In der Meditation kann ich meine Mutter in einem grösseren Ganzen sehen. Ich kann erkennen, dass meine Mutter keine Schuld hat. Ich kann sehen, dass sie damals, als sie mit mir schwanger war, einfach so reagierte, wie eine junge Frau reagiert; vollkommen natürlich, vollkommen verständlich. Und dass diese Reaktion einfach eine Manifestation ihres Egos war, nicht mehr und nicht weniger. Sie war nicht gegen mich persönlich gerichtet, sondern einfach von ihrem Ego getrieben. Diese ablehnende Reaktion hat auch etwas Zufälliges. Wäre ich vielleicht ein oder zwei Jahre später gekommen, wäre sie anders ausgefallen.

Der springende Punkt ist jedoch ein anderer: Ich kann in der Meditation und inzwischen auch im Alltag klar erkennen, dass das Leben selbst mich so wollte. Genau dann. Genau dort. Und ich kann klar erkennen und erfahren, dass ich nur weiterkomme, wenn ich in das Leben selbst vertraue. Nicht in meine Mutter, nicht in meine Liebsten, nur in das Leben selbst.

Ich verdanke mein Leben dem Leben selbst, der Schöpfung selbst, der Genesis. Die Schöpfung wollte, dass ich hier bin. Meine Mutter wollte etwas anderes. Mein Vater hatte anfangs gar keine Vorstellung, was er wollte oder ob er überhaupt etwas von mir wollte. Aber das Leben wollte mich hier auf die Welt bringen, am 14.11.1958. Und in das Leben kann man/frau vertrauen. Es schöpft seit Milliarden von Jahren. Und was dabei herausgekommen ist, ist wunderbar, paradiesisch.

Der Weg bis zu diesem Punkt hier und jetzt war lang und oft schmerzhaft. Ich hätte mir das anders gewünscht und wünsche es allen anders.  Aber wenn ich in meinen letzten zwanzig Lebensjahren lerne und erfahre, wie dieses Vertrauen ins Leben selber wächst, dann finde ich das spannend – oder eher ent-spannend, auf jeden Fall wichtig und erfüllend. Und vielleicht ist sogar genau das Sinn und Zweck meines Hierseins jetzt: Dieses Vertrauen ins Leben selbst mehr und mehr zu erschliessen und auch davon zu erzählen.

Die Foto-Ausstellung «Genesis» von Sebastiao Salgado ist eigentlich ein Wegweiser dorthin. (Noch bis am 23.6.2019 im Museum für Gestaltung Zürich)

(Meditation vom 13.2.19)

Franz von Assisi und der Hamster am Baikalsee

Franz von Assisi und der Hamster am Baikalsee

Ich stehe mitten in einem Birkenwald in Sibirien, nicht weit von Irkutsk am Baikalsee. Es ist Sommer. Der Birkenwald ist viel heller als unsere mitteleuropäischen Wälder, sonnig bis zu den Füssen. Ich bin allein. Ich war noch nie hier.

Meine Kollegen, mit denen ich diese Russlandreise mache, sind alle in Irkutsk geblieben und hatten keine Lust auf einen Spaziergang. Aus Irkutsk hinaus führte eine unbefestigte Strasse zu ein paar Holzhäuschen, bunt bemalt, hellblau, hellgrün, gelb, putzig, ob bewohnt oder nicht, ist schwierig zu sagen. Niemand zu sehen. Keine Wäsche im Wind. Hinter den Häuschen beginnt der Wald. Ein Trampelpfad führt hinein. Er verliert sich nach wenigen hundert Metern. Immerhin fällt die Orientierung leicht: Ich habe Sonne und den ältesten und tiefsten See der Welt im Rücken. Ich gehe weiter. Hier ist einfach niemand und ob hier jemals oder wann zum letzten Mal einer war, ich weiss es nicht. Kein gefällter Baum, kein Stumpf, keine Spuren menschlichen Tuns.

Die Sonne blinzelt freundlich. Es ist nicht heiss, aber angenehm warm. Ich beginne zu hören – Vogelstimmen, Windstimmen, Baum- und Blätterstimmen. Ich beginne zu riechen, würziger Duft von Birkenrinde, der markige Geruch eines grösseren Tieres, eines Fuchses vielleicht, was weiss ich schon von den Tieren hier? Dann höre ich ein Rascheln von herumgeschobenen Blättern. Ich bleibe stehen und versuche herauszufinden, woher es kommt. Es ist ganz nah, nur wenige Meter von mir entfernt. Jetzt sehe ich, wie sich ein paar Blätter bewegen und wie die Blüten des Heidekrauts erzittern. Auf dem Waldboden krabbelt mir etwas entgegen. Ist es eine Schlange, eine Maus? Ich bewege mich nicht mehr. Jetzt sehe ich ihn, noch zwei Meter von mir entfernt. Es ist keine Maus und auch keine Ratte, sondern ein Hamster.

Aus Büchern weiss ich wie ein Feldhamster aussieht. So einer kommt jetzt auf mich zu und tut so, als ob ich ein Baum wäre oder sonst was, das hierhergehört. Er schnüffelt vor sich her und scheint meinen Geruch zu mögen. Jedenfalls schnüffelt er sich direkt bis an meine Füsse. Er riecht an meinen Schuhen! Er stupst mit seiner Nase gegen meine Zehen. Er hat keine Angst. Er spaziert um mich herum und ich schaue ihm dabei zu, bleibe ganz ruhig stehen, als sei ich hier verwurzelt und fühle mich plötzlich auch so. Als ob ich schon immer hierhergehört hätte. Als ob ich ganz selbstverständlich Teil dieses Birkenwaldes wäre. Und in diesem Moment bin ich das auch. Da zu meinen Füssen wuselt ein lebendiges, wildes Tier, das neugierig auf mich ist, keine Furcht zeigt, mich hier annimmt, so wie ich bin. Und ich stehe da in Harmonie mit mir und der Natur um mich herum. „So muss das alles wohl einmal gedacht gewesen sein“, geht es mir durch den Kopf. Mensch und Tier friedlich und ohne Furcht zusammen. Franz von Assisi kommt mir in den Sinn. Ich habe viel über ihn gelesen. Er konnte mit den Tieren sprechen. Plötzlich scheint mir das gar nicht so weit hergeholt zu sein.

Nach einigen wenigen Minuten geht der Hamster seines Weges. Ohne zu rennen oder zu fliehen folgt er seiner Nase und verschwindet. Ich bleibe noch ein bisschen stehen, geniesse diesen Frieden und diese Ruhe in mir und um mich herum. Dann gehe auch ich.

(Irkutsk, 1989)

Nightwalk im dunklen Wald

Nightwalk im dunklen Wald


Es ist 01.30 Uhr. Ich bin zum ersten Mal zu dieser Stunde allein im Wald. Die Luft hängt voller Flieder, schwer und süss. Mir ist etwas unheimlich. Ich trete in den Wald ein. Der Weg ist gut sichtbar. Es ist weniger dunkel als ich mir vorgestellt habe. Ich höre vor allem meine Schritte und meinen Atem. Die Augen gehen gegen den Himmel, wie immer in der Nacht.

Der dunkle Wald umfängt mich mit einer ungewöhnlichen Wärme. Er ruht viel mehr als ich. Er wird auch ruhen, wenn ich gegangen bin. Er hat mehr Zeit. Ich bekomme eine Ahnung davon, wie es war, als ich noch ungeboren im Bauch meiner Mutter war: warm und dunkel.

Hierin unterscheidet sich das Erlebnis deutlich von Gipfelerlebnissen in den Bergen: die sind rein und klar und erhaben; etwas für den Geist und für den Willen. Der Wald hingegen ist etwas für den Bauch. Hier im Dunkeln steigen Gefühle auf von unten, aus der Tiefe.

Es wird dunkler. Das Blätterdach über mir schliesst sich. Noch ein paar Schritte und ich sehe kaum mehr die Hand vor meinen Augen. Wie in einem Kuhmagen, denke ich. Ich tappe jetzt vorwärts. Die Unsicherheit wächst, doch nach einer kurzen Weile wird sie wieder kleiner. Wunderbar. Meine Füsse beginnen zu sehen. Meine Schritte werden sicherer. Stockdunkel ist es immer noch.

Ich bin jetzt in der Tiefe angekommen. Weitergehen. Ein seltsames Gefühl kommt hoch: Wo höre ich auf und wo beginnt der Wald? Da ich meinen Körper nicht mehr sehe, lösen sich diese Grenzen zwischen Wald und mir auf. Ich bin jetzt im Wald angekommen. Ich habe keinerlei Angst mehr. Grosses Vertrauen breitet sich aus. Mir kann nichts passieren, weder hier im Wald noch sonst wo. Alles ist gut. 

Dann tauchen zwischen Blättern und Stämmen fern wieder erste Lichter der Stadt auf. Die Ruhe zieht sich in mein Inneres zurück. Ich und der Wald sind wieder zwei. Aber ich weiss jetzt: Er wird immer da sein. Ich muss nur hineingehen.

(geschrieben 3.5.2005 nach meinem ersten Nightwalk)

Wir haben aus diesem ersten nächtlichen Spaziergang im Wald ein Projekt gemacht und nächtliche Waldspaziergänge für ein grösseres Publikum angeboten. Hier sind einige Reaktionen von Teilnehmenden:

*** «Ich laufe durch den dunklen Wald, ein Ast knackt, ein Kauz ruft, ein Frosch quakt, die Steinchen knirschen unter meinen Sohlen. Ich spüre eine Kraft, die aus dem Boden kommt, aus dem Wald, aus mir selber. Wunderschön!»

** Allein im Wald, einsam, alles dunkel um mich. Was bin ich schon, inmitten dieses grossen Etwas, das mich umgibt? Klein, unscheinbar, unwichtig. Seltsam, dieses Gefühl von Ohnmacht, obwohl doch alles so friedlich ist um mich herum…Wohin führt mein Weg? – Stille. Warten auf Antworten…Könnten doch die Mächtigen dieser Welt dieses Erlebnis mit mir teilen!! Demut fühlen vor diesem Ewigen. Zeit? Ich kann sie nicht mehr abschätzen, sie ist so unwichtig. Anderes zählt, das überdauert. Stille.

+ Zaghaft die ersten Schritte. Die Ohren eilen voraus. Doch das Knirschen unter den Schuhen bindet sie zurück – Seid still, seid still. Sie gehorchen nicht. Das Knirschen führt mich zurück zu mir, hallt um mich, wickelt mich ein – Rhythmus, Rhythmus… Rhythmus in mir öffnet die Tore für das Spüren des Waldes. Samtige Zartheit der luftigen kühlen Berührung auf den Wangen. Fühlt sich frisch und ermutigend an. Unheimlich das dunkle Etwas an meiner linken Seite. Weit und glänzend, zieht mich magisch an, bis ich “Schlagseite” in mir spüre und über die nächste Wurzel “stürchle”. Könnte es nicht endlich enden! Ungeduld, nervöses Kribbeln, wankende Schritte. Da, von rechts schlägt plötzlich ein Ast auf mich ein, oder war es nur Einbildung?! Das Ducken jedoch echt! Endlich der Senkrechte Leuchtstab – Hallo. Langsam und stetig fällt der Weg ab – Plötzlich aus der Bewegung heraus ein Hüpfen und noch eines. Kindlicher Übermut – fühle mich sicher – getragen – geborgen – möchte lachen und glucksen. Dunklere Stellen – wieder vorsichtigere Schritte – weicher Boden. Der Mond – ah – staunen – aufsaugen – Ruhe draussen und drinnen in mir  – keine Worte mehr. Wahrer Genuss. 

Bad im Meer

Bad im Meer

Ich gehe immer unter. Wenn ich nicht strample und rudere, versinke ich im Wasser. So ist das seit ich lebe. Als Kind war das traumatisch. Ich habe mich auf der Toilette versteckt, zusammen mit einem Schulfreund, als die anderen Schwimmunterricht hatten. Und als wir entdeckt wurden, warf uns der Schwimmlehrer in hohem Bogen in den See. Davon habe ich mich jahrelang nicht erholt. Einigermassen Schwimmen lernte ich dann erst, als meine grosse Liebe mit mir eine kleine Bucht auf der Mittelmeerinsel Elba durchschwimmen wollte. Dass ich das nicht kann, konnte ich nicht zugeben in dieser frühen Verliebtheitsphase. Also bin ich hinter ihr hergeschwommen. Mit einem kleinen, aufblasbaren Ball von Nivea als Notnagel in der einen Hand. Als es unter mir so richtig tief blau wurde, musste ich meine Panik niederkämpfen, indem ich einfach stur auf die schönen Beine meiner Geliebten vor mir starrte. Und als wir dann endlich am anderen Ufer ankamen, konnte ich kaum aus dem Wasser steigen, so stark schlotterten meine Knie. Aber ab dann war der Bann gebrochen. Das Trauma überwunden.

Und kürzlich, als wir wieder einmal in Camogli an der ligurischen Küste ein paar Tage Ferien machten, stieg ich ins Wasser ohne zu Zögern oder zu Zaudern, legt mich auf die Wellen, schwamm und schwebte und hatte zum ersten Mal das sichere Gefühl, dass ich gar nicht untergehen könne. Das Wasser trug mich. Kein Strampeln mehr nötig. Ich konnte ruhige, langsame Schwimmzüge machen. Mein Atem ging regelmässig, leicht und tief. Und ich konnte mich sogar unbeweglich auf den Rücken legen und es geniessen vom Wasser getragen zu werden. So fühlt sich das also an! Ein tiefes Vertrauen in mich selbst und ins Meer stieg in mir hoch. Ich lag da auf dem Rücken in den Wellen, blinzelte zur Sonne hoch und konnte mich einfach treiben lassen.

Zuerst Liebe, dann Vertrauen und du gehst nicht mehr unter!  

(Elba, 1998 und Camogli, Liguria, Italien, Frühling 2016)