
Es ist 01.30 Uhr. Ich bin zum ersten Mal zu dieser Stunde allein im Wald. Die Luft hängt voller Flieder, schwer und süss. Mir ist etwas unheimlich. Ich trete in den Wald ein. Der Weg ist gut sichtbar. Es ist weniger dunkel als ich mir vorgestellt habe. Ich höre vor allem meine Schritte und meinen Atem. Die Augen gehen gegen den Himmel, wie immer in der Nacht.
Der dunkle Wald umfängt mich mit einer ungewöhnlichen Wärme. Er ruht viel mehr als ich. Er wird auch ruhen, wenn ich gegangen bin. Er hat mehr Zeit. Ich bekomme eine Ahnung davon, wie es war, als ich noch ungeboren im Bauch meiner Mutter war: warm und dunkel.
Hierin unterscheidet sich das Erlebnis deutlich von Gipfelerlebnissen in den Bergen: die sind rein und klar und erhaben; etwas für den Geist und für den Willen. Der Wald hingegen ist etwas für den Bauch. Hier im Dunkeln steigen Gefühle auf von unten, aus der Tiefe.
Es wird dunkler. Das Blätterdach über mir schliesst sich. Noch ein paar Schritte und ich sehe kaum mehr die Hand vor meinen Augen. Wie in einem Kuhmagen, denke ich. Ich tappe jetzt vorwärts. Die Unsicherheit wächst, doch nach einer kurzen Weile wird sie wieder kleiner. Wunderbar. Meine Füsse beginnen zu sehen. Meine Schritte werden sicherer. Stockdunkel ist es immer noch.
Ich bin jetzt in der Tiefe angekommen. Weitergehen. Ein seltsames Gefühl kommt hoch: Wo höre ich auf und wo beginnt der Wald? Da ich meinen Körper nicht mehr sehe, lösen sich diese Grenzen zwischen Wald und mir auf. Ich bin jetzt im Wald angekommen. Ich habe keinerlei Angst mehr. Grosses Vertrauen breitet sich aus. Mir kann nichts passieren, weder hier im Wald noch sonst wo. Alles ist gut.
Dann tauchen zwischen Blättern und Stämmen fern wieder erste Lichter der Stadt auf. Die Ruhe zieht sich in mein Inneres zurück. Ich und der Wald sind wieder zwei. Aber ich weiss jetzt: Er wird immer da sein. Ich muss nur hineingehen.
(geschrieben 3.5.2005 nach meinem ersten Nightwalk)
Wir haben aus diesem ersten nächtlichen Spaziergang im Wald ein Projekt gemacht und nächtliche Waldspaziergänge für ein grösseres Publikum angeboten. Hier sind einige Reaktionen von Teilnehmenden:
*** «Ich laufe durch den dunklen Wald, ein Ast knackt, ein Kauz ruft, ein Frosch quakt, die Steinchen knirschen unter meinen Sohlen. Ich spüre eine Kraft, die aus dem Boden kommt, aus dem Wald, aus mir selber. Wunderschön!»
** Allein im Wald, einsam, alles dunkel um mich. Was bin ich schon, inmitten dieses grossen Etwas, das mich umgibt? Klein, unscheinbar, unwichtig. Seltsam, dieses Gefühl von Ohnmacht, obwohl doch alles so friedlich ist um mich herum…Wohin führt mein Weg? – Stille. Warten auf Antworten…Könnten doch die Mächtigen dieser Welt dieses Erlebnis mit mir teilen!! Demut fühlen vor diesem Ewigen. Zeit? Ich kann sie nicht mehr abschätzen, sie ist so unwichtig. Anderes zählt, das überdauert. Stille.
+ Zaghaft die ersten Schritte. Die Ohren eilen voraus. Doch das Knirschen unter den Schuhen bindet sie zurück – Seid still, seid still. Sie gehorchen nicht. Das Knirschen führt mich zurück zu mir, hallt um mich, wickelt mich ein – Rhythmus, Rhythmus… Rhythmus in mir öffnet die Tore für das Spüren des Waldes. Samtige Zartheit der luftigen kühlen Berührung auf den Wangen. Fühlt sich frisch und ermutigend an. Unheimlich das dunkle Etwas an meiner linken Seite. Weit und glänzend, zieht mich magisch an, bis ich “Schlagseite” in mir spüre und über die nächste Wurzel “stürchle”. Könnte es nicht endlich enden! Ungeduld, nervöses Kribbeln, wankende Schritte. Da, von rechts schlägt plötzlich ein Ast auf mich ein, oder war es nur Einbildung?! Das Ducken jedoch echt! Endlich der Senkrechte Leuchtstab – Hallo. Langsam und stetig fällt der Weg ab – Plötzlich aus der Bewegung heraus ein Hüpfen und noch eines. Kindlicher Übermut – fühle mich sicher – getragen – geborgen – möchte lachen und glucksen. Dunklere Stellen – wieder vorsichtigere Schritte – weicher Boden. Der Mond – ah – staunen – aufsaugen – Ruhe draussen und drinnen in mir – keine Worte mehr. Wahrer Genuss.
Schöner Beitrag! Für mich wäre so ein Wald-Nacht-Spaziergang eher nichts; ich fühle mich verloren wenn ich vor lauter Dunkelheit nichts sehen kann und dann die ganzen Nachtgeräusche…!! Ein bisschen gruselig ist das schon, wenn man es nicht gewohnt ist … Aber ich kann verstehen, dass es Menschen gibt, die sich dafür begeistern. Aber ich muss es trotzdem nicht machen, nur weil es anderen gefällt. Jedem das Seine!
LG Sella
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