Alles ist gut. Wirklich? Ist es das?

Alles ist gut. Wirklich? Ist es das?

Alles fliesst, hier wild, grün und kalt. Es ist minus 16 Grad und sie stehen knietief im Schnee am Ufer des Flusses. Die Sonne geht unter hinter den hohen Bergen, aber noch nicht ganz. Es bleiben ein paar Minuten und er nutzt sie. Eingepackt in seine grüne Winterjacke, bunter Schal um den Hals, kniet Näc am Flussufer und versucht die letzten Bilder dieses Tages zu schiessen. So wie er das schon tausend Mal gemacht hat. Er hat seine Stimme erhoben hinter Mikrofonen und Megaphonen, vor und hinter Kameras. Er ist an vorderster Front bei Demos mitgegangen, hat Kohlegruben besetzt. Und er hat eben auch Bilder gemacht, weil Näc eine Gabe hat, die nur wenigen eigen ist: er kann mit dem Herzen sehen. So jung er ist, so viel hat er bereits gekämpft. Gegen die Erderwärmung, für Gerechtigkeit und Fairness und gegen Ausgrenzung. 

Wenn er hier am Fluss in die letzten Sonnenstrahlen blinzelt und vollkommen versenkt ist in seine Arbeit, tut das seinem Herzen gut. Dieses Herz kennt auch die dunklen Seiten. Es hat das Elend in den Flüchtlingslagern auf Lesbos gesehen und der Verzweiflung direkt in die Augen geschaut. Es weiss, dass überall gelogen und betrogen wird. Es weiss, wie sich Misshandlung, Schmerzen und Verlassenheit anfühlen; was es heisst, ausgestossen zu sein, gemobbt zu werden. Und es weiss, wie dunkel es im Herzen werden kann, so einsam, so dumpf, dass nur noch Tränen helfen, um das Unabwendbare wegzuschwemmen. Dieses sein Herz hat gelernt, wie es sich anfühlt, wenn die Tränen ins Nichts fliessen. Und es hat eben auch erfahren, wie warm es werden kann, wenn diese Tränen eine andere Wange berühren.

Näc gehört zur neuen Generation von jungen Menschen, die auf ihren Schultern Gewichte tragen, die keiner allein tragen kann. Klimawandel. Das Aussterben von Arten. Flüchtlingsströme. Die Ungerechtigkeit des Welthandels. Diese junge Generation ist bestens ausgebildet. Sie sehen all die Probleme klar und deutlich und viele von ihnen werden davon überwältigt. Das Leben wirft ihnen so grosse Brocken vor die Füsse, dass es weh tut. Und dann melden sie sich zurecht lautstark bei ihren Elterngeneration und sagen: «Wenn ihr uns schon solche Brocken hinterlässt, dann gebt uns wenigstens die Kraft und die Mittel, damit wir sie bearbeiten können!»

Aber heute Abend am Fluss läuft noch etwas anderes. Näc ist nicht allein hier. Neben ihm steht ein alter, weisser Mann und blinzelt in dieselben letzten Sonnenstrahlen. Ja er ist alt und weiss, was heute bei vielen bereits als Schande gilt.  Wie viel er selbst zu dieser Welt voller Unrecht beigetragen hat, ist ihm nur allzu bewusst. Zwar hat er ein Leben lang nach dem Wahren und Guten gesucht und ist damals in den gleichen Kampf gezogen wie Näc heute. Aber auf diesem langen Lebensweg hat er sich auch mit den Mächtigen, den Reichen, den Betrügern und Steuerhinterziehern ins Bett gelegt. Er hat Leuten geschmeichelt, die er heute lieber nicht mehr kennen würde. Er hat damit recht viel Geld verdient und trotz all den sozialen und ökologischen Engagements, die er angestossen und unterstützt hat, hat er nie grundsätzlich in Frage gestellt, was viel grundsätzlicher hätte in Frage gestellt werden müssen.

Heute Abend stehen Näc und er am selben Fluss. Sie kennen einander. Sie sind Freunde geworden, über den Altersunterschied von vier Jahrzehnten hinweg. Sie vertrauen einander. Sie lernen voneinander. Braunes Haar und weisses Haar. Lockenkopf und Glatzkopf. Bunte Socken und schwarze Socken. Viel Lebenserfahrung und noch mehr Lebenserfahrung.

Es hat schon einige solch gemeinsamer Tage am Fluss gegeben in den vergangenen Monaten. Und da vor allem Näc hier mit seiner Kamera aktiv war, konnte der ältere sich jeweils entspannen. Ein ungewöhnlicher Zustand für ihn – er war ein Leben lang immer in der Verantwortung gestanden, sowohl als Vater als auch als Unternehmer. Hatte sich immer eingemischt, hatte immer versucht den Lauf der Dinge zum Guten und Besseren zu wenden. Er war zwar kein Kontrollfreak, aber die Kontrolle abzugeben, wäre ihm auch nie in den Sinn gekommen. Das hatte sich hier am Fluss in den letzten Monaten geändert. Der Junge machte hier die Arbeit, viel besser als er es je gekonnt hätte. Näc schoss Bilder und machte kurze Filmchen. Beides konnte er meisterlich. Und er schaute einfach zu. Zwar beklagte sich sein junger Freund immer wieder über die fehlenden Drehbücher. Aber der Alte wusste, dass gerade dieses Spontane, Unmittelbare den Wert dieser Bilder und Videos ausmachte und deshalb war er ein bisschen stolz darauf, dass er beharrlich nichts vorgab, sondern Näc’s Intuition vertraute und ihn einfach einfangen liess, was auftauchte entlang des Flusses. So auch an diesem Abend, an dem er sich einmal mehr entspannt und frei fühlte und einfach schauen konnte, ohne irgendetwas tun zu müssen. Und dann passiert es:

Er steht mit beiden Füssen fest und sicher in einem Schneefeld neben dem Fluss. Dann bemerkt er, wie alles ins Fliessen kommt. Das Wasser fliesst, von hier bis in die Donau und dann ins Schwarze Meer – alles ist miteinander verbunden, denkt er. Und plötzlich kommen auch die Strahlen der Sonne ins Fliessen, sind nicht mehr wie scharfe, gerade Strahlen, sondern wie Wellen, die sich über diese Landschaft und ihn ergiessen. Auch der Himmel beginnt aus dem Oben ins Unten zu fliessen, die Luft strömt in den Fluss. Und auch der Schnee ist plötzlich nicht mehr so fest, sondern wird weich und wellig und schliesst sich dem Strom an, der an ihm vorbeizieht. 

Als nächstes löst sich sein Körper auf und kommt ebenfalls ins Fliessen. Die Grenzen zwischen Körper und Schneewelt werden durchlässig. Was noch vor einem Augenblick er selbst war verschwindet und fliesst mit. Alles ist nur noch Strom. Alles fliesst jetzt.

Und plötzlich wird ihm glasklar, dass alles zusammenhängt. Und plötzlich ist klar, wie alles zusammenhängt, wie das alles miteinander verbunden ist. Er staunt:  Das Eine, das alles verbindet ist Liebe. Das spürt er klar und deutlich. Liebe, die in unendlicher Kraft alles verbindet und es weiterfliessen lässt. Diese Liebe steckt in jeder Welle, in jedem Strahl, in jeder Zelle. Für den alten, weissen Mann ist das in diesem Moment vollkommen einleuchtend und unzweifelhaft. Es ist Liebe, die alles lenkt und es zugleich in vollkommener Freiheit lässt.

Diese Liebe hat eine so grosse Wucht, dass es ihm den Atem verschlägt. Er wankt einen Moment. Dass er wankt, spürt er nicht. Er spürt sich überhaupt nicht mehr. Er ist als Ego im Fliessen verschwunden. Aber es ist völlig unzweifelhaft, dass diese Liebe unendlich mächtig und kraftvoll ist. Stärker als tausend Sonnen. Millionen Mal grösser als alles was der Mensch je geschaffen hat. Unfassbar kreativ und fantasievoll in jedem Augenblick. Sie hält die ganze Welt am Laufen, sie steuert alle Entwicklungen, sie hält auch den Kosmos und das alles geschieht ohne Mühe, ohne die geringste Anstrengung, spielerisch als wäre es ein Leichtes. All das sickert durch ihn hindurch, innert Sekunden, oder sind es Stunden oder Ewigkeiten – unerheblich. 

Nach einer Weile taucht er wieder aus diesem Strom auf. Die Sonne ist hinter dem Berg verschwunden. Näc ist aufgestanden und hat die Kamera wieder umgehängt. «Alles in Ordnung?», fragt er. «Ja, alles ist gut», erwidert der ältere etwas benommen. Sie stapfen durch den Schnee auf die Dammkrone. Still gehen sie nebeneinander her. Der Jüngere hat immer noch seine Bilder vor Augen und überlegt, wie er sie zusammenschneiden soll. Der Ältere ist sprachlos und möchte gleichzeitig irgendwie Worte finden für das, was er eben erlebt hat.

Er schaut Näc von der Seite an, diesen jungen Mann, der sein ganzes Leben noch vor sich hat. Ein Satz aus einem Meditationsratgeber kommt ihm in den Sinn: «The problem is not the future of humanity, but the presence of eternity.» In diesem Moment, auf diesem Damm in eisiger Nacht, sieht er wie das gemeint ist: Näc als die Zukunft der Menschheit und er mit dieser Ahnung von Ewigkeit auf der Zunge. Aber was hilft das? Lässt sich damit der Klimawandel bekämpfen? Oder das Artensterben stoppen? Werden so Flüchtlingsströme versiegen? Oder erwächst zumindest Hoffnung aus dieser Erfahrung?

Wenn er jetzt zu seinem jungen Freund sagen würde, was er im Moment zutiefst als richtig empfindet, nämlich: «Alles ist gut. Alles ist an seinem Platz. Jede Sorge ist ein Akt der Überheblichkeit. Das Leben hat immer recht, seit ein paar Milliarden Jahren schon. Und alles wird von Liebe zusammengehalten.» Dann würde er einen ungläubigen Blick ernten. 

Trotzdem sagt er es, aus heiterem Nachthimmel. Und er erntet genau diesen ungläubigen Blick, den er erwartet hat. «Wirklich jetzt? Ist das so?», fragt Näc. Und wenn in diesem Nachfragen nicht ein klein wenig Zuneigung durchgeschienen wäre, dann hätte er wohl geantwortet: «Ach vergiss es.» Aber dieses schwache Leuchten hinter der Frage war da, oder zumindest bildete er sich das ein; auf jeden Fall antwortete er: «Ja, das ist so.»

«Alles ist gut? Der Klimawandel ist gut? Dass Kinder immer noch verhungern überall in der Welt ist gut? Dass Menschen im Gefängnis landen, bloss weil sie die Wahrheit sagen, ist gut? Meinst du das im Ernst?»

Jetzt blieb der Alte stehen. «Schau, ich habe ja selber viel gelitten in meinem Leben, fühlte mich über weite Strecken mutterseelenallein. Sah Menschen sterben, die ich geliebt habe, viel zu früh, viel zu brutal. Wurde verlassen von meinen Liebsten, wieder und wieder. Habe selber Fehler gemacht und war weit weg davon, alles gut zu finden. Und all die Probleme, die ich und meine Generation aufgetürmt haben, sind weit jenseits von gut.»

«Also?», und in Näc’s Stimme lag wieder etwas, das ihn weiterreden liess.

«All das hier, du und ich, der Fluss, der Himmel, der Schnee, die Sonne, die waren ja nicht einfach da. Sie haben sich entwickelt. Aus Sternenstaub sind unsere Hände geworden und das hat Milliarden von Jahren gedauert. Aber so eine Hand ist ein einziges grosses Wunder, das wir einfach nicht mehr sehen, weil es für uns selbstverständlich geworden ist. Ein Wunder bleibt es trotzdem. Als ich vorher am Fluss stand, habe ich plötzlich dieses ganz grosse Wunder, das sich «Leben auf der Erde» nennt, gesehen. Und ich sehe es auch jetzt noch. Ich sehe es auf deinem Gesicht, ich sehe es, wenn ich in den Himmel schaue und die Sterne dort oben betrachte und mir klar wird, wie perfekt das alles organisiert ist. Wir drehen uns seit Milliarden von Jahren um unsere eigene Achse und sind eingewoben in diesen fantastischen Kosmos mit seinen Milliarden von Sonnen. Das ist nicht nur gut, das ist absolut perfekt und liebevoll bis ins kleinste Detail. Ich bin mehr als sechzig Jahre alt geworden, bevor ich das so sehen konnte. Vorhin am Ufer, neben dir, habe ich es gesehen. Ich kann daran nicht mehr zweifeln. Das Bild, das sich mir gezeigt hat, war zu klar.»

«Hmm», summte Näc und selbst in diesem «hmm» lag mehr Verständnis als er es je erwartet hätte. «Wenn es uns gelingt, diese Erde nicht nur mit dem Kopf zu verstehen, sondern – auch wenn es nur ein bisschen ist – sie mit dem Herzen zu lieben, dann ist schon viel gewonnen, denn die Erde liebt uns auch. Sie ist freundlich, warum wir eigentlich nicht?», fuhr er fort.

Sie gingen weiter Richtung Parkplatz. Keiner redete. Beide waren in Gedanken versunken. Der Alte fühlte sich dankbar und erfüllt. « Vielleicht erlebe ich so etwas nie wieder», dachte er sich. Es kam ihm vor wie ein Geschenk, eine Gabe, eine Gnade die er erhalten hatte. Er konnte nichts dafür und er wusste, dass er auch nichts tun konnte, um solch ein Geschenk nochmals zu bekommen. Dieses eine Mal musste genügen und es genügte auch. 

Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Wir wollten auf Muottas Muragl, das ist ein 2400 Meter hoher Berg im Engadin, übernachten. Das Wetter war den ganzen Tag über trüb gewesen. Und es war saukalt, fast – 20 Grad Celsius. Wir sassen im Speisesaal des Hotels am Fenster und blickten auf die Engadiner Seen hinunter. Ausser weissen schnee- und eisbedeckten Flächen war da allerdings nicht viel zu sehen. Der Wein ging langsam zur Neige. Eigentlich hatten wir vorgehabt noch einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen, aber das da draussen war wenig einladend. Also aufs Zimmer? Wir blickten nochmals durch die grossen Fenster hinaus auf die Bergwelt. Da zeigte sich plötzlich ein kleiner schwacher gelber Streifen am Himmel. Mickrig aber stark genug, um uns rauszulocken, nur kurz, ohne Jacken und Mützen, für eine kurze Runde.

Als wir draussen ankamen war der Streifen ein klein bisschen gewachsen. Wir gingen ein paar Schritte, hundert Meter vielleicht, bis wir auf eine Fotografin trafen. Sie hatte ihr Stativ aufgestellt und wartete. Wir blickten in die Richtung ihres Objektivs: Der gelbe Streifen war deutlich gelber geworden und auch breiter. Also gingen wir nochmals 50 Meter weiter, um in die andere Talseite zu schauen. Dort war nichts zu sehen, alles grau in grau. Aber als wir uns umdrehten war der Streifen zu einer gelb, hell orangen Fläche über den weissen Gipfeln angeschwollen. Und mit jedem Schritt, den wir machten, schüttete der Himmel weiter Farbe ins Firmament. Als wir wieder bei der Fotografin ankamen war sie bereits am Bilder machen.

Wir nahmen unsere Kamera beziehungsweise das Handy ebenfalls zur Hand und taten es ihr nach. Der Himmel pumpte weiter Farbe. Und jetzt holte er auch den grossen Pinsel heraus und strich die Wolkenbalken. Hinter uns übergoss er die weissen Gipfel mit Orange und Rosa. Dann begann er richtig zuzulangen. Die Wolken wurden jetzt tief orange. Zwischendrin leuchteten türkisfarbene Himmelsfetzen aus dem All. Und jetzt begann er auch mit Rot um sich zu werfen. 

Wir schlotterten schon die ganze Zeit. Und um das zu ändern rannten wir wie junge Hunde über den Schnee Richtung Hotel. Dort auf der Terrasse fotografierten und staunten und bewunderten wir weiter. Der Himmel kannte nun kein Halten mehr. Purpur erschien. Orange wurde noch oranger. Wir konnten die Farben nicht mehr nur sehen, sie flossen so stark über, dass wir sie auch fliessen hören konnten. Es war alles symphonisch. Es gab keine Grenzen mehr. Alles zerfloss ineinander und zueinander in einem überwältigenden Farbenrausch. Wir wurden trunken. Auch wir zerflossen. Überall war Farbe. Orange auf unseren Gesichtern. Gelb und Rot auf unseren Händen. Ich lachte und weinte abwechslungsweise. Ich spürte wie es kein Entrinnen vor der Erkenntnis gab, dass hier für uns ein Wunder an Farbenfülle und Lebenslust inszeniert wurde, in das wir eingetaucht waren, ohne zu wissen wie uns geschah. Wir waren einfach mitgenommen worden in dieses grosse Gestalten. Es war ein einziges, riesiges Fest von Farben über den weissen Gipfeln der Engadiner Berge. Ein Fest fürs Leben.Und irgendwann war es vorbei. Wir waren äusserlich halb erfroren, aber innerlich so heiss vor Freude und Glück, dass die kalten Nasen, Finger und Zehen nichts ausmachten.

24.2.22

Wunder suchen, Wunder finden

Wunder suchen, Wunder finden

Weshalb ist Jesus publikumswirksam über das Wasser spaziert? 
Immer fragen, wem so etwas nützt. 
Die katholische Kirche brauchte ein paar gute Verkaufsargumente für die Kirchensteuer und verfügte über eine gute Marketingabteilung.

Weshalb also brauchen wir Wunder? 
Um uns in unserem Glauben zu bestärken, dass es noch etwas Grösseres gibt. Aber jede Kohlmeise ist ein Wunder. 
Auch ganz ohne Glauben sieht man/frau, wie das Wunder tagtäglich sich um einen herum abspielt. Weil das Wunder das Selbstverständlichste der Welt ist.

Wenn man an Wunder glaubt, ist man anfällig für Heilslehren. 
Jede Lehre fokussiert und das heisst: schliesst aus. 
Jede Heilslehre sagt so und so muss es gehen, das und jenes musst du tun, anderes musst du lassen, das ist richtig, jenes ist falsch und bitte zahl deine Abobeiträge. 

Im besten Fall sind die Heilslehren so gut, dass sie dich anleiten, das Wunder jeden Tag und immer zu sehen.
Aber wie die Geschichten der vielen geköpften Heiligen beweisen, ist das nicht immer das Ziel von Heilslehren.

Wenn man das Wunder sieht, ist man plötzlich frei, auch vom Glauben.

19/21

Ein «Segantini-Tag»

Ein «Segantini-Tag»

F: Was ist ein «Segantini-Tag»?

R: An einem «Segantini-Tag», erlebe ich das Engadin so, wie Segantini es gemalt hat. «Diese Berge. Diese Weite. Dieses Licht», sagen wir heute. Er konnte das malen. Und das ist spürbar, wenn man vor seinen Bildern steht.

F: Also muss man ins Segantini-Museum, um das zu erleben?

R: Segantini konnte die Engadiner Landschaft so malen, dass Herz und Seele erzittern. So begreife ich seine Bilder. Aber um dies zu begreifen, musste ich zuerst draussen erfahren, was die reale Landschaft mit mir macht.

F: Und wie sieht diese Erfahrung aus?

R: Sie besteht aus purer Begeisterung und purer Freude. Die Berge sind ja immer da. Die Weite auch, nur das Licht hat nicht immer die gleiche Qualität. Aber an «Segantini-Tagen» leuchtet es sozusagen aus dem Innern der Landschaft. Und das ist wunderbar.

F: Aber geschieht das nicht immer, wenn hier im Engadin die Sonne scheint?

R: Eigentlich schon, aber wir sind nicht immer bereit, dieses Leuchten so zu sehen. Im normalen Alltag schauen wir von aussen auf die Lärchen oder auf den grünen Inn, der von der Sonne beleuchtet wird. An «Segantini-Tagen» kehren wir diese Perspektive um und schauen von innen.

F: Das ist mir zu abstrakt. Wie soll ich mir das vorstellen?

R: Ganz konkret: Am letzten Freitag lag zum ersten Mal im Jahr Schnee hier. Der Himmel war wolkenlos. Die Lärchen noch gelb aber schneebedeckt. Eiskristalle von gefrorenem Nebel an allen Ästen – eine magische Stimmung. Ich bin am revitalisierten Inn bei Bever entlang spaziert und konnte mich kaum sattsehen. Und so erging es allen. Ich habe noch nie so viele Leute gesehen, die immer und immer wieder nach ein paar Schritten stehen blieben und fotografiert haben. Und alle strahlten und waren glücklich. Ich habe auch noch nie so viele Gespräche geführt. Man konnte gar nicht anders als die Begeisterung und Freude, die alle verspürten, allen andern mitzuteilen. Nicht nur die Lärchen leuchteten, auch die Spaziergängerinnen und Spaziergänger hatten dieses Leuchten auf ihren Gesichtern.

F: Das klingt beeindruckend.

R: Es war überwältigend. Diese Wucht von Schönheit erfasste alle und alles. Und plötzlich war man eben nicht mehr nur Beobachter oder Fotograf, sondern Teil dieser leuchtenden Landschaft, wie die Lärchen, wie der Beverin, der Inn oder der Kirchturm. Alles leuchtete und man leuchtete mit.

F: Also quasi ein Erleuchtungserlebnis (schmunzelt)?

R (lacht): Ich würde das jetzt auch nicht zu hoch hängen wollen. Sagen wir doch einfach: ein «Segantini-Tag». Ich glaube, dass Maler wie Segantini, aber auch Van Gogh, eben nicht nur die Kunst des Malens beherrschten, sondern auch die Gabe hatten, Landschaften von innen zu sehen. Sie verschmolzen sozusagen mit der Landschaft und genau das macht ihre Bilder so berührend. Wir Normalsterblichen besitzen diese Gabe auch, aber sie ist bei uns weniger ausgeprägt. Aber an solchen «Segantini-Tagen» poppt sie auf und das ist dann eine pure Freude.

#gemeindebever (instagram)

Julia Roberts – inexistent

Julia Roberts – inexistent

Sie stehen im Laden an der Kasse. Vor Ihnen legt eine Frau ihre Einkäufe aufs Band. Die Frau heisst Julia Roberts.

Sie kennen Julia Roberts nicht? Ok, dann ist diese Frau einfach eine Frau, die ihre Einkäufe bezahlen möchte.

Sie kennen Julia Roberts? Sie wissen, dass Julia Roberts eine der berühmtesten Schauspielerinnen Hollywoods ist? Ok, dann schauen Sie genauer hin. Ist sie es wirklich? Ja, sie ist es!

Im ersten Fall existiert Julia Roberts für Sie nicht. Sondern es existiert nur die Frau mit den Einkäufen.

Im andern Fall existiert Julia Roberts sehr wohl – für Sie. Ob etwas existiert oder nicht hängt also einzig und allein von Ihrem Wissen ab. Weil Sie Julia Roberts kennen, sehen Sie Julia Roberts. Wer Julia Roberts nicht kennt, kann sie nicht sehen. Genau so funktioniert Bewusstsein. Was nicht im Bewusstsein ist, existiert nicht. So ist es auch mit der Biodiversität.

Wenn Sie nichts von der Lorbeerweide – der schönsten Weide der Schweiz – wissen, dann werden Sie sie auch nicht sehen, selbst wenn dieser Weidenbaum neben dem Parkplatz steht. Wenn Sie den Bluthänfling  (eine Vogelart) nicht kennen, werden Sie ihn auch nicht sehen, selbst wenn er durch Ihren Garten fliegt. All die Tier- und Pflanzenarten, die Sie nicht kennen, existieren für Sie nicht, Sie nehmen sie gar nicht wahr. Sie sind nicht in Ihrem Bewusstsein. Geschätzte 75‘000 Arten gibt es in der Schweiz, 42’000 davon kennt man. Für Sie und für fast alle anderen Menschen in der Schweiz existieren aber 99,999% dieser Arten nicht, obwohl sie den gleichen Lebensraum mit Ihnen teilen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir uns so schwertun mit der Biodiversität.

Nun ist es aber nicht möglich, der ganzen Schweizer Bevölkerung einen Kurs in Artenkenntnis zu verpassen. Die einzige Lösung dieses Problems, die ich sehe, ist, dass wir den Menschen vertrauen, die etwas von Biodiversität verstehen. Genauso wie Sie ihrem Garagisten, ihrem Zahnarzt oder ihrem IT-Spezialisten vertrauen. Diese Biodiversitäts-Fachleute sind wichtig, vielleicht wichtiger als Zahnarzt, Garagist oder IT-Spezialist, weil diese Menschen fundamentale Zusammenhänge unserer Lebensgrundlage verstehen. Wir sollten sie ernster nehmen, als wir das heute tun. Einfach weil unsere Lebensgrundlage wichtiger ist als unser Gebiss, unser Auto oder unser Computer.

Only one

Only one

Ich habe heute Nacht von einem Meditations-Retreat geträumt, in dem ein alter amerikanischer Lehrer zu uns sagte: «When I give you a hand, you give me my hand. When I swim in the ocean. You swim in the ocean. When I live, you live. When I die, you die. There is no I. There is no you. Not two. Only one.» 

Das war so schön, dass ich im Traum weinen musste.

Same-Same, but Different

Same-Same, but Different

Vortrag im IK-Team vom 16.9.2020

Fundamental sind wir auf Gleichheit programmiert:
– Vor dem Gesetz sind alle gleich. Menschenrechte!
– Genetisch teilen wir 99% des Erbguts mit allen anderen Menschen. Und 50% mit der Banane.
– Unsere Schulen sind grosse Gleichmacher.
– Wir leben in Bubbles, die aus Gleichen bestehen.
– Konform leben ist easy; Nonkonformismus kann anstrengend sein.
– Mehr denn je ist das Thema „Minderheiten“ ein Thema. Unser ganzes Mindset ist auf Gleichheit programmiert.

DIVERSITY ERKENNEN UND ANERKENNEN „We are all the same, but different.“ Erkennen, dass wir alle gleich sind, bedeutet wahrnehmen, dass wir alle verbunden sind. Anerkennen, dass jeder anders ist, bedeutet annehmen, dass jeder seiner Bestimmung folgen soll. Das Integrale Modell ist nicht nur ein Ordnung schaffendes Modell, sondern auch eines, dass darauf fokussiert, wie divers wir alle sind. Und Ken Wilber selber hat immer betont, dass Translation fast wichtiger ist als Transformation. Wenn wir unser Mindset auf Diversity umprogrammieren, sieht die Welt anders aus.

EXKURS BIODIVERSITÄT – THERE IS A PLAN Wer Biodiversität wahrnimmt und darüber nachdenkt muss zum Schluss kommen, dass es einen Lebensplan gibt. Anders ist diese unendliche Vielfalt nicht zu erklären. Allein in unserem Garten gibt es 20 Baumarten, 20 Straucharten, über 100 Blütenpflanzen, insgesamt über 250 Arten, die mir bekannt sind. Das ist aber nur 1/1000 aller Arten, die in unserem Garten vorkommen, und die alle miteinander kommunizieren. 999/1000 aller Arten in unserem Garten kenne ich nicht. Das Beispiel Kopffüsser: Von denen gab es mindestens 30‘000 Arten (vom Menschen nur 1 Art) und sie haben 350 Millionen Jahre überlebt bis heute. Homo sapiens, der moderne Mensch, ist etwas über 315‘000 Jahre alt. Rezente Pflanzenarten sind zum Beispiel Schachtelhalme, die es vor 375 Millionen Jahren bereits gab. Diversity anerkennen heisst auch bescheiden, ja sogar demütig sein.

ANERKENNE DICH SELBST „Wer bin ich?“, ist eine gute Frage. Bis jetzt haben wir diese Frage spirituell oder psychologisch beantwortet. Die präzisere Frage ist jedoch: Was unterscheidet mich körperlich von anderen? Jeder wirklich relevante Unterschied manifestiert sich körperlich. Auch Bewusstseinsstufen sind körperlich, behaupte ich mal 🙂 Diese meine körperlichen Bedingungen muss ich anerkennen. Beispiel: Krämpfe in kaltem Wasser. Der Schwimmlehrer hat mich als Angsthase abgestempelt. Meine Partnerin konnte auch nicht recht damit umgehen. Aber es ist nun Mal so: Ich kriege Krämpfe, wenn das Wasser unter 14 Grad ist. Mit dieser Bedingtheit muss ich leben. Je früher ich sie anerkenne, umso weniger stört sie.

COMING OUT Erkennen und anerkennen, wer man/frau ist. Dieser Prozess dauert lebenslang. Nicht jeder geht diesen Weg. Beispiel Garten: Wir haben unseren Garten seit 20 Jahren Richtung mehr Biodiversität entwickelt. Dabei ist kein Stein auf dem andern geblieben. Unser Nachbar hat in der gleichen Zeitspanne seinen Garten gegen alle Veränderungen verteidigt. Beides hat seinen Platz im Ganzen. Ich fühle mich als Bewahrer körperlich unwohl. Er fühlt sich als Veränderer unwohl. Beide gehen wir unseren Weg. Resonanz, Vertrauen, Glück, Lust – Verbindung ist nur möglich, wenn frau/man sich zeigt. Wenn ich mich dem Schmetterling nicht als Blume zu erkennen gebe, wird er vorbeifliegen.

Der Schlüssel zum Paradies … ist die Vertreibung daraus

Der Schlüssel zum Paradies … ist die Vertreibung daraus

Adam und Eva lebten im Paradies, so wie Gott sie schuf. Sie waren unschuldig. Sie lebten in den Tag hinein wie Kinder. Sie durchliebten die Nächte, auch wie Kinder. Dann biss Eva in den Apfel, der am Baum der Erkenntnis hing. Was folgte war Vertreibung, Schuld, Himmel und Hölle, das ganze Programm – so zumindest erzählt uns das die katholische Kirche.

Man kann diese Geschichte aber auch anders lesen: Was tat Gott mit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies? Er machte ihn einzigartig. Er vertrieb nicht den Wurm, der ein Loch in den Apfel gefressen hatte und auch nicht den Vogel, der ihn angepickt hatte. Nur der Mensch wurde draussen vor die Tür gesetzt. Und was geschah dann?

Draussen vor der Tür blickte der Mensch zurück. Und zum allerersten Mal sah jemand das, was vorher noch nie jemand gesehen hatte: nämlich das Paradies. Zum ersten Mal blickte jemand von aussen auf die Schöpfung. Und in diesem Moment wurde erkannt, was die Schöpfung überhaupt ist – nämlich ein Paradies. Etwas unfassbar, unglaublich, unbegreifbar, unermesslich Schönes, Faszinierendes, Wahres.

Der Walfisch, der durch die Ozeane schwimmt, merkt nicht, dass er im Paradies ist. Für ihn war der Ozean immer schon der Ozean, nicht mehr und nicht weniger. Der Vogel, der durch die Lüfte segelt, realisiert nicht, dass er über ein Paradies hinwegfliegt. Für ihn war die Erde immer schon einfach unten und der Himmel immer schon einfach oben. Erst wenn man von aussen auf die Ozeane schaut, erst wenn man wirklich getrennt von Himmel und Erde ist, erst als Vertriebener kann man das Paradies als Paradies erkennen. Und diese einmalige Perspektive ist nur dem Menschen zuteil geworden.

17.9.2019

Herzerwärmend

Herzerwärmend

Das Angebot von tausend Kernen bringt mir im Winter den herzerwärmenden Besuch von zwanzig Vogelarten. Amseln, Finken, Meisen, Kleiber, Spechte und Rotbrüstchen tummeln sich um unser Vogelhäuschen vom kalten November an. Fünf Kilogramm Futter vertilgen sie pro Woche. Sie werden umgesetzt in Lebendigkeit an dunklen Wintertagen.

Aus einer im Winter toten Ecke des Balkons wird ein lebendiges Geflatter und Gezwitscher. Meisen hämmern auf den Sonnenblumenkernen herum. Amseln und Kleiber schmeissen missliebige Samen in hohem Bogen aus dem Häuschen. Finken hocken oft eine Viertelstunde unter dem Vogelhausdach und schlagen sich den Bauch voll. Und ab und zu erscheinen die Seltenen und Besonderen: der Gimpel, der Kirschkernbeisser, der Kreuzschnabel oder der Buntspecht, die Schwanzmeise und die Bartmeise.

Am meisten Freude habe ich an den kleinen Zeisigen, die in Gruppen einfallen und am Boden herumhüpfen wie Federbällchen. Sie picken auf, was runtergefallen ist.

Seit meiner Kindheit habe ich Freude an Vögeln. Und meine Grossmutter, meine Mutter und jetzt wir haben sie im Winter immer gefüttert. Es ist eine Familientradition. Vor allem aber macht es Spass und Freude. Es sind keine überschwänglichen Momente, die ich vor dem Vogelhäuschen verbringe. Es ist die Konstanz und Verlässlichkeit des Erscheinens dieser Vögel, die mich beeindruckt. Sie signalisiert: der Kälte und Erstarrung des Winters zum Trotz geht das Leben weiter, wir sind immer noch da; wir widerstehen dem Gefrorenen wie du und freuen uns am Körnerangebot.

Das Bild der flatternden Vögel prägt mir jeden Morgen, vier oder fünf Wintermonate lang. Wenn sich alle Pflanzen draussen in die Erde zurückgezogen haben, kein Blatt an den Bäumen hängt und die Menschen, wenn überhaupt, nur vermummt durch die Strassen gehen, sind die Vögel immer noch da. Erscheinen wie aus dem Nichts, sobald ich ihnen ein paar Körner hinlege und bringen luftige Grüsse zum Teil von weit her oder auch nur vom nächsten Waldrand.

Genesis

Genesis

Wenn Samen und Eizelle miteinander verschmelzen, ist diese Vereinigung das Allererste, das im Leben passiert. Unsere grosse Sehnsucht nach Vereinigung und Einheitserfahrungen rührt unter anderem daher. Nach der Verschmelzung beginnt das neue, individuelle Leben sich zu entwickeln. Die Grundlage dieser Entwicklung ist Vertrauen. Vertrauen der Mutter, das alles in Ordnung ist. Vertrauen des Kindes, das es im Bauch der Mutter sicher und geschützt ist. Aber dieses Vertrauen ist nicht immer vorhanden. In meinem Fall war das Vertrauen gestört; für meine Mutter kam ich zu früh. Sie hatte andere Pläne mit ihrem Leben. Das Kind in ihr durchkreuzte diese Pläne. Deshalb lehnte sie es ab. Ich bekam das zu spüren. 

Psychologen sagen, dass man sich an die ersten zwei Lebensjahre kaum erinnert und an vorgeburtliche Erfahrungen noch viel weniger. Das ist eine Lehrmeinung. Es gibt jedoch auch Studien, die nahelegen, dass man sich zum Beispiel an Melodien erinnert, die während der Schwangerschaft oft gespielt wurden. Und neuste Forschungen zeigen, dass es so etwas wie ein zelluläres Gedächtnis gibt. Wie dem auch sei: Wenn ich meditiere und dieser Zeit im Bauch und nach der Geburt nachspüre, erhalte ich ziemlich eindeutige Bilder und Erinnerungen. 

Einer dieser Eindrücke aus der Meditation ist, dass ich schon einen Monat nach der Vereinigung spüre, wie meine Mutter Panik bekommt, als sie ihre Schwangerschaft realisiert. Ich spüre, wie ich gegen diese Panik Widerstand leisten muss; ich spüre das auf zellulärer Ebene. Diese Panik hält dann rund sieben Monate an und wird mit dem wachsenden Bauch immer schlimmer. Dann komme ich zur Welt und die Panik wächst nochmals. Denn jetzt hängt ihr Bauch und ist wabbelig, die Vagina erweitert und schlaff, alles schrecklich. Und bei meiner Mutter mit der Angst verbunden, nicht mehr attraktiv zu sein. Zudem will dieses kleine Kind nun auch noch die schönen Brüste attackieren. Panik in ganz grossem Ausmass!

Auf der einen Seite bekomme ich als Baby also zu spüren, das ich nicht unbedingt gewollt bin, das ich irgendwie falsch bin. Zugeben kann meine Mutter das jedoch nicht. Also muss sie diese Frustration, diese Durchkreuzung ihres Lebensplans kompensieren. Sie tut das, wie viele Mütter das tun: Indem sie mich herumreicht und beteuert, wie wunderbar dieses Kind ist. Es gibt ein Bild aus dieser Zeit, auf dem meine Mutter wie ein Fotomodell (das sie immer werden wollte) im Wochenbett posiert und ich irgendwie verloren daneben liege. Ich werde also herumgereicht. Als kleines Kind will man aber nicht herumgereicht und bewundert werden. Und als Baby begreife ich auch nicht, was das soll: warum ich so wunderbar sein soll, wenn man mich herumzeigt, ich kurz darauf aber wieder Ablehnung spüre, sobald ich zurückgereicht werde. Das ist eine äusserst verwirrende Doppelbotschaft.

Eigentlich will ich mich als Baby nur in den armen meiner Mutter entspannen können, mich gehen lassen können, vertrauen können. Stattdessen spüre ich in diesen Armen eine gewisse Ablehnung. Stattdessen reicht sie mich herum und sagt wie grossartig ich bin. Also lerne ich mit der Zeit folgendes: Ich muss meiner Mutter zeigen, wie grossartig ich bin, um von ihr liebevoll in die Arme genommen zu werden und Vertrauen zu bekommen. Wenn alle finden, ich sei grossartig, und alle sagen, ich sei wundervoll, wird das auch meine Mutter so sehen. So funktioniert das natürlich nie, weil meine Mutter dieses Vertrauen selbst auch nicht hat und deshalb mir auch nicht geben kann. Aber so entsteht in mir eine unsinnige Lösungsstrategie für ein Grundproblem, die ich über Jahrzehnte hinweg beibehalte. Das Motto dazu lautet: «Ich leiste, dafür bekomme ich Vertrauen/Liebe geschenkt.» Ich suche also über Leistung und im Aussen dieses Vertrauen zuerst von meiner Mutter, dann von meinen Liebsten zu bekommen, was schlicht und ergreifend der falsche Weg ist. Ein Tauschhandel, der nicht funktioniert. Ein Schlüssel, der nicht passt. Aber da ich keinen anderen habe, versuche ich immer wieder diesen nicht passenden Schlüssel ins Schloss zu stecken.

Diese Suche nach dem (Ur)-Vertrauen begleitet mich seit Geburt. Ich suche permanent und kann mich deshalb fast nie ganz entspannen. Das hat auch körperliche Auswirkungen, zum Beispiel Schlaflosigkeit. Auch heute noch, mit 60 Jahren habe ich das Problem nicht gelöst. Es wird sich auch nicht von einem auf den anderen Tag lösen lassen, dazu ist es zu alt. Wo die Lösung liegt, weiss ich zwar schon eine ganze Weile. Aber Wissen hilft hier nicht wirklich weiter. Doch seit einigen Monaten mache ich dazu auch eine körperliche Erfahrung, vor allem durch Meditation. 

In der Meditation kann ich meine Mutter in einem grösseren Ganzen sehen. Ich kann erkennen, dass meine Mutter keine Schuld hat. Ich kann sehen, dass sie damals, als sie mit mir schwanger war, einfach so reagierte, wie eine junge Frau reagiert; vollkommen natürlich, vollkommen verständlich. Und dass diese Reaktion einfach eine Manifestation ihres Egos war, nicht mehr und nicht weniger. Sie war nicht gegen mich persönlich gerichtet, sondern einfach von ihrem Ego getrieben. Diese ablehnende Reaktion hat auch etwas Zufälliges. Wäre ich vielleicht ein oder zwei Jahre später gekommen, wäre sie anders ausgefallen.

Der springende Punkt ist jedoch ein anderer: Ich kann in der Meditation und inzwischen auch im Alltag klar erkennen, dass das Leben selbst mich so wollte. Genau dann. Genau dort. Und ich kann klar erkennen und erfahren, dass ich nur weiterkomme, wenn ich in das Leben selbst vertraue. Nicht in meine Mutter, nicht in meine Liebsten, nur in das Leben selbst.

Ich verdanke mein Leben dem Leben selbst, der Schöpfung selbst, der Genesis. Die Schöpfung wollte, dass ich hier bin. Meine Mutter wollte etwas anderes. Mein Vater hatte anfangs gar keine Vorstellung, was er wollte oder ob er überhaupt etwas von mir wollte. Aber das Leben wollte mich hier auf die Welt bringen, am 14.11.1958. Und in das Leben kann man/frau vertrauen. Es schöpft seit Milliarden von Jahren. Und was dabei herausgekommen ist, ist wunderbar, paradiesisch.

Der Weg bis zu diesem Punkt hier und jetzt war lang und oft schmerzhaft. Ich hätte mir das anders gewünscht und wünsche es allen anders.  Aber wenn ich in meinen letzten zwanzig Lebensjahren lerne und erfahre, wie dieses Vertrauen ins Leben selber wächst, dann finde ich das spannend – oder eher ent-spannend, auf jeden Fall wichtig und erfüllend. Und vielleicht ist sogar genau das Sinn und Zweck meines Hierseins jetzt: Dieses Vertrauen ins Leben selbst mehr und mehr zu erschliessen und auch davon zu erzählen.

Die Foto-Ausstellung «Genesis» von Sebastiao Salgado ist eigentlich ein Wegweiser dorthin. (Noch bis am 23.6.2019 im Museum für Gestaltung Zürich)

(Meditation vom 13.2.19)