Die Erlösung ist im «Tatort» angekommen

Die Erlösung ist im «Tatort» angekommen

In einem normalen «Tatort» werden immer am Sonntagabend, seit 49 Jahren, Mordfälle gelöst. Beim Tatort «Murot und das Murmeltier» hingegen wird nicht ge- sondern erlöst. 

Der Schauspieler Ulrich Tukur als Kommissar Murot und der Regisseur, Drehbuchautor und Musiker Dietrich Brüggemann bringen in dieser Tatort-Episode in nur 90 Minuten das grossartige Kunststück fertig, die Essenz der Erlösung glaubhaft zu inszenieren. Das geht so: Nachdem Murot in einer Zeitschleife immer und immer wieder den gleichen Banküberfall durchlebt und dabei jedes Mal erschossen wird, sitzt er am Filmende mit dem Täter am Seeufer, drückt ihm seine Pistole in die Hand und spielt ein paar wenige, simple Sätze so eindringlich, das plötzlich aufscheint, was mit «Erlösung» gemeint sein könnte. Er sagt:

«Sie haben jetzt die Wahl.

Sie können uns jetzt beide erschiessen. 

Dann geht alles von vorne los und wir sitzen wieder in der Bank. 

Oder sie lassen uns am Leben. 

Dann ist jeder Tag neu. 

Und die Chance besteht, dass es ein beschissener Tag wird. 

Oder auch mal ein sehr schöner. 

Oder ein ganz normaler Tag, mit wechselnder Bewölkung und 30 Prozent Regenwahrscheinlichkeit.»

Der Verbrecher schiesst nicht, sondern legt seinen Kopf auf Murots Schulter und Murot umarmt ihn.

Das ist alles.

So ist die Erlösung, 2019 Jahre nach Christus, im «Tatort» angekommen.

In den Ohren und Augen vieler war das eine Zumutung  – 57% der Zuschauer hat dieser «Tatort» nicht gefallen. 

Ich finde diese Schlusssequenz nach 90 Minuten Wirren und Irrungen mutig und in ihrer Einfachheit genial. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen zum Thema Erlösung. Aber spielen muss man das können und Tukur kann das und bringt diese Schlichtheit auf den Punkt.

Wir alle befinden uns in dieser Endlosschlaufe. Das repetitive Tatort-Schauen jeden Sonntagabend ist ein gutes Indiz dafür.  Die einen sehen das klarer, andere haben kein Bewusstsein dafür und wieder andere sind in dieser Routine abgestumpft. Aber die einzige Möglichkeit da rauszukommen ist – und genau das macht uns Tukur in seinem Tatort unnachahmlich vor -, jeden Tag als neuen Tag zu erfahren. Ein neuer Tag mit tausend Möglichkeiten, einer von dem man am Morgen nicht weiss, was er bis zum Abend bringen wird. Das immer wieder neu zu sehen und zu spüren ist hohe Kunst. So hohe Kunst, dass es kaum jemandem in Vollendung gelingen wird. Aber sobald es hin und wieder gelingt, und es dann immer öfter gelingt, spürt man Freiheit. Und je freier man sich fühlt, um so grosszügiger und verschwenderischer erscheint einem das Leben.

Der Kern der Erlösung ist simpel und zwar in allen Weltreligionen. Buddha soll einmal die Essenz seiner Lehre so zusammengefasst haben:

«Meditiere.

Lebe genügsam.

Sei still.

Verrichte deine Arbeit meisterlich.

Komme hinter den Wolken hervor,

wie der Mond.

Und scheine.»

Das reicht.

Das reicht nicht, um eine Weltreligion am Laufen zu halten. Dazu braucht es goldene Gongs, Räucherwerk, Roben und Rituale; aber im Grunde genommen ist das alles Marketing.

Um ein erfülltes Leben zu leben, reicht es, sich an diese sieben Zeilen zu halten. Oder «Murot und das Murmeltier» zu schauen.

Ein Ball, ein Sohn, ein Platz

Ein Ball, ein Sohn, ein Platz

Die Standard-Antwort war: Heute geht es gerade nicht so gut. Oder als Variante: Leider habe ich gerade keine Zeit heute.

Die Glück-bringende Antwort war: Ok, gehen wir!

Die Frage des Sohnes an den Vater war jahrelang dieselbe: Kommst du bitte mit mir auf den Fussballplatz? Ich weiss nicht mehr genau, wie lange ich die Standard-Antwort durchzog, aber es waren nicht Monate, sondern Jahre. Aber irgendwann einmal, da war mein Sohn elf oder zwölf wechselte ich auf die Glück-bringende, obwohl ich damals keine Ahnung davon hatte, wie viel Glück dieses «ok, gehen wir!» mir bescheren würde.

Dazu muss man wissen, dass ich nicht gerne Fussball spielte. Es nie gerne tat. Nicht in meiner Kindheit, nicht in meiner Jugendzeit. Man kann sogar sagen: ich hasste Fussball. Fussball demütigte mich, schon bevor die Schulzeit anfing. Ich war derjenige, der das nicht konnte. Das was alle konnten. Allerhöchstens in der Verteidigung konnte man mich einsetzen. Und eigentlich auch dort nicht. Ich schoss den Ball mit der Fussspitze, worauf der Ball irgendwohin flog und mir die Zehen weh taten. Aber alle wollten immer Fussball spielen, nicht Handball, nicht Korbball, nicht Tennis. Ich spielte Tennis, aber das nützte mir auf dem Fussballfeld weniger als nichts.

Mein Sohn hingegen konnte Fussball spielen, auch Handball. Er kann eigentlich alles, was mit Sport zu tun hat. Und seit er ein kleiner Junge war verbrachte er die meiste Zeit auf dem Fussballplatz neben der Turnhalle. Er war unermüdlich. Was auch bedeutete, dass seine Kollegen irgendwann zu müde waren, während er nicht genug kriegen konnte. Deshalb fragte er mich. Und nachdem ich ihm jahrelang die Standard-Antwort gegeben hatte, gab ich mir irgendwann einmal innerlich einen Ruck und sagte: ok, gehen wir!

Er musste mir alles beibringen. Zuerst einmal gewöhnte er mir das Schiessen mit der Fussspitze ab. Jedes Mal, wenn ich vom Schiessen müde wurde, stellte er mich ins Tor, bis ich wieder etwas Kraft gewonnen hatte. Dann übernahm er als Torhüter und ich war wieder dran mit Schiessen. Er brachte mir bei, wie man flache Bälle schiesst und wie die Halbhohen. Er lernte mich, den Ball anzunehmen. Er unterrichtete mich im Schiessen von angeschnittenen Bällen. Ich konnte mit der Zeit scharfe, schnelle Bälle schiessen und auch langsame. In die linke unter Ecke und in die rechte obere. Auch Weitschüsse. Auch erste Dribblings.

Er war und ist der geborene Fussballtrainer. Ich konnte mich noch so blöd anstellen – er ermunterte mich. Er sah präzis, was ich falsch machte und gab mir die entsprechenden Tipps. Er konnte meine Bewegungen analysieren und ausserdem gut erklären, wie ich sie verbessern könnte. Es war faszinierend! Ich begriff, wieso er ein derart guter Sportler war: Es waren nicht nur seine Beine, seine Instinkte, sein Talent, sondern auch sein Kopf. Und so änderte sich meine Standard-Antwort. 

Die neue Standard-Antwort war: ok, gehen wir! Ab dann verbrachten wir zwei Sommer lang viele, viele, viele Stunden gemeinsam auf dem Fussballplatz. Als Vater und Sohn, wobei die klugen Ratschläge vom Sohn kamen und der Vater sie umzusetzen versuchte. 

Mit der Zeit verblassten all die Jahre, in denen ich mich auf den Fussballfeldern geschämt hatte und ich begann mich auf unsere abendliche Sportstunde zu freuen. Es war ein ganzer, riesengrosser Brocken Scham, der da ausgedribbelt wurde und sich in Freude, Spass und eine wundervolle Vater-Sohn-Beziehung verwandelte.

(Luzern, Steinhofschulhaus, 2013 – 2015)

Baum sein

Baum sein

Der Meditationslehrer heisst Anand und ruckelt mit seinem Kopf, wie es so elegant und vielsagend nur Inder können. Wir liegen alle auf dem Rücken und machen Atemübungen. Auch die Hände haben wir auf die Handrücken gelegt, wie um etwas zu empfangen. Mit einem Mal geschieht es, als sei es das Selbstverständlichste: Ich bin plötzlich der Baum draussen vor der Meditationshalle. Ich stehe da als Baum, atme als Baum, bin es. Augenblicklich erschliessen sich mir auch all die komplizierten Lebensprozesse im Baum. Ich sehe, wie aus der Luft und der Sonne Energie entsteht, sehe den Mitochondrien bei der Arbeit zu, überschaue wie die Nährstoffe und das Wasser aus den Wurzeln aufsteigt und zu den Blättern fliesst.

Wie lange ich Baum bin, kann ich nicht sagen. Die Meditationsblöcke dauern normalerweise 20 – 30 Minuten. Als Anand uns auffordert wieder die Augen aufzumachen, tue ich das und verlasse mich als Baum, um wieder zurückzukehren als ich Reto.

Das war mein erstes Einheitserlebnis während einer Meditation. Ich weiss noch, wie ich dachte: aha, so ist das also. Und ich war auch etwas stolz, das mir so etwas passiert ist.

Danach dauerte es Jahre bis ich wieder ein solches Erlebnis hatte. Diese Jahre brauchte ich, um zu lernen, dass solche Erfahrungen zwar extrem eindrücklich und schön sind, dass aber das Leben nicht aus der Sammlung dieser Einheitserlebnisse besteht, sondern aus unseren Montagen und Dienstagen, Wochen, Monaten und Jahren. Sich mit jedem Montag zu verbinden ist wert- und kunstvoller als Baum zu sein.

(Lassalle-Haus, Zug, Schweiz, 2003)

Rhythm of the Saints

Rhythm of the Saints

Vorhang auf, grosse Bühne. Darauf ein Turm von Trommeln, Congas, Bongos, Cimbeln und Zeugs, das ich noch nie gesehen habe … dann schlendert der erste Musiker rein, setzt sich irgendwo in diesen Wirrwarr und gibt einen Rhythmus vor. Ein zweiter kommt, nimmt den Rhythmus mit einem anderen Instrument auf. Ein Dritter klettert auf den Turm, setzt ein. Ein Vierter, Fünfter. Die ganze Bühne schwingt sich ein, dann kommen mehr Musiker. Der Rhythmus schwappt über den Bühnenrand hinaus. Das Stadion beginnt zu schwingen. Boden, Stühle, Wände. Dann die Leute. Dann noch mehr Musiker auf der Bühne, fast zwei Dutzend jetzt, nur Rhythmus. Dieser Teppich bläst mich glatt weg, rollt über mich und hört nicht auf zu stampfen und zu schwingen und zu pumpen.

Dann erst kommen die Bläser, die Gitarristen, die Akkordeonisten und beginnen die Rhythmen mit Melodien zu bearbeiten, walzen sich durch, kneten das Bummern. Mein Zwerchfell ist ein einziger Resonanzboden inzwischen. Ich darf nicht vergessen Luft zu holen! Jetzt ist die Musik auch bei den Füssen angelangt. Nicht nur bei mir. Das ganze ausverkaufte Hallenstadion wippt, stampft und grooved. Ein Hexenkessel!

Und erst jetzt, zehn Minuten nach dem ersten Taktschlag, kommt der Star auf die Bühne. Ein kleiner, winziger Paul Simon vor diesem riesigen wummernden Turm mit einer Gitarre in der Hand, die er zusammen mit seiner Stimme zum Mikrofon trägt. Er hat diese «Rhythm of the Saints» inszeniert, war in Brasilien, hat Musiker von dort mitgenommen, Lieder zu den Rhythmen geschrieben und die spielen sie jetzt, direkt für unsere Zwerchfelle, wo die Fröhlichkeit, die Ausgelassenheit und die Lebensfreude explodieren. Mitten im Bauch. Und das halten sie durch, zwei Stunden lang, ein Lied ins andere rein, immer tranceartiger bis zur Erschöpfung, bis unsere Felle nur noch schlaff zwischen den Knochen hängen und die Füsse es kaum mehr bis zum Ausgang schaffen.

(Hallenstadion, Zürich, 1991)

Der Atem von Eihei-ji

Der Atem von Eihei-ji

Wir werden um 3.20 Uhr geweckt und trippeln in den Meditationsraum. Eine halbe Stunde sitzen. Holz auf Holz klappt. Eine Glocke erklingt. Ein Gong, dann Trommeln, dann Stille.

Ich folge meinem Atem, wie Suzuki Roshi gestern Abend empfohlen hat. Einatmen 1. Ausatmen 2. Einatmen 3. Ausatmen 4. Ich folge ihm. Ab und zu höre ich den Gong, er stört mich, aber das ist unwichtig. Ich folge ihm. Der Atem dringt in mich ein und verlässt mich wieder. Ich spüre jeden Zug. Ich beobachte ihn aber auch, wie er in mich einzieht und ich beobachte wie er mich verlässt. Ich bin auch ausserhalb von mir als Beobachter. Und ich mache ganz deutlich die Erfahrung, dass der Atem auch der Atem der anderen ist. Es ist der Atem auch der Bäume. Es ist der Atem der ganzen Menschheitsgeschichte; ich atme auch Dogen, der dieses Kloster gegründet hat. Dieser Atem verbindet alles, ich bin verbunden mit allem, aber ich ist nicht nur mein Körper, sondern dieser Beobachter. Und dieser Beobachter ist ebenfalls der Atem. Ja, ja alles ist eins. Gong. Die halbe Stunde ist um.

Ich kehre nur ungern zurück. Diesen Geschmack hätte ich gerne noch ein bisschen länger  gespürt. Aber es ist auch klar geworden, dass dieser Geschmack immer da ist. In jedem Augenblick und an jedem Ort.

Eve erzählt mir später, als ich mit ihr über diese Erfahrung rede, dass man gar nicht mehr sitzen muss, weil ja die Erfahrung der Einheit immer überall ist. Man muss sie nur wahrnehmen.

Ein Kloster wie Eihei-ji, wo seit siebenhundert Jahren Zen geübt wird, macht solche Erfahrungen zugänglicher. Die Energie hier ist sehr spürbar.

Japan, 20.9.06

Die Entdeckung der Musik

Die Entdeckung der Musik

Ich sitze mit dem Rücken zum Chor auf der Kirchenbank. Es ist Allerheiligen 2017 und es wird ein göttlicher Abend. Als erstes bemerke ich, dass für dieses Konzert meine Ohrmuscheln falsch herum montiert sind. Da der Chor hinter mir auf der Empore singt, wirken meine Ohrmuscheln nicht wie Schalltrichter, sondern wie Lärmschutzwände. Ich schaue nach vorn in den leeren Kirchenraum, wo es nichts zu sehen gibt. Also schliesse ich die Augen.

Und plötzlich höre ich es: Wie die Musik nicht von den Sängerinnen und Sängern des Chors kommt, sondern durch sie hindurch fliesst. Aus etwas Tieferem entströmt sie. Ich sehe nicht woher. Ich höre nicht woher. Es sind Töne, die durch die Kehlen fliessen, von irgendwoher durch diese Kirche, diese Kehlen, durch diese meine Ohren hindurch und weiter. Als ob ich nicht dasitzen würde, fliessen sie auch durch mich hindurch. Bei dieser Art Hören verlieren meine Ohren ihre Festigkeit, meine Haut wird durchlässig, ich bin hier nicht mehr der sitzende Körper auf der Kirchbank, sondern höchstens Zwischenraum; die weite Leere zwischen den Atomen meines Körpers.

Während dem das mit mir geschieht, realisiere ich, wie der Chor hinter mir nicht Quelle, sondern Teil des Klangs ist. Ein Klang, der schon vor dem Chor war und auch nach dem Chor sein wird.

Und selbst die Quelle dieser Musik aus der Tiefe ist noch nicht die ganze Tiefe. Es ist nicht nur das «Requiem aeternam» von Maurice Duruflé, das hier ertönt, sondern hinter diesem Requiem tönt noch alle Musik von früherer Zeit. Sie quillt sozusagen in die Melodie des Aeternam hinein und wird mitgenommen.

So sitze ich mit geschlossenen Augen mehr als eine Stunde in der zweiten Reihe der Hofkirche in Luzern und halte meine Augen fast während des ganzen Requiems geschlossen. «Der Chor» singt hinten auf der Orgelempore. Die Orgel zusammen mit der Zuger Sinfonietta begleitet den Chor zusammen mit einer Mezzosopranistin, die ein wunderbares Solo gibt. Ein göttlicher Abend!

Smalltalk mit einem Berg

Smalltalk mit einem Berg

Die Greina ist eine der schönsten Hochebenen der Schweiz, eine Landschaft von nationaler Bedeutung und ein Symbol des erfolgreichen Politwiderstands. Denn die Greina sollte überflutet werden, weil Stromfirmen einen Stausee bauen wollten. Deshalb ist die Greina unter Linken und Grünen ein beliebtes Wanderziel. Ich bin allerdings mit einem Zeitungsredaktor der bürgerlich orientierten Neuen Zürcher Zeitung unterwegs, völlig unideologisch, einfach weil uns die Landschaft hier oben fasziniert.

Wir kommen vom Süden her, aus dem Tessin und steigen über einen kleinen Pass in die Hochebene hinunter. Es ist Frühsommer. Der Schnee ist geschmolzen, aber überall fliesst noch reichlich Wasser. So viel, dass es gar nicht so einfach ist, das namensgebende Flüsschen Greina zu überqueren. Wir müssen eine Passage suchen, bei der wir von Felsblock zu Felsblock springen können. Das Wasser ist hier noch reissend, eisig kalt und von milchiger Farbe.

Weiter unten wird es dann klarer und durch die Ebene schlängelt und windet sich die Greina als einer der letzten, freien Flüsse der Schweiz. Es ist ein herrlicher Anblick! Er erinnert uns an nordische Landschaften. Wollgras winkt bereits mit seinen schneeweissen Zotten im Wind. Noch weiter unten grasen ein paar Pferde. Die ganze Landschaft wirkt unberührt, heil. 

Über diese Hochebene zu wandern dauert ungefähr eine Stunde. Wir geniessen sie sehr. Reden kaum miteinander. Machen Fotos. Bleiben immer wieder auch stehen. Am unteren Ende der Hochebene, dort, wo die Ebene gegen das Tal abknickt, steht eine rostig orange Stahlskulptur, ein Engel. Mir gefällt sie. Ich bleibe lange neben ihr stehen und folge ihrem Blick. Er ist über den Fluss hinweg auf den Bergkegel vis-à-vis gerichtet. Ich geniesse nochmals die Ruhe, blicke zurück auf das breite Tal mit dem mäandrierenden Fluss, freue mich, dass dieses Tal unversehrt geblieben ist und gehe dann weiter. Mein Freund ist jetzt bereits ein paar hundert Meter vorausgelaufen. Aber wir haben Zeit, eilen muss ich nicht. Und so schaue ich mir den Bergkegel auf der anderen Talseite etwas genauer an. Er hat gegen Süden eine trockene, felsige Flanke und eine Felskante, die den Süden vom Norden trennt. Nördlich der Felskante ist es schattig und dunkelgrün und nass. Hier fliesst Schmelzwasser zur Greina hinab. Es ist Mitte Nachmittag und die Sonne wirft ihre Strahlen schräg auf den Berg. Dieses Licht macht seine Konturen sehr lebendig. Dann höre ich ihn sagen: „Alles ist gut.“

Mit einem Ruck bleibe ich stehen. Was habe ich gerade gehört? Ich schaue hinüber zum Berg und er wiederholt: “Alles ist gut.“ Der Berg spricht. Ich schaue ihn verdattert an. Sehe wie das Wasser in Rinnsalen seine Flanken hinunterfliesst. Alles ist gut? Er stehe schon sehr, sehr lange hier, sagt er. Und werde auch noch sehr, sehr lange hierstehen. „Einfach da sein“, meint er. „Friedlich ruhen in sich selbst.“ Ich merke, wie das Zeitgefühl dieses Berges auf mich übergreift, wie die Jahrmillionen spürbar werden. Die Staumauer, die hier hätte gebaut werden sollen – ein Wimpernschlag in seiner Zeit. Der politische Widerstand, der sich hier manifestierte – schon vorbei. Mein eigenes Leben – einmal einatmen des Berges und einmal ausatmen. Unheimlich die Ruhe und Beständigkeit, die mir der Berg in diesem Moment entgegenbringt! „Vertraue, alles ist gut“, wiederholt er. Aber die ganze Umweltzerstörung in der Welt!? All die Katastrophen, Meeresverschmutzung, Artensterben?! „In meinen Zeiträumen ist das nur ein Zittern an der Oberfläche“, versichert er. „Ich reiche tief bis ins Innere der Erde und gegen oben weit in den Himmel hinein. Deshalb kann ich sagen, in meinem Empfinden ist alles gut so wie es ist.“

Ich stehe immer noch auf diesem Weg, wie angewurzelt, und sehe mich plötzlich von aussen, wie ich mit diesem Berg gegenüber rede. Ich nehme wahr, wie dieser Mann und dieser Berg und dieser Engel aus Stahl eins sind, zutiefst miteinander verbunden. Dass es deshalb gar nicht verwunderlich ist, was dieser Mann tut, nämlich mit einem Berg sprechen. Und dass es ganz natürlich ist, dass dieser Berg mit diesem Mann spricht. Ich nehme das alles wahr und lache. Gleichzeitig höre ich, wie dieser Mann lacht, sehe wie er sich leicht vor dem Berg verneigt, ihm adieu sagt und weitergeht.

Gott ruht im Herzen der Steine, atmet mit den Pflanzen, träumt in den Tieren und erwacht im Menschen. (aus Indien)

Integrale Kommunikation in einem Hörsaal

Integrale Kommunikation in einem Hörsaal

Ich gebe seit über zwanzig Jahren eine Vorlesung an einer der besten Hochschulen der Welt. Nur dass ich sie nicht gebe, sondern sie empfange und es auch keine Vorlesung ist, sondern ein Experiment und eine Erfahrung, wie Kommunikation zwischen Menschen gelingen kann. Das läuft folgendermassen ab:

Zu Anfang fordere ich die Studierenden auf, sich ihre Ohren zu massieren. Für Leute, die zu spät kommen und dieses Ritual noch nicht kennen, wirkt das einigermassen skurril. Sie platzen dann in eine «Vorlesung» und sehen als erstes zwei bis drei Dutzend Kommilitonen, die sich die Ohren kneten, inklusive eines Dozenten, der mit derselben Tätigkeit beschäftigt ist.

Dieses Massageritual zögert den Moment hinaus, in dem ich etwas sagen muss. Beziehungsweise es stimmt auf ihn ein. Denn um Einstimmung im wahrsten Sinne des Wortes geht es.

Wenn ich dann den Mund aufmache, weiss ich nicht was rauskommt. Ich folge in diesem Moment meiner Intuition. Ich habe keine bestimmte Absicht. Will nichts Bestimmtes lehren, sondern stehe einfach mit meinem Wissen und meiner Erfahrung da, um sie zu teilen. Was geteilt wird, wie es geteilt und wie es mitgeteilt wird überlasse ich dem Augenblick.

„Kommunikation stammt aus dem Lateinischen communicareund bedeutet teilen, mitteilen, teilhaben lassen, gemeinsam machen, vereinigen.“ (wikipedia). Normalerweise geht das Mitteilen von einem Sender aus und trifft den Empfänger. Der Sender verfolgt dabei ein Ziel, will eine Botschaft rüberbringen. Normalerweise scheitert dieses Unterfangen, zumindest ist das meine Überzeugung nach vierzig Jahren professioneller Kommunikationsarbeit. Der Grund für dieses Scheitern liegt kurz gesagt darin, dass auf diese Weise nichts wirklich geteilt wird. Es wird etwas rübergeschoben, so wie man ein Paket über den Tisch schiebt. Das genügt jedoch nicht und bewirkt nichts – mit Ausnahme von simplen Informationspaketen wie «bei der nächsten Kreuzung links abbiegen». Deshalb verfolge ich in meiner Vorlesung, die keine ist, einen anderen Ansatz. Dieser Ansatz ist eine Mischung aus zwei Erfahrungsbereichen, die ich «Flow» und «Resonanz» nenne. Wie sieht das konkret aus? 

Wie ein Freund von mir einmal treffend bemerkte: „Im Fluss sein kann man nur, wenn man den Boden unter den Füssen verliert.“ Bildlich gesprochen steige ich nach der Ohrenmassage nackt in diesen Fluss, stosse mich ab vom Ufer und lasse mich treiben. Und meistens legen meine Zuhörerinnen und Zuhörer nach einiger Zeit ebenfalls ihre schützenden Hüllen ab und gleiten ins Wasser. Dann treiben wir gemeinsam mit der Strömung. Diese Strömung ist der uns umspülende Bewusstseinsstrom. Was dabei auftaucht bestimmen wir gemeinsam, nicht ich allein. Dabei findet spürbar eine Öffnung statt, sowohl bei mir als auch bei einer Mehrheit der Studierenden. Es erscheinen dabei zum Teil sehr persönliche Erfahrungen; aber indem sie auftauchen verlieren sie ein Stück weit ihre Intimität und fliessen einfach ein, in das Miteinander-Reden und sich Einander-Zeigen.

Nach 15 Jahren Schulzeit, das heisst nach 15 Jahren Erdulden dieses epischen Wissenstransfers wirkt das Eintauchen in den Bewusstseinsstrom ungemein entspannend. Es ist die Erfahrung, dass wir als Menscheneinander etwas zu sagen haben, unabhängig von unserem Wissen. Etwas kommt dabei in Schwingung und diese Schwingung nehmen wir wahr. An uns selbst und an den anderen. Wenn das passiert entsteht ein Klang, wie derjenige eines Orchesters. Und wie bei einem Orchester muss weder das Piano noch die Trompete recht haben, sondern alle Instrumente geben ihres, um einen runden, schwingenden Klangkörper zu schaffen. So läuft das auch in dieser Vorlesung. Die Studenten und ich machen die Erfahrung, dass wir miteinander kommunizieren können und dass dadurch etwas in Bewegung kommt. Das ist ganz grundlegend, aber für viele, die hier im Hörsaal sitzen, ist es das erste Mal, dass sie ein solches Kommunikationserlebnis haben.

Es ist eine schlichte Erfahrung, die wir da machen. Eine aussergewöhnliche Erfahrung an einer Hochschule, aber eine wertvolle. Und sie mündet in die schlichte Erkenntnis, dass wir als Menschen einander etwas zu sagen haben. Dass wir füreinander bedeutungsvoll sind. Erst jetzt, wenn wir uns in diesem Bewusstseinsstrom treiben lassen, kann ich mein Wissen und meine Erfahrungen teilen. Erst jetzt bekommen sie eine Bedeutung und nur wenn sie eine Bedeutung haben, können sie wirken.

Ich wollte als Junge immer Dirigent werden. Aber damals habe ich mir das als machtvolle Position vorgestellt. Und so ist es nicht. Wenn die Musik erst einmal spielt, ist es einfach ein Entspannen, in dem was da an Schwingungen und Tönen auftaucht. Und es so geniessen und sein lassen, stimmig wie es ist.

Der Vorlesungstitel heisst «Integrale Umweltkommunikation». Die Vorlesung, die keine ist, findet jeweils im Herbstsemester an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich statt.