Integral Secrets

Integrales Entwicklungsmodell –
„und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“

Ende dreissig kam bei mir einerseits die Jahrtausendwende in Sicht andererseits die Wand, auf die ich zuraste. Meine Beziehung war katastrophal und mit jeder Paartherapiesitzung wurden die Verwerfungen offensichtlicher. Meine zwei kleinen Söhne überforderten mich emotional, rational und relational. Die Arbeit frass mich auf; ich fühlte mich wie einer dieser chinesischen Artisten, die gleichzeitig 25 Teller auf dünnen Stäben im Gleichgewicht und am Kreisen zu halten versuchen. Ich dachte an Suizid. Mein bester Freund befand sich in derselben Lage, ebenso mein zweitbester.

Aber ich fragte mich auch allen Ernstes, ob die Welt mir noch mehr zu bieten hatte? Ich schaute mich um, sah überall Chaos, unlösbare Probleme, grosse Verwirrung und fragte mich, ob es das jetzt bereits gewesen ist? Ob da noch was kommt? Oder ob alles einfach so weiter geht bis zum bitteren Ende?

An diesem Punkt meines Lebens legte mir ein guter, langjähriger Kunde und Freund ein Buch in die Hand. Es hiess: «Eine kurze Geschichte des Kosmos». Es war kompliziert, aber weil ich eine ähnliche Vorbildung wie der Autor besass, konnte ich verstehen, was der Autor sagen wollte. Je mehr ich darin las, umso mehr Teile meines Chaos‘ fielen wie Puzzlestücke an ihren richtigen Ort. „Es fällt mir wie Schuppen von den Augen“, sagte ich damals häufig – eine Wunderheilung wie die des blinden Saulus durch Jesus fand statt. Der Buchautor hiess Ken Wilber. Er war ein amerikanischer Bewusstseinsforscher und hatte ein «integrales Modell» der Welt und des Kosmos entwickelt.

Die simple Grunderkenntnis dieses Modells ist, um es mit Hermann Hesse zu sagen: dass wir heiter Raum um Raum durchschreiten sollen. Die Welt eines Neugeborenen sieht anders aus als die Welt eines Greises, und zwischen diesen beiden Welten liegen eine ganze Reihe weiterer Welten, die wir im Laufe unseres Lebens kennenlernen. Das Kennenlernen neuer Welten geschieht nicht zufällig, sondern das Ganze hat eine Richtung. Das Neugeborene kann nicht in die Welt des Greises eindringen, sondern es muss zuerst eine lange Reihe von Erfahrungen machen, als Kleinkind, als Kind, als Jugendlicher, als junger Erwachsener usw. Diese Entwicklung unterliegt bestimmten Gesetzen. Sie ist nicht chaotisch, auch wenn sie manchmal so erscheint. Eine Welt eröffnet sich nach der andern. Man kann keine überspringen. Und jede neue Welt ist differenzierter, hat mehr Tiefe und einen breiteren Horizont als die vorherige.

Für mich Ende Dreissig ging damit ebenfalls eine neue Welt auf. Die Frage, ob da noch was kommt, wurde mit „ja“ beantwortet. Was kam war eine neue Partnerschaft, die alles veränderte und ohne die ich das Weiterleben nicht geschafft hätte. Was kam war aber auch der Blick nach innen. Ein neuer Fokus auf innere Entwicklung. Ich sah klar und deutlich (dachte ich damals), dass ich die Welt nach innen nehmen musste. Dass ich aufhören musste, draussen in der Welt nach Lösungen zu suchen.

Gleichzeitig nahm ich wahr, wie die Welten um mich herum sich ordneten. Das Chaos wurde überschaubar. Die unterschiedlichen Perspektiven der vielen Menschen um mich herum bekamen ihren Sinn und ihre Berechtigung im Ganzen. Ich realisierte, wie schwierig, ja fast unmöglich es ist, die Perspektive eines anderen Menschen zu ändern. Ich begann zu erkennen, wie die ganze Überzeugungsarbeit, die ich für eine bessere Welt leistete, an natürliche Grenzen stiess. Das war gut so. Für mich wirkte das sehr befreiend.

Ich habe hier weder die Musse noch den Raum, um das «integrale Modell» auszubreiten. Unter integrallife.com oder über Google findet man vieles dazu. Aber was ich hier erklären möchte, und was den Kern dieser Texte ausmacht, das sind die Grunderfahrungen, die jede und jeder von uns in diesen unterschiedlichen Welten zwischen Geburt und Tod macht. Ken Wilber sieht das alles sehr viel differenzierter. Er redet von Stufen, die jeweils ein eigenes Bild der Welt ausmachen. Für meinen Alltagsgebrauch habe ich diese Stufen auf sieben Grunderfahrungen reduziert, jeweils eine pro Stufe.

Für mich sind es die folgenden sieben Erfahrungen:

  • Vertrauen
  • Lust
  • Macht
  • Glück
  • Flow
  • Resonanz
  • Hingabe

Na ja, werden Sie jetzt denken, die habe ich auch gemacht, die sind mir bekannt, vielleicht mit Ausnahme von Resonanz und Hingabe. Aber was soll’s?

Für mich macht es einen grossen Unterschied, ob ich diese Erfahrungen einfach mache, irgendwann, irgendwie, irgendwo. Mal häufiger, mal weniger häufig. Einzelne davon dauernd, andere eher selten. Oder ob sich diese chaotische, verwirrende, sich rasend schnell entwickelnde Welt ordnet, auf Basis dieser sieben Erfahrungen. Denn für mich tut sie das.

Diese sieben Erfahrungen, die sich körperlich ganz anders anfühlen, die zu einer jeweils ganz speziellen Wahrnehmung der Welt gehören, die zu bestimmten Situationen und Verhältnissen passen, geben den Welten ihren Sinn. Diese Erfahrungen bilden die Essenzen des Lebens, das wir von der Geburt bis zum Tod, und darüber hinaus, führen. Und sie sind das Rückgrat der menschlichen Entwicklung vom Neanderthaler bis heute.

Glück zum Beispiel. Wir tun alle so, als ob wir ständig nach Glück streben würden. Stimmt das wirklich? Ich glaube: nein. Glück hat etwas mit Gemeinschaft zu tun. Es ist ein sehr traditioneller Wert. Glück empfindet man in der Familie. Glück und Freude erlebt man am langen Tisch bei einem Fest mit Freunden. Wenn man im Tiefschnee einen Hang hinunterschwingt, ist das nicht Glück, sondern Flow; das fühlt sich anders an und es sind auch andere neurophysiologische Stoffe aktiv als beim Familienfest. Und auch wenn man als Neugeborenes an der Mutterbrust saugt, dabei gestreichelt wird und Wärme spürt ist das nicht Glück, sondern Vertrauen. Auch das fühlt sich anders an; auch hier spielen andere Stoffe, die im Körper akiv sind, eine Rolle. So hat jede dieser sieben Grunderfahrungen ihr eigenes Erfahrungsfeld, ihre eigenen Bedingungen, ihre eigene Körperlichkeit, ihre spezifische Geschichte und Berechtigung.

Wenn ich diese Erfahrungen bewusst wahrnehme, kann ich auch bewusst diese Erfahrungsfelder bespielen. Wenn ich Glück brauche, organisiere ich ein Grillfest mit Familie und Freunden. Wenn ich Flow möchte, gehe ich dorthin, wo es Flow gibt, in den Tiefschnee oder auf den Tennisplatz. Wenn ich Hingabe erfahren möchte, wähle ich einen Ort, an dem Hingabe erfahrbar wird, usw. Die Welt ordnet sich so. Defizite lassen sich genauso erkennen wie Überfluss. Manchmal steckt man in einem Erfahrungsfeld fest, bis hin zur Sucht. Manchmal umschifft man ein Erfahrungsfeld, weil es traumatisch ist. All dies lässt sich bewusst machen, all dies wird offensichtlich, wenn man seine Erfahrungen nach diesen sieben Grunderfahrungen ordnet.

Deshalb habe ich auch «meine 100 besten Momente» in diese sieben Kapitel eingeteilt. Um sie zu ordnen, um entscheiden zu können, wo ich in den nächsten Jahren noch mehr Erfahrungen machen möchte, und wo es genug ist.

Vertrauen

Welches ist die allererste Erfahrung, die wir machen? Es ist nicht die, an die Sie jetzt denken. Und ich bin auch nicht selber darauf gekommen, sondern ein guter Freund von mir: Unsere allererste Erfahrung ist diejenige der Vereinigung von Mann und Frau, hat er gesagt. Der Moment, in dem sich der Samen mit der Eizelle zusammenfügt. Ok, das ist keine körperliche Erfahrung, sondern eine subtile. Aber ich finde, er hat recht. Wo zunächst einmal nichts (Materielles) ist, nur Raum, macht sich ein Samen auf den Weg und findet die Eizelle. Er sucht nicht, er findet. Und aus dieser Vereinigung, aus dem Nichts, entsteht die ganze Fülle, das neue Leben.

Daher kommt eine Ursehnsucht nach Verbundenheit und ein Urvertrauen, wenn diese Verbundenheit spürbar ist. Die Sehnsucht nach Vereinigung und das Urvertrauen, dass daraus Leben entsteht.

Und da danach die Entwicklung dieses Lebens beginnt, dieser hochkomplizierte, extrem wunderbare, noch immer geheimnisvolle Prozess der Embryonalentwicklung, braucht es dieses Urvertrauen in ganz grossem Mass. Denn ohne Urvertrauen wäre die Ordnung, die Neuorganisation eines neuen Lebens inmitten des Chaos nicht möglich. Dass die Arme nicht an den Ohren anwachsen und dass immer bis 5 gezählt werden kann an einer Hand, ist wirklich Vertrauenssache.

Mit Vertrauen geht es dann weiter – neun Monate im Leib der Mutter. Dort ist Wärme. Dort ist Geborgenheit. Dort ist Nahrung. Wachstum geschieht, ohne dass ich als Embryo etwas dazu tun muss. Und zum ersten Mal, noch völlig unbewusst, entsteht die jetzt nicht mehr nur subtile, sondern körperliche Erfahrung von Vertrauen. Dieses Gefühl dort drin prägt sich dem eben erst entstandenen Körper ein, als Gefühl des Vertrauens.

Wenn dieser Körper dann das Licht der Welt erblickt, will er diese Vertrauenserfahrung wieder und wieder spüren. Indem er warm gehalten wird, indem er überhaupt gehalten wird, indem er mit Nahrung versorgt und gestreichelt wird. Nähe, Wärme, Muttermilch. Diese drei Dinge sorgen dafür, dass sich das Vertrauen auch im Licht der Welt halten und festigen kann.

Deshalb ist Vertrauen die erste Grunderfahrung. Alles was danach kommt, baut auf diesem Vertrauen auf. Falls es aus irgendwelchen Gründen nicht oder nur begrenzt vorhanden ist, ist es sehr schwer wiederaufzubauen. Es ist das grösste Geschenk, das wir von Mutter und Vater erhalten. Mutter und Vater walten als Sprachrohr des Lebens selbst. Sie können sich dem aber auch verweigern. Dann wird man in endlosen Analysesitzungen diese Störung bearbeiten. Dabei wäre es fruchtbarer, anzuerkennen, dass zwar Vater und/oder Mutter sich verweigert haben, das aber nichts am Ruf des Lebens an sich ändert. Das Leben selbst hat uns zur Welt gebracht – Vater und Mutter waren nur Mittel zum Zweck.

Ken Wilber nennt diese erste Bewusstseinsstufe «archaisches Bewusstsein». Er beschreibt sie als «unendliche Weite, aber kaum Tiefe». Unter anderem ist damit gemeint, dass wir in dieser ersten Phase unseres Lebens offen sind für alles, insbesondere alles Subtile. Unsere Sinnesorgane funktionieren in diesen ersten Monaten unseres Lebens ja noch nicht wirklich, deshalb nehmen wir die Welt anders wahr, nämlich über Stimmungen. Diesen Stimmungen sind wir schutzlos ausgesetzt. Das einzige, an das wir uns in dieser Phase halten können ist – Vertrauen.

Lust

Irgendwann im ersten Lebensjahr erkenne ich, dass ich ein Ich bin. Und dass es ein Du gibt. Ich bin nicht meine Mutter. Diese Erkenntnis verändert alles. Zum ersten Mal im Leben erfahren wir Trennung. Eben gerade noch war alles eins. Und jetzt ist diese Einheit weg. Ich bin ich. Und du bist du.

Christlich interpretiert ist das die Vertreibung aus dem Paradies. Aber erst draussen, vor den Toren des Paradieses können wir erkennen, wie wunderbar das Paradies ist. Für alle drinnen ist das Paradies das Selbstverständlichste. Sie kennen nichts anderes. Nur für uns ist es ein Wunder, das wir jetzt erkennen. Und liegt nicht gerade darin der tiefste Sinn des Menschseins? Kein anderes Lebewesen kann das so wie wir das können.

Wir werden aus der Einheit katapultiert und gleichzeitig mit diesem Sprung öffnet sich für uns als Ich die weite Welt. Und was für eine wundervolle, überreiche Welt ist das!!! Wie nie zuvor und nie mehr danach, geht uns in dieser Zeit die Welt auf. Zum ersten Mal sehen wir. Bisher war alles unscharf und schemenhaft, aber jetzt ist das Auge voll entwickelt, kann scharf stellen, nimmt Farben präzise wahr, entdeckt den dreidimensionalen Raum.

Und so ergeht es uns auch mit dem Hören, Schmecken und Riechen. Monatelang hatten wir ausser der Muttermilch keinen anderen Geschmack auf der Zunge. Das ändert sich jetzt. Wir schmecken zum ersten Mal die Süsse des Lebens; zum ersten Mal das Salz des Lebens. Wir hören zum ersten Mal Töne, die wir noch nie gehört haben. Riechen zum ersten Mal Düfte, von denen wir nicht einmal ahnten, dass es sie gibt. Kurzum: Diese Lebensphase ist so sinnlich und somit auch so lustvoll, wie keine vorher und keine nachher. Es ist ein Sinnenrausch, eine kolossale Flut von Sinneseindrücken, die uns überschwemmt.

Unser Gedächtnis ist so konstruiert, dass wir uns an diesen Sinnestaumel kaum mehr erinnern. Wenn wir Glück haben, tauchen ab und zu Bruchstücke von Sinneserinnerungen auf – die erste Erdbeere oder das erste Mal riechen, wie frisch gemähtes Gras duftet. Trotzdem sind diese Erfahrungen tief eingraviert in unserem Bewusstsein. Und wenn immer wir in unserem späteren Leben Sinneslust empfinden, beziehen wir uns auf diese ersten Sinneserfahrungen, benutzen wir diese Nervenbahnen, die wir im Alter zwischen eins und drei Jahren angelegt haben.

Mit Sexualität haben wir in dieser Lebensphase noch nichts zu tun. Der Tastsinn, und unsere Haut als grösstes Sinnesorgan, ist zwar der erste Sinn, der sich ausbildet. Dies geschieht jedoch ohne Geschlechtlichkeit. Aber Sex ist sozusagen die 2. Staffel dieser frühkindlichen Sinneslüste. Plötzlich riechen, schmecken, sehen und hören wir wieder hundert Mal intensiver als normal; und unsere Haut prickelt wieder bei jedem Hauch, bei jeder zärtlichen Berührung.

Die erste Grunderfahrung ist also diejenige des Vertrauens, die zweite diejenige der Lust. Was kommt als Drittes?

Glück

„Alle streben nach Glück.“ Ich finde dieser Satz ist falsch. Glück ist eine ganz spezifische Erfahrung, die mit Gemeinschaft und Zusammensein zu tun hat. Bildlich gesprochen ist Glück ein grosses Fest am langen Tisch mit Familie und Freunden. Es wird gesungen und getanzt und gegessen. Der Wein fliesst reichlich, der Alltag ist vergessen. Man ist ausgelassen und feiert. Die Musik spielt. Alles stimmt.

Vertrauen zu empfinden ist ein anderes Gefühl. Lust zu erleben fühlt sich ebenfalls anders an, genauso wie Macht und Erfolg sich anders anfühlen als Glück. Und auch Resonanz und Hingabe sind andere Qualitäten. Deshalb ist es mitnichten so, dass wir alle ständig nach Glück streben. Und es ist mitnichten so, dass Erfolg glücklich macht oder dass Lust glücklich macht; Erfolg ist ein Flow-Erlebnis bei dem viel Adrenalin ausgeschüttet wird – das ist beim Glück anders. Hier spielen Hormone wie Dopamin und Serotonin eine Rolle.

Glück ist die Einheitserfahrung der traditionellen Gesellschaft. Dort wo die Familie im Mittelpunkt steht. Deshalb ist die Glückserfahrung, so wie ich sie begreife, eng mit der Erfahrung von Gemeinschaft verknüpft. Alleine kann ich nicht glücklich sein. (Ich höre schon die Kritiken…) Alleine kann ich meine Macht auskosten oder Lust empfinden oder ein Flow-Erlebnis haben. Aber Glück als Erfahrung geschieht meiner Ansicht nach im Zusammenhang mit anderen und in Bezug auf andere. Wer Glück sucht, sollte ein Fest feiern.

Ordnung schaffen, Pflichten erfüllen sind Vorstufen dieses Glücks. Ordnung ist das wichtigste Prinzip des traditionellen Bewusstseins. Zuerst wird Ordnung gemacht, erst dann sitzt man zu Tisch und feiert. Genau deshalb ist Stabilität in dieser Bewusstseinsstufe ein wichtiges Merkmal. Ordnung bringt Stabilität. Dort wo Ordnung herrscht, dort wo alles geregelt ist, dort wo ein stabiles Fundament besteht, dort kann man auch seine Familie gründen.

Flow

Moderne Gesellschaften streben nach Flow. Flow ist ein Adrenalin-Kick. Erfolg hat viel mit Flow zu tun. Erkenntnis im Sinn von «Heureka!»: ich habe etwas entdeckt, seht her!! Hat viel mit Flow zu tun. Sport ist die klassische Tätigkeit, bei der man vorhersehbar mit Flow rechnen kann. Hinter einem Flow-Erlebnis steckt meistens Leistung. Ohne Übung, ohne Training, ohne Fleiss gibt es keinen Flow. Man muss den Körper auf die massenweise Ausschüttung von Adrenalin vorbereiten. Er muss etwas damit anfangen können, muss diesen Adrenalinstoss in fliessende Bewegung umsetzen können – das kann auch geistige Bewegung sein. Grosse Denker haben viel gedacht, bevor sie ihre bahnbrechenden Erkenntnisse hatten. Das Rationale ist oft die Grundlage von Flow. Flow ist zielorientiert. Aus dem Flow heraus lässt sich etwas schaffen. Gestaltung hat deshalb auch viel mit Flow zu tun.

Im Gegensatz zur traditionellen Gesellschaft ist die moderne Gesellschaft eine gestaltende Gesellschaft, die permanent zu neuen Ufern aufbricht. Die auch suchtanfällig ist, weil Adrenalin-Kicks süchtig machen. In ihrer extremen Form ist die moderne Gesellschaft eine Getriebene, die keine innere Ruhe mehr findet und immer auf der Suche nach dem nächsten Kick ist, mehr, grösser, höher, schneller, weiter.

Flow-Erfahrungen sind hart erarbeitete Einheitserlebnisse auf Gebieten, in denen man richtig gut ist, weil man darin jahrelang geübt hat. Man hat investiert und kann jetzt den verdienten Lohn geniessen, indem man in den Flow kommt. Das bedeutet sich eins fühlen mit dem Tennisracket oder den Skiern und der Piste. Oder es kann heissen, das Publikum im Griff zu haben bei einer Rede, die man schon viele Male gehalten hat und die immer besser wurde mit der Zeit (TED-Talks). Oder es fühlt sich einfach richtig gut an, dieses Konzept zu schreiben, dieses Projekt zu entwickeln, weil man inzwischen alle Tricks und Kniffe kennt und jedem Fallstrick ausweicht und überzeugt ist, dass das was man hier und jetzt aufbauen will funktioniert. 

Flow ist das Einheitserlebnis von Machern oder Macherinnen. Wer nach dem Flow strebt hat lange Zeit alles unter Kontrolle, um es dann im entscheidenden Moment loslassen zu können. Der Flow entsteht im Moment des Loslassens und das geht nicht ohne vorher die Kontrolle zu halten. Deshalb hat diese Erfahrung auch etwas mit Anstrengung zu tun. Und wer sich zu lange anstrengt, ohne Loslassen zu können, landet in einem Burn-out.

Resonanz

Heilverfahren, die im neuen Jahrtausend erst so richtig eine Breitenwirkung entfalten, beruhen fast allesamt auf Resonanz. Egal ob es um Homöopathie, um Osteopathie, um Bio-Resonanz, Bachblüten, Kinesiologie, Shiatsu oder … geht – Resonanz ist das Wirkungsprinzip. Während im 20. Jahrhundert noch die handfeste Chirurgie und Chemotherapie das Feld beherrschten, sind es im 21. Jahrhundert subtilere Therapieformen.

Aber wie fühlt sich Resonanz als Erfahrung eigentlich an? Gerade weil es eine subtile Erfahrung ist, lässt sie sich nicht so einfach beschreiben. Ich kann in Resonanz gehen mit einem anderen Menschen, aber auch mit einer Landschaft (zum Beispiel in der Geomantie), mit einem Ding (zum Beispiel das Wabi Sabi-Prinzip) oder einem Ort (siehe auch #Ankommen).

In Resonanz mit einem anderen Menschen zu sein, fühlt sich zunächst einmal einfach nur gut an. Ich werde verstanden und ich verstehe und zwar auf eine sehr tiefe, grundlegende Art und Weise. Oft muss ich den anderen gar nicht gut kennen, aber sobald ich ihm offen begegne und sich ein Gespräch entwickelt, fühle ich dieses Übereinstimmen, dieses gemeinsame Schwingen, selbst wenn die Meinungen auseinandergehen. Da ist Offenheit vorhanden, mehr als genug Offenheit, die es ermöglicht den anderen wahrzunehmen so wie er ist, und ihn so sein zu lassen. Und gleichzeitig kann ich selber so sein, wie ich eben bin. Gleichzeitig muss keiner auf seiner Meinung oder seinem So-Sein beharren. Die Offenheit ist so weit und luftig, dass mein Innerstes vom andern berührt wird und sich nicht wehrt. Deshalb kann es sich auch verändern; es fühlt sich geschmeidig an, entwicklungsfähig und formbar, eben offen für die Welt, so wie sie ist.

Ich habe solche Resonanzerfahrungen regelmässig beim Montagmorgenkaffee in einer Bar am Fluss mit meinem Freund Ruedi. Und zwar so oft, dass es uns erstaunt, wenn es einmal nicht so klappt und die Resonanz ausbleibt. Ich mache diese Erfahrung aber auch zunehmend häufiger mit mir unbekannten Menschen, denen ich begegne und die sich mir öffnen, so wie ich mich ihnen öffne, vielleicht nur in dieser einen, einzigen Begegnung. Als Bewegung ausgedrückt ist es wie das Ausbreiten der Arme, um den anderen dann in die Arme zu schliessen und einen Moment innig an sich zu drücken, um ihn danach wieder frei zu lassen.

Resonanz erscheint plötzlich, wie aus dem Nichts. Man muss nicht auf sie hinarbeiten. Sie erklingt beim ersten Ton aus dem Mund des andern, oder eben nicht. Wenn der Ton stimmt, dann stimmt er auch bei der nächsten Begegnung und bei der übernächsten. Resonanz mit anderen Menschen ist also nicht etwas Situatives, sondern etwas Originäres, das damit zu tun hat, wie der andere diesen Ton spielt und damit, wie ich ihn höre und empfinde.

Menschen mit denen ich in Resonanz treten kann, haben alle eine bereits länger dauernde innere Entwicklung hinter sich. Sie können jung oder alt sein, aber sie haben sich mit sich selber und der Welt auseinandergesetzt, haben gelernt, ihr Ego zu beobachten, haben innere Erfahrungen gemacht und diese interpretiert. Sie würden alle dem Satz zustimmen: „Wir sind ebenso Teil des Kosmos, wie der Kosmos Teil von uns ist.“ Der Geiger Yehudi Menuhin hat das einmal gesagt. Viele Musiker teilen diese Erfahrung, viele Physiker ebenfalls. 

Interessant ist, dass durch Resonanz Einsichten entstehen, die mir ansonsten nicht zugänglich wären. So als ob es diese Schwingungen braucht, um ein erhöhtes Energieniveau zu erreichen, das die Erkenntnis erst möglich macht.

Hingabe

Die vorläufig letzte, mir zugängliche Einheitserfahrung nenne ich Hingabe. Nach Vertrauen, Lust, Macht, Glück, Flow und Resonanz ist es Variante 7 von dem, was wir als Menschen offenbar ein Leben lang suchen: das sich Eins fühlen. Bei der Hingabe ist der Horizont nochmals weiter geworden. Das Erlebnis hier ist umfassend, eigentlich so umfassend, dass es nicht mehr greifbar, ja unbegreiflich ist. Es geschieht einfach. Man kann es nicht planen. Es überrascht einem irgendwo, irgendwann.

In der Hingabe gibt es keine Rationalität mehr. Es ist nicht erklärbar, was dabei erfahren wird. Alle Konzepte sind in dieser Erfahrung nicht mehr gültig, sie sind irrelevant. Hingabe kann eine Erfahrung der Leere sein, in der man Fülle erfährt. Oder es kann eine Erfahrung unglaublicher Fülle sein, hinter der die Leere aufscheint wie eine grosse Sonne. In den mystischen Traditionen in West und Ost gibt es hunderte und tausende Beschreibungen solcher Erfahrungen, ohne dass solche Darstellungen einem viel weiterhelfen würden.

Ich bin überzeugt, dass jeder von uns schon solche Erfahrungen gemacht hat. Die entscheidende Frage ist dann, ob und wie er sie interpretiert. Es gibt viele Menschen, die haben schon Gespenster gesehen, oder sie sind auf einer Bergspitze gestanden und haben die Sonne aufgehen sehen und sich dabei eins mit dem Kosmos gefühlt. Nahtoderfahrungen gehören ebenso in dieses Feld, wie auch luzide Träume und vor allem der Tiefschlaf.

Eine passende Interpretation solcher Erlebnisse scheint mir, dass der Mensch immer, aber in solchen Momenten besonders, verbunden ist mit allem andern, also mit dem ganzen Kosmos. In unserer Tiefe sind wir keine isolierten Ichs, sondern wir sind und waren immer schon das Ganze. Unser Bewusstsein ist unbeschränkt und in solchen Momenten – zum Beispiel auf der Bergspitze beim Sonnenaufgang – wird das klar. Ebenso natürlich ist es, dass solche Momente vorbeigehen und wir wieder vom Berg heruntermüssen. Dort unten im Alltag ist es oft nicht hilfreich das Bewusstsein offen zu halten für seine kosmische Dimension, also blenden wir diesen Aspekt wieder aus. Das ist ganz in Ordnung so und erleichtert unser Alltagsleben. Aber mit zunehmender Übung im Feld der Hingabe kann dieser Aspekt eingeblendet werden, auch im Alltag, je nach Wunsch und Dienlichkeit.

Es gibt hierzu eine sehr schöne Geschichte:

Der Regenmacher von Kiautschau

Eine Geschichte, die C.G. Jung anlässlich seinem letzten Weihnachtsessen im Psychologischen Club mit 85 Jahren erzählte.

In einem chinesischen Dorf regnete es monatelang nicht mehr. Der Boden war aufgerissen und ausgedorrt. Die Wasservorräte gingen zu Ende. Mensch und Tier litten entsetzlichen Durst. Was tun? In ihrer Verzweiflung liessen die Bewohner nach einem Regenmacher rufen. Der kam und baute sich am Rande des Dorfes eine behelfsmässige Hütte und bat um etwas Brot und um etwas Wasser. Und vor allem bat er um Ruhe. Bald begannen die Dorfbewohner unruhig zu werden. Er tut ja nichts! Er hat sich eingeschlossen und lässt den Dingen ihren Lauf. Nur mit Mühe konnten die Ältesten des Dorfes die anderen davor zurückhalten, die Hütte am Rande des Dorfes zu stürmen. Da endlich, am vierten Tag, begann es zu regnen.

Die Menschen stellten den seltsamen Mann zur Rede. Wie in aller Welt ist das zu erklären? Du hast nichts getan! Überhaupt nichts. Du bliebst einfach in deiner Hütte mit Wasser und Brot – und doch begann es zu regnen, und auf einmal haben wir Wasser. Wie konnte das geschehen? „Ich habe dafür gesorgt, dass ich heil wurde“, antwortete der Regenmacher, „und als ich heil wurde, wurde die Natur heil, und als die Natur heil wurde, begann es zu regnen.“

Ich glaube, dass junge Menschen mehr Talent zur Hingabe haben, als meine Generation. Ich deute das als Zeichen der Zeit. Die Entwicklung geht weiter. Sie wird auch gefördert durch die heutige, weltweite Verfügbarkeit von allen Informationen durch das World Wide Web. Wer weiss, vielleicht gibt es bereits in wenigen Jahren eine weitere Kategorie von Einheitserfahrungen; das nächste Feld ist immer offen.

(aktualisiert am 17.3.2019)