Ich kann lieben, aber ich muss nicht

Ich kann lieben, aber ich muss nicht

«Ich kann lieben, aber ich muss nicht.» Dieser Satz stammt vom Geigenbauer und Philosophen Martin Schleske. Der Satz hat mich zunächst in seiner Einfachheit und Kraft verblüfft. Er besagt, dass ich als Mensch eine ungeheure Macht habe: Ich kann wählen, ob ich Gott, das Leben und die Liebe auflaufen lasse, wie Schleske es ausdrückt. Schleske behauptet, dass ich eine Wahl habe, immer. Ich kann die Liebe annehmen, wenn sie mir zufällt, oder mich gegen sie entscheiden. Das Leben hat das so eingerichtet. Deshalb meint der Geigenbauer, dass Jesus nicht nur am Menschen zerbrochen ist, er ist auch an Gott und dem Leben zerbrochen, weil uns das Leben eben diese Wahl lässt. Wir können unserer Bestimmung folgen, und das bedeutet in der christlichen Tradition unserem liebenden Herzen zu folgen, oder wir können es sein lassen. Zu Zeiten von Jesus, haben es viele sein gelassen, deshalb wurde er von Menschen wie du und ich ans Kreuz genagelt.

Aber stimmt der Satz wirklich oder ist er einfach nur eingängig?

Der erste Teil des Satzes heisst: «Ich kann lieben …» Kann ich das wirklich immer? 

Meine Erfahrung sagt mir: nein, oft kann ich gerade nicht. Weil ich zu beschäftigt bin. Weil ich die Verbindung zu meinem Herzen verloren habe. Weil ich verletzt oder gedemütigt wurde und ich einen Schutzwall um mich herum gebaut habe. 

Lieben-können ist für mich und viele Menschen nicht selbstverständlich und will gelernt und geübt sein. Gerade wir, hier in westlichen Gesellschaften, lernen jedoch nicht viel darüber, wie man sein Herz für die Liebe öffnen und offenhalten kann. Ohne ein offenes Herz, gibt es jedoch kein Lieben-können. Erst wenn mein Herz offen ist, bin ich präsent und berührbar. Wenn ich präsent bin, dann bin ich im Hier und Jetzt. Dann bin ich zutiefst in Berührung mit dem Leben, mit mir selbst, mit meinen Mitmenschen – eben nicht mehr getrennt, sondern eins. Erst mit offenem Herzen werde ich zum Liebenden.

Der*die Liebende

Eine nächste Frage ist: Kann ich etwas tun, damit ich in die Liebe komme?

Ich erlebe Liebe als etwas, das mir zufällt. Ich kann es nicht machen. Liebe erfasst mich oder eben auch nicht. Sie ist ein Geschenk. Ein Geschenk Gottes oder ein Geschenk des Lebens. Wenn sie mir geschenkt wird, dann gehe ich als Liebender auf wie die Sonne am Morgen. Ich bin dann erfüllt von dieser wunderbaren Energie. Ich nehme plötzlich Dinge wahr, die ich vorher nicht gesehen habe. Ich sehe das Wunder im Menschen, den ich liebe. Ich sehe auch das Wunder in der Natur und im Kosmos.

Meist entspringen Gefühle der Liebe aufgrund einer Verbindung zu einem anderen Menschen. Und meist entsteht daraus dann eine romantische Beziehung mit Liebe und Gegenliebe.

In der christlichen Mystik gibt es aber nicht nur diese personale Liebe. Viele Mystikerinnen und Mystiker aus der christlichen Tradition bezeichnen die Liebe als Urgrund des Seins. Sie meinen damit eine transpersonale, universelle Liebe, Gottesliebe, Agape. Wer diesen Urgrund unter seinen Füssen wirklich zu spüren bekommt, oder ihn gar nie verloren hat, ist nahe beim Sein, beim lebendig sein, beim Leben. Dort ist Geborgenheit, dort ist grenzenloses Vertrauen in Gott oder ins Leben. Auch diese Liebe fällt einem zu; allerdings nicht einfach so, sondern oft erst in Phasen existenzieller Not, in ganz grossen Lebenskrisen, ausweglosen Situationen, in denen man*frau über seine eigenen Grenzen hinauswachsen muss. Das sind dann Momente, in denen einem die universelle Liebe vor die Füsse fallen kann.  Als «Gnade» bezeichnet das die christliche Mystik. Und in dieser Gnade lässt sich leicht erkennen, dass das Leben Liebe im Überfluss hat. Liebe ist für das Leben keine Mangelware. Sie ist omnipräsent. Diese Erfahrung ist oft so heftig und zutiefst erschütternd, dass sie sich nicht mehr anzweifeln lässt. Wer einmal an diesem Punkt war, kann nicht mehr hinter diese Erfahrung zurück.

Zu unterscheiden davon ist, was im (Zen)-Buddhismus als Mitgefühl bezeichnet wird. Mit der oben beschriebenen Liebe hat das nichts zu tun. Mitgefühl ist eine Haltung. Etwas das eingeübt werden kann – eine wunderschöne Haltung übrigens. Wer Mitgefühl empfängt, fühlt sich respektiert. Mitgefühl kann man*frau erlernen, während man*frau die Liebe nur erfahren kann. 

Die*der Geliebte

Auf der anderen Seite des Liebenden steht der*die Geliebte. Sich lieben zu lassen, geliebt zu werden scheint zunächst einfach. Erst in den letzten Jahren habe ich gelernt, dass dieser Teil der Verbindung genauso anspruchsvoll ist, wenn nicht sogar herausfordernder. 

Ich rede hier nicht von der romantischen Beziehung, sondern von bedingungsloser Liebe ohne Gegenliebe.

Sich bedingungslos geliebt zu fühlen, ohne die Liebe erwidern zu können, ist oft schwer zu ertragen. Es versetzt uns in einen sehr ursprünglichen Zustand des Kindseins – wir sind aber keine Kinder mehr. Kinder fühlen sich von ihren Eltern geliebt, das ist der natürliche Zustand ihrer ersten Lebensjahre, sowohl vor wie auch nach der Geburt. Wer sich als Kind geliebt fühlt, entwickelt Vertrauen. Das Kind muss ja nichts leisten, damit es geliebt wird. Die Liebe, die ihm seine Eltern schenken, ist bedingungslos. Wenn dieses Vertrauen entsteht und kräftig ist, dann trägt es das Kind und danach den jungen und erwachsenen Menschen im besten Fall ein Leben lang. Aber wir alle wissen, dass dies nicht die Regel ist. Viele von uns verlieren im Laufe ihres Lebens dieses Vertrauen. Und nicht wenige haben es gar nie gekannt. Wie gehen wir in diesem Fall, jetzt da wir Erwachsene sind, mit dem Geliebt-werden um? Können wir uns lieben lassen, selbst wenn wir denjenigen oder diejenige, der*die uns liebt, nicht zurücklieben? Was passiert mit einem erwachsenen Menschen, wenn er geliebt wird, ohne dafür etwas zu leisten?  

Meistens geraten diejenigen, die so geliebt-werden zunächst in eine Enge. Sie meinen, dass der Liebende Erwartungen an sie hat, die sie nicht erfüllen können oder wollen. Dass da jemand bedingungslos liebt, kommt ihnen verdächtig vor. Liebe war doch bisher immer ein Tauschhandel, das soll jetzt plötzlich nicht mehr gelten?

Sie fürchten auch um ihre Freiheit. Verbindungen schaffen Abhängigkeiten – zumindest waren das ihre bisherigen Erfahrungen. Und niemand will abhängig sein. Was also tun?

Meine Erfahrung ist, dass bedingungslose Liebe die Herzen öffnet – nicht sofort, die oben beschriebenen Widerstände sind real und kommen fast immer vor, aber mit der Zeit, mit den Monaten und Jahren bauen sich diese Widerstände beim geliebten Menschen ab. Zuerst werden die Mauern, die sein Herz umschliessen, weicher, dann nach und nach fallen sie in sich zusammen und er öffnet sein Herz, lässt sich berühren, verliert die Angst und nimmt diese bedingungslose Liebe an. Das ist kein harmonischer Prozess und er gelingt auch nicht immer. Beide, Liebender und Geliebte, brauchen Geduld, beide müssen dranbleiben am anderen. Es gibt Rückschläge und Verletzungen, Missverständnisse und Verstimmungen, Phasen der Distanz und Zeiten des einander Nahe-seins.

Aber schliesslich werden sie es zulassen geliebt zu sein, ohne in sich einen Druck auf Gegenleistung zu spüren, dann öffnet sich ihr Herz, so wie das Herz eines Kindes offen ist. Dann sind sie bereit für eine Liebe, die bedingungslos ist und ihnen ebenfalls zufällt wie ein Geschenk.

In dem Augenblick, in dem sie erkennen, dass sie bedingungslos geliebt werden und das zulassen – in diesem Augenblick sind sie im Mysterium der universellen Liebe angekommen. Das ist dann auch eine Art «Gnade». Martin Schleske beschreibt das treffend: «Nur wer sich lieben lässt, kann im eigentlichen Sinn Mensch werden und kann seinen Weg in dieser Welt bewahren.»

Jung und Alt

Und noch ein Gedanke zum Schluss.

Viele Verbindungen zwischen Enkeln und Grosseltern gründen auf diesem Gefühl des bedingungslos Geliebt-werdens; auch weil viel weniger Erziehungsgeschichte solche Verbindungen zwischen Grosseltern und Enkeln belasten. 

Vielleicht ist es das, was die ältere Generation den Jungen heute bieten kann. Und vielleicht gibt es nichts Wertvolleres, was wir ihnen schenken können, als sie bedingungslos zu lieben. Dann können sie sich so zeigen, wie sie wirklich sind. Sie müssen nicht mehr gefallen und leisten, nicht mehr irgendwelchen Massstäben entsprechen oder Regeln gehorchen. Sie können sich in ihrer vollen Grösse entfalten, im Vertrauen darauf, dass sie geliebt sind. 

Die Mauern, die die Enkel auf dem Weg zum Erwachsen-sein aufgebaut haben, werden dann aufgeweicht. Bis sie weich genug sind, dauert es meist eine Weile. Aber je länger wir Älteren diese jungen Menschen im Geliebt-sein halten können, umso mehr vertrauen sie. Auf diese Weise können tief befriedende Freundschaften über Generationen hinweg entstehen. 

Seit 1837

Seit 1837

Ich habe mir heute morgen Tee zubereitet und musste schmunzeln: «Seit 1837», stand auf der Verpackung. Ganz schön alt dieser Tee, dachte ich, altehrwürdig. 186 Jahre haben die durchgehalten. Aber was sind schon 186 Jahre?

Dazu kam mir ein Satz des Astrophysikers Brian Swimme in den Sinn; er sagte, dass in jedem Krümmen unseres Zeigefingers vier Milliarden Jahre Entwicklungsgeschichte liegen. Das sind Zeiträume! 4 Milliarden Jahre hat es gedauert, bis es möglich wurde ein Lebewesen zu schaffen, das eine volle Teetasse zum Mund führen kann!! Wer einmal an sich selbst beobachtet, wie kompliziert diese simple Bewegung ist; wie präzise tausende Muskelfasern zusammenspielen; wie genau die Rückmeldungen unseres Tastsinns ablaufen, damit der Teetassenrand exakt den Lippenrand berührt, der staunt.

Schliessen Sie doch bei der nächsten Tasse einmal die Augen und beobachten Sie sich. Es ist faszinierend! Und wir machen das und noch viel komplexere Abläufe jeden Tag völlig automatisch, völlig unbewusst. Doch sobald das in unser Bewusstsein dringt, erleben wir, welch ein Wunder da eigentlich alltäglich geschieht. «Seit 4 Milliarden Jahren» müsste eigentlich auf unserer Stirn tätowiert sein. In unseren Knochen steckt Sternenstaub aus dem das Leben so etwas unglaublich Faszinierendes wie uns selbst geformt hat. Wenn es uns gelingt, dieses Faszinierende auch nur für ein paar Augenblicke wahrzunehmen, zum Beispiel am Morgen beim Teetrinken, dann wächst das Vertrauen ins Leben.

(Bildautor: Nicola Bossard; Getrocknete Teeblätter im Dachstock des Kloster Gerlisberg)

Schneewunder

Schneewunder

Luzern, erster richtiger Wintertag, frühmorgens, -3 Grad Celsius: Ja, auch auf meinem Balkongeländer wurde Schnee aufgebiegen. Das Geländer ist drei Zentimeter breit. Der Schnee darauf liegt 15 Zentimeter hoch. Wie ist das möglich!? 

Flocke für Flocke hat sich unendlich leicht da niedergelassen. Jede einzelne Flocke verzahnte sich mit all den Flocken um sie herum. Sie sind niedergeschwebt, sicher hunderttausend von ihnen, um auf diesem schmalen Stück Geländer dieses Schneemäuerchen zu bauen. Wer könnte das so tun? Wer hätte diese Geduld? Diese Leichtigkeit?

Keiner von uns Menschen jedenfalls. Da hat ein*e grösser*er Baumeister*in gewirkt. Aber ich sehe ihn/sie nicht. Ich nehme keine Spuren von Tritten wahr. Ich lausche in die Schneewelt hinaus und höre nur die Stille.

Und werde dabei selber still. Und verspüre die Bewunderung mit meinem Herzen, das ruhig wird. Ich entspanne mich, es gibt nichts zu tun, ausser es geschehen zu lassen, dieses Wunder. Da ist etwas am Werk, das viel, viel grösser ist als ich. Diese schiere Grösse könnte Angst einflössen, tut sie aber nicht, im Gegenteil, sie schafft Vertrauen. Wenn der Himmel es fertigbringt innert Stunden ein solches weisses Mäuerchen zu schöpfen, was muss ich mir dann noch Sorgen machen?

Also lasse ich die Sorgen alle los und spüre der Freude nach, die dieser Schnee mir bringt. In dieser Freude liegt die Dankbarkeit, dass alles gut ist, so wie es ist. Und dass alles miteinander verbunden ist, jede Flocke mit der andern, die Schneedecke mit dem Boden und dem Himmel, ich mit dieser grossen, weissen Schneelandschaft und mit mir.

Alles ist gut. Wirklich? Ist es das?

Alles ist gut. Wirklich? Ist es das?

Alles fliesst, hier wild, grün und kalt. Es ist minus 16 Grad und sie stehen knietief im Schnee am Ufer des Flusses. Die Sonne geht unter hinter den hohen Bergen, aber noch nicht ganz. Es bleiben ein paar Minuten und er nutzt sie. Eingepackt in seine grüne Winterjacke, bunter Schal um den Hals, kniet Näc am Flussufer und versucht die letzten Bilder dieses Tages zu schiessen. So wie er das schon tausend Mal gemacht hat. Er hat seine Stimme erhoben hinter Mikrofonen und Megaphonen, vor und hinter Kameras. Er ist an vorderster Front bei Demos mitgegangen, hat Kohlegruben besetzt. Und er hat eben auch Bilder gemacht, weil Näc eine Gabe hat, die nur wenigen eigen ist: er kann mit dem Herzen sehen. So jung er ist, so viel hat er bereits gekämpft. Gegen die Erderwärmung, für Gerechtigkeit und Fairness und gegen Ausgrenzung. 

Wenn er hier am Fluss in die letzten Sonnenstrahlen blinzelt und vollkommen versenkt ist in seine Arbeit, tut das seinem Herzen gut. Dieses Herz kennt auch die dunklen Seiten. Es hat das Elend in den Flüchtlingslagern auf Lesbos gesehen und der Verzweiflung direkt in die Augen geschaut. Es weiss, dass überall gelogen und betrogen wird. Es weiss, wie sich Misshandlung, Schmerzen und Verlassenheit anfühlen; was es heisst, ausgestossen zu sein, gemobbt zu werden. Und es weiss, wie dunkel es im Herzen werden kann, so einsam, so dumpf, dass nur noch Tränen helfen, um das Unabwendbare wegzuschwemmen. Dieses sein Herz hat gelernt, wie es sich anfühlt, wenn die Tränen ins Nichts fliessen. Und es hat eben auch erfahren, wie warm es werden kann, wenn diese Tränen eine andere Wange berühren.

Näc gehört zur neuen Generation von jungen Menschen, die auf ihren Schultern Gewichte tragen, die keiner allein tragen kann. Klimawandel. Das Aussterben von Arten. Flüchtlingsströme. Die Ungerechtigkeit des Welthandels. Diese junge Generation ist bestens ausgebildet. Sie sehen all die Probleme klar und deutlich und viele von ihnen werden davon überwältigt. Das Leben wirft ihnen so grosse Brocken vor die Füsse, dass es weh tut. Und dann melden sie sich zurecht lautstark bei ihren Elterngeneration und sagen: «Wenn ihr uns schon solche Brocken hinterlässt, dann gebt uns wenigstens die Kraft und die Mittel, damit wir sie bearbeiten können!»

Aber heute Abend am Fluss läuft noch etwas anderes. Näc ist nicht allein hier. Neben ihm steht ein alter, weisser Mann und blinzelt in dieselben letzten Sonnenstrahlen. Ja er ist alt und weiss, was heute bei vielen bereits als Schande gilt.  Wie viel er selbst zu dieser Welt voller Unrecht beigetragen hat, ist ihm nur allzu bewusst. Zwar hat er ein Leben lang nach dem Wahren und Guten gesucht und ist damals in den gleichen Kampf gezogen wie Näc heute. Aber auf diesem langen Lebensweg hat er sich auch mit den Mächtigen, den Reichen, den Betrügern und Steuerhinterziehern ins Bett gelegt. Er hat Leuten geschmeichelt, die er heute lieber nicht mehr kennen würde. Er hat damit recht viel Geld verdient und trotz all den sozialen und ökologischen Engagements, die er angestossen und unterstützt hat, hat er nie grundsätzlich in Frage gestellt, was viel grundsätzlicher hätte in Frage gestellt werden müssen.

Heute Abend stehen Näc und er am selben Fluss. Sie kennen einander. Sie sind Freunde geworden, über den Altersunterschied von vier Jahrzehnten hinweg. Sie vertrauen einander. Sie lernen voneinander. Braunes Haar und weisses Haar. Lockenkopf und Glatzkopf. Bunte Socken und schwarze Socken. Viel Lebenserfahrung und noch mehr Lebenserfahrung.

Es hat schon einige solch gemeinsamer Tage am Fluss gegeben in den vergangenen Monaten. Und da vor allem Näc hier mit seiner Kamera aktiv war, konnte der ältere sich jeweils entspannen. Ein ungewöhnlicher Zustand für ihn – er war ein Leben lang immer in der Verantwortung gestanden, sowohl als Vater als auch als Unternehmer. Hatte sich immer eingemischt, hatte immer versucht den Lauf der Dinge zum Guten und Besseren zu wenden. Er war zwar kein Kontrollfreak, aber die Kontrolle abzugeben, wäre ihm auch nie in den Sinn gekommen. Das hatte sich hier am Fluss in den letzten Monaten geändert. Der Junge machte hier die Arbeit, viel besser als er es je gekonnt hätte. Näc schoss Bilder und machte kurze Filmchen. Beides konnte er meisterlich. Und er schaute einfach zu. Zwar beklagte sich sein junger Freund immer wieder über die fehlenden Drehbücher. Aber der Alte wusste, dass gerade dieses Spontane, Unmittelbare den Wert dieser Bilder und Videos ausmachte und deshalb war er ein bisschen stolz darauf, dass er beharrlich nichts vorgab, sondern Näc’s Intuition vertraute und ihn einfach einfangen liess, was auftauchte entlang des Flusses. So auch an diesem Abend, an dem er sich einmal mehr entspannt und frei fühlte und einfach schauen konnte, ohne irgendetwas tun zu müssen. Und dann passiert es:

Er steht mit beiden Füssen fest und sicher in einem Schneefeld neben dem Fluss. Dann bemerkt er, wie alles ins Fliessen kommt. Das Wasser fliesst, von hier bis in die Donau und dann ins Schwarze Meer – alles ist miteinander verbunden, denkt er. Und plötzlich kommen auch die Strahlen der Sonne ins Fliessen, sind nicht mehr wie scharfe, gerade Strahlen, sondern wie Wellen, die sich über diese Landschaft und ihn ergiessen. Auch der Himmel beginnt aus dem Oben ins Unten zu fliessen, die Luft strömt in den Fluss. Und auch der Schnee ist plötzlich nicht mehr so fest, sondern wird weich und wellig und schliesst sich dem Strom an, der an ihm vorbeizieht. 

Als nächstes löst sich sein Körper auf und kommt ebenfalls ins Fliessen. Die Grenzen zwischen Körper und Schneewelt werden durchlässig. Was noch vor einem Augenblick er selbst war verschwindet und fliesst mit. Alles ist nur noch Strom. Alles fliesst jetzt.

Und plötzlich wird ihm glasklar, dass alles zusammenhängt. Und plötzlich ist klar, wie alles zusammenhängt, wie das alles miteinander verbunden ist. Er staunt:  Das Eine, das alles verbindet ist Liebe. Das spürt er klar und deutlich. Liebe, die in unendlicher Kraft alles verbindet und es weiterfliessen lässt. Diese Liebe steckt in jeder Welle, in jedem Strahl, in jeder Zelle. Für den alten, weissen Mann ist das in diesem Moment vollkommen einleuchtend und unzweifelhaft. Es ist Liebe, die alles lenkt und es zugleich in vollkommener Freiheit lässt.

Diese Liebe hat eine so grosse Wucht, dass es ihm den Atem verschlägt. Er wankt einen Moment. Dass er wankt, spürt er nicht. Er spürt sich überhaupt nicht mehr. Er ist als Ego im Fliessen verschwunden. Aber es ist völlig unzweifelhaft, dass diese Liebe unendlich mächtig und kraftvoll ist. Stärker als tausend Sonnen. Millionen Mal grösser als alles was der Mensch je geschaffen hat. Unfassbar kreativ und fantasievoll in jedem Augenblick. Sie hält die ganze Welt am Laufen, sie steuert alle Entwicklungen, sie hält auch den Kosmos und das alles geschieht ohne Mühe, ohne die geringste Anstrengung, spielerisch als wäre es ein Leichtes. All das sickert durch ihn hindurch, innert Sekunden, oder sind es Stunden oder Ewigkeiten – unerheblich. 

Nach einer Weile taucht er wieder aus diesem Strom auf. Die Sonne ist hinter dem Berg verschwunden. Näc ist aufgestanden und hat die Kamera wieder umgehängt. «Alles in Ordnung?», fragt er. «Ja, alles ist gut», erwidert der ältere etwas benommen. Sie stapfen durch den Schnee auf die Dammkrone. Still gehen sie nebeneinander her. Der Jüngere hat immer noch seine Bilder vor Augen und überlegt, wie er sie zusammenschneiden soll. Der Ältere ist sprachlos und möchte gleichzeitig irgendwie Worte finden für das, was er eben erlebt hat.

Er schaut Näc von der Seite an, diesen jungen Mann, der sein ganzes Leben noch vor sich hat. Ein Satz aus einem Meditationsratgeber kommt ihm in den Sinn: «The problem is not the future of humanity, but the presence of eternity.» In diesem Moment, auf diesem Damm in eisiger Nacht, sieht er wie das gemeint ist: Näc als die Zukunft der Menschheit und er mit dieser Ahnung von Ewigkeit auf der Zunge. Aber was hilft das? Lässt sich damit der Klimawandel bekämpfen? Oder das Artensterben stoppen? Werden so Flüchtlingsströme versiegen? Oder erwächst zumindest Hoffnung aus dieser Erfahrung?

Wenn er jetzt zu seinem jungen Freund sagen würde, was er im Moment zutiefst als richtig empfindet, nämlich: «Alles ist gut. Alles ist an seinem Platz. Jede Sorge ist ein Akt der Überheblichkeit. Das Leben hat immer recht, seit ein paar Milliarden Jahren schon. Und alles wird von Liebe zusammengehalten.» Dann würde er einen ungläubigen Blick ernten. 

Trotzdem sagt er es, aus heiterem Nachthimmel. Und er erntet genau diesen ungläubigen Blick, den er erwartet hat. «Wirklich jetzt? Ist das so?», fragt Näc. Und wenn in diesem Nachfragen nicht ein klein wenig Zuneigung durchgeschienen wäre, dann hätte er wohl geantwortet: «Ach vergiss es.» Aber dieses schwache Leuchten hinter der Frage war da, oder zumindest bildete er sich das ein; auf jeden Fall antwortete er: «Ja, das ist so.»

«Alles ist gut? Der Klimawandel ist gut? Dass Kinder immer noch verhungern überall in der Welt ist gut? Dass Menschen im Gefängnis landen, bloss weil sie die Wahrheit sagen, ist gut? Meinst du das im Ernst?»

Jetzt blieb der Alte stehen. «Schau, ich habe ja selber viel gelitten in meinem Leben, fühlte mich über weite Strecken mutterseelenallein. Sah Menschen sterben, die ich geliebt habe, viel zu früh, viel zu brutal. Wurde verlassen von meinen Liebsten, wieder und wieder. Habe selber Fehler gemacht und war weit weg davon, alles gut zu finden. Und all die Probleme, die ich und meine Generation aufgetürmt haben, sind weit jenseits von gut.»

«Also?», und in Näc’s Stimme lag wieder etwas, das ihn weiterreden liess.

«All das hier, du und ich, der Fluss, der Himmel, der Schnee, die Sonne, die waren ja nicht einfach da. Sie haben sich entwickelt. Aus Sternenstaub sind unsere Hände geworden und das hat Milliarden von Jahren gedauert. Aber so eine Hand ist ein einziges grosses Wunder, das wir einfach nicht mehr sehen, weil es für uns selbstverständlich geworden ist. Ein Wunder bleibt es trotzdem. Als ich vorher am Fluss stand, habe ich plötzlich dieses ganz grosse Wunder, das sich «Leben auf der Erde» nennt, gesehen. Und ich sehe es auch jetzt noch. Ich sehe es auf deinem Gesicht, ich sehe es, wenn ich in den Himmel schaue und die Sterne dort oben betrachte und mir klar wird, wie perfekt das alles organisiert ist. Wir drehen uns seit Milliarden von Jahren um unsere eigene Achse und sind eingewoben in diesen fantastischen Kosmos mit seinen Milliarden von Sonnen. Das ist nicht nur gut, das ist absolut perfekt und liebevoll bis ins kleinste Detail. Ich bin mehr als sechzig Jahre alt geworden, bevor ich das so sehen konnte. Vorhin am Ufer, neben dir, habe ich es gesehen. Ich kann daran nicht mehr zweifeln. Das Bild, das sich mir gezeigt hat, war zu klar.»

«Hmm», summte Näc und selbst in diesem «hmm» lag mehr Verständnis als er es je erwartet hätte. «Wenn es uns gelingt, diese Erde nicht nur mit dem Kopf zu verstehen, sondern – auch wenn es nur ein bisschen ist – sie mit dem Herzen zu lieben, dann ist schon viel gewonnen, denn die Erde liebt uns auch. Sie ist freundlich, warum wir eigentlich nicht?», fuhr er fort.

Sie gingen weiter Richtung Parkplatz. Keiner redete. Beide waren in Gedanken versunken. Der Alte fühlte sich dankbar und erfüllt. « Vielleicht erlebe ich so etwas nie wieder», dachte er sich. Es kam ihm vor wie ein Geschenk, eine Gabe, eine Gnade die er erhalten hatte. Er konnte nichts dafür und er wusste, dass er auch nichts tun konnte, um solch ein Geschenk nochmals zu bekommen. Dieses eine Mal musste genügen und es genügte auch. 

Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Wir wollten auf Muottas Muragl, das ist ein 2400 Meter hoher Berg im Engadin, übernachten. Das Wetter war den ganzen Tag über trüb gewesen. Und es war saukalt, fast – 20 Grad Celsius. Wir sassen im Speisesaal des Hotels am Fenster und blickten auf die Engadiner Seen hinunter. Ausser weissen schnee- und eisbedeckten Flächen war da allerdings nicht viel zu sehen. Der Wein ging langsam zur Neige. Eigentlich hatten wir vorgehabt noch einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen, aber das da draussen war wenig einladend. Also aufs Zimmer? Wir blickten nochmals durch die grossen Fenster hinaus auf die Bergwelt. Da zeigte sich plötzlich ein kleiner schwacher gelber Streifen am Himmel. Mickrig aber stark genug, um uns rauszulocken, nur kurz, ohne Jacken und Mützen, für eine kurze Runde.

Als wir draussen ankamen war der Streifen ein klein bisschen gewachsen. Wir gingen ein paar Schritte, hundert Meter vielleicht, bis wir auf eine Fotografin trafen. Sie hatte ihr Stativ aufgestellt und wartete. Wir blickten in die Richtung ihres Objektivs: Der gelbe Streifen war deutlich gelber geworden und auch breiter. Also gingen wir nochmals 50 Meter weiter, um in die andere Talseite zu schauen. Dort war nichts zu sehen, alles grau in grau. Aber als wir uns umdrehten war der Streifen zu einer gelb, hell orangen Fläche über den weissen Gipfeln angeschwollen. Und mit jedem Schritt, den wir machten, schüttete der Himmel weiter Farbe ins Firmament. Als wir wieder bei der Fotografin ankamen war sie bereits am Bilder machen.

Wir nahmen unsere Kamera beziehungsweise das Handy ebenfalls zur Hand und taten es ihr nach. Der Himmel pumpte weiter Farbe. Und jetzt holte er auch den grossen Pinsel heraus und strich die Wolkenbalken. Hinter uns übergoss er die weissen Gipfel mit Orange und Rosa. Dann begann er richtig zuzulangen. Die Wolken wurden jetzt tief orange. Zwischendrin leuchteten türkisfarbene Himmelsfetzen aus dem All. Und jetzt begann er auch mit Rot um sich zu werfen. 

Wir schlotterten schon die ganze Zeit. Und um das zu ändern rannten wir wie junge Hunde über den Schnee Richtung Hotel. Dort auf der Terrasse fotografierten und staunten und bewunderten wir weiter. Der Himmel kannte nun kein Halten mehr. Purpur erschien. Orange wurde noch oranger. Wir konnten die Farben nicht mehr nur sehen, sie flossen so stark über, dass wir sie auch fliessen hören konnten. Es war alles symphonisch. Es gab keine Grenzen mehr. Alles zerfloss ineinander und zueinander in einem überwältigenden Farbenrausch. Wir wurden trunken. Auch wir zerflossen. Überall war Farbe. Orange auf unseren Gesichtern. Gelb und Rot auf unseren Händen. Ich lachte und weinte abwechslungsweise. Ich spürte wie es kein Entrinnen vor der Erkenntnis gab, dass hier für uns ein Wunder an Farbenfülle und Lebenslust inszeniert wurde, in das wir eingetaucht waren, ohne zu wissen wie uns geschah. Wir waren einfach mitgenommen worden in dieses grosse Gestalten. Es war ein einziges, riesiges Fest von Farben über den weissen Gipfeln der Engadiner Berge. Ein Fest fürs Leben.Und irgendwann war es vorbei. Wir waren äusserlich halb erfroren, aber innerlich so heiss vor Freude und Glück, dass die kalten Nasen, Finger und Zehen nichts ausmachten.

24.2.22

Wunder suchen, Wunder finden

Wunder suchen, Wunder finden

Weshalb ist Jesus publikumswirksam über das Wasser spaziert? 
Immer fragen, wem so etwas nützt. 
Die katholische Kirche brauchte ein paar gute Verkaufsargumente für die Kirchensteuer und verfügte über eine gute Marketingabteilung.

Weshalb also brauchen wir Wunder? 
Um uns in unserem Glauben zu bestärken, dass es noch etwas Grösseres gibt. Aber jede Kohlmeise ist ein Wunder. 
Auch ganz ohne Glauben sieht man/frau, wie das Wunder tagtäglich sich um einen herum abspielt. Weil das Wunder das Selbstverständlichste der Welt ist.

Wenn man an Wunder glaubt, ist man anfällig für Heilslehren. 
Jede Lehre fokussiert und das heisst: schliesst aus. 
Jede Heilslehre sagt so und so muss es gehen, das und jenes musst du tun, anderes musst du lassen, das ist richtig, jenes ist falsch und bitte zahl deine Abobeiträge. 

Im besten Fall sind die Heilslehren so gut, dass sie dich anleiten, das Wunder jeden Tag und immer zu sehen.
Aber wie die Geschichten der vielen geköpften Heiligen beweisen, ist das nicht immer das Ziel von Heilslehren.

Wenn man das Wunder sieht, ist man plötzlich frei, auch vom Glauben.

19/21

Ein «Segantini-Tag»

Ein «Segantini-Tag»

F: Was ist ein «Segantini-Tag»?

R: An einem «Segantini-Tag», erlebe ich das Engadin so, wie Segantini es gemalt hat. «Diese Berge. Diese Weite. Dieses Licht», sagen wir heute. Er konnte das malen. Und das ist spürbar, wenn man vor seinen Bildern steht.

F: Also muss man ins Segantini-Museum, um das zu erleben?

R: Segantini konnte die Engadiner Landschaft so malen, dass Herz und Seele erzittern. So begreife ich seine Bilder. Aber um dies zu begreifen, musste ich zuerst draussen erfahren, was die reale Landschaft mit mir macht.

F: Und wie sieht diese Erfahrung aus?

R: Sie besteht aus purer Begeisterung und purer Freude. Die Berge sind ja immer da. Die Weite auch, nur das Licht hat nicht immer die gleiche Qualität. Aber an «Segantini-Tagen» leuchtet es sozusagen aus dem Innern der Landschaft. Und das ist wunderbar.

F: Aber geschieht das nicht immer, wenn hier im Engadin die Sonne scheint?

R: Eigentlich schon, aber wir sind nicht immer bereit, dieses Leuchten so zu sehen. Im normalen Alltag schauen wir von aussen auf die Lärchen oder auf den grünen Inn, der von der Sonne beleuchtet wird. An «Segantini-Tagen» kehren wir diese Perspektive um und schauen von innen.

F: Das ist mir zu abstrakt. Wie soll ich mir das vorstellen?

R: Ganz konkret: Am letzten Freitag lag zum ersten Mal im Jahr Schnee hier. Der Himmel war wolkenlos. Die Lärchen noch gelb aber schneebedeckt. Eiskristalle von gefrorenem Nebel an allen Ästen – eine magische Stimmung. Ich bin am revitalisierten Inn bei Bever entlang spaziert und konnte mich kaum sattsehen. Und so erging es allen. Ich habe noch nie so viele Leute gesehen, die immer und immer wieder nach ein paar Schritten stehen blieben und fotografiert haben. Und alle strahlten und waren glücklich. Ich habe auch noch nie so viele Gespräche geführt. Man konnte gar nicht anders als die Begeisterung und Freude, die alle verspürten, allen andern mitzuteilen. Nicht nur die Lärchen leuchteten, auch die Spaziergängerinnen und Spaziergänger hatten dieses Leuchten auf ihren Gesichtern.

F: Das klingt beeindruckend.

R: Es war überwältigend. Diese Wucht von Schönheit erfasste alle und alles. Und plötzlich war man eben nicht mehr nur Beobachter oder Fotograf, sondern Teil dieser leuchtenden Landschaft, wie die Lärchen, wie der Beverin, der Inn oder der Kirchturm. Alles leuchtete und man leuchtete mit.

F: Also quasi ein Erleuchtungserlebnis (schmunzelt)?

R (lacht): Ich würde das jetzt auch nicht zu hoch hängen wollen. Sagen wir doch einfach: ein «Segantini-Tag». Ich glaube, dass Maler wie Segantini, aber auch Van Gogh, eben nicht nur die Kunst des Malens beherrschten, sondern auch die Gabe hatten, Landschaften von innen zu sehen. Sie verschmolzen sozusagen mit der Landschaft und genau das macht ihre Bilder so berührend. Wir Normalsterblichen besitzen diese Gabe auch, aber sie ist bei uns weniger ausgeprägt. Aber an solchen «Segantini-Tagen» poppt sie auf und das ist dann eine pure Freude.

#gemeindebever (instagram)

Julia Roberts – inexistent

Julia Roberts – inexistent

Sie stehen im Laden an der Kasse. Vor Ihnen legt eine Frau ihre Einkäufe aufs Band. Die Frau heisst Julia Roberts.

Sie kennen Julia Roberts nicht? Ok, dann ist diese Frau einfach eine Frau, die ihre Einkäufe bezahlen möchte.

Sie kennen Julia Roberts? Sie wissen, dass Julia Roberts eine der berühmtesten Schauspielerinnen Hollywoods ist? Ok, dann schauen Sie genauer hin. Ist sie es wirklich? Ja, sie ist es!

Im ersten Fall existiert Julia Roberts für Sie nicht. Sondern es existiert nur die Frau mit den Einkäufen.

Im andern Fall existiert Julia Roberts sehr wohl – für Sie. Ob etwas existiert oder nicht hängt also einzig und allein von Ihrem Wissen ab. Weil Sie Julia Roberts kennen, sehen Sie Julia Roberts. Wer Julia Roberts nicht kennt, kann sie nicht sehen. Genau so funktioniert Bewusstsein. Was nicht im Bewusstsein ist, existiert nicht. So ist es auch mit der Biodiversität.

Wenn Sie nichts von der Lorbeerweide – der schönsten Weide der Schweiz – wissen, dann werden Sie sie auch nicht sehen, selbst wenn dieser Weidenbaum neben dem Parkplatz steht. Wenn Sie den Bluthänfling  (eine Vogelart) nicht kennen, werden Sie ihn auch nicht sehen, selbst wenn er durch Ihren Garten fliegt. All die Tier- und Pflanzenarten, die Sie nicht kennen, existieren für Sie nicht, Sie nehmen sie gar nicht wahr. Sie sind nicht in Ihrem Bewusstsein. Geschätzte 75‘000 Arten gibt es in der Schweiz, 42’000 davon kennt man. Für Sie und für fast alle anderen Menschen in der Schweiz existieren aber 99,999% dieser Arten nicht, obwohl sie den gleichen Lebensraum mit Ihnen teilen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir uns so schwertun mit der Biodiversität.

Nun ist es aber nicht möglich, der ganzen Schweizer Bevölkerung einen Kurs in Artenkenntnis zu verpassen. Die einzige Lösung dieses Problems, die ich sehe, ist, dass wir den Menschen vertrauen, die etwas von Biodiversität verstehen. Genauso wie Sie ihrem Garagisten, ihrem Zahnarzt oder ihrem IT-Spezialisten vertrauen. Diese Biodiversitäts-Fachleute sind wichtig, vielleicht wichtiger als Zahnarzt, Garagist oder IT-Spezialist, weil diese Menschen fundamentale Zusammenhänge unserer Lebensgrundlage verstehen. Wir sollten sie ernster nehmen, als wir das heute tun. Einfach weil unsere Lebensgrundlage wichtiger ist als unser Gebiss, unser Auto oder unser Computer.

Only one

Only one

Ich habe heute Nacht von einem Meditations-Retreat geträumt, in dem ein alter amerikanischer Lehrer zu uns sagte: «When I give you a hand, you give me my hand. When I swim in the ocean. You swim in the ocean. When I live, you live. When I die, you die. There is no I. There is no you. Not two. Only one.» 

Das war so schön, dass ich im Traum weinen musste.

Same-Same, but Different

Same-Same, but Different

Vortrag im IK-Team vom 16.9.2020

Fundamental sind wir auf Gleichheit programmiert:
– Vor dem Gesetz sind alle gleich. Menschenrechte!
– Genetisch teilen wir 99% des Erbguts mit allen anderen Menschen. Und 50% mit der Banane.
– Unsere Schulen sind grosse Gleichmacher.
– Wir leben in Bubbles, die aus Gleichen bestehen.
– Konform leben ist easy; Nonkonformismus kann anstrengend sein.
– Mehr denn je ist das Thema „Minderheiten“ ein Thema. Unser ganzes Mindset ist auf Gleichheit programmiert.

DIVERSITY ERKENNEN UND ANERKENNEN „We are all the same, but different.“ Erkennen, dass wir alle gleich sind, bedeutet wahrnehmen, dass wir alle verbunden sind. Anerkennen, dass jeder anders ist, bedeutet annehmen, dass jeder seiner Bestimmung folgen soll. Das Integrale Modell ist nicht nur ein Ordnung schaffendes Modell, sondern auch eines, dass darauf fokussiert, wie divers wir alle sind. Und Ken Wilber selber hat immer betont, dass Translation fast wichtiger ist als Transformation. Wenn wir unser Mindset auf Diversity umprogrammieren, sieht die Welt anders aus.

EXKURS BIODIVERSITÄT – THERE IS A PLAN Wer Biodiversität wahrnimmt und darüber nachdenkt muss zum Schluss kommen, dass es einen Lebensplan gibt. Anders ist diese unendliche Vielfalt nicht zu erklären. Allein in unserem Garten gibt es 20 Baumarten, 20 Straucharten, über 100 Blütenpflanzen, insgesamt über 250 Arten, die mir bekannt sind. Das ist aber nur 1/1000 aller Arten, die in unserem Garten vorkommen, und die alle miteinander kommunizieren. 999/1000 aller Arten in unserem Garten kenne ich nicht. Das Beispiel Kopffüsser: Von denen gab es mindestens 30‘000 Arten (vom Menschen nur 1 Art) und sie haben 350 Millionen Jahre überlebt bis heute. Homo sapiens, der moderne Mensch, ist etwas über 315‘000 Jahre alt. Rezente Pflanzenarten sind zum Beispiel Schachtelhalme, die es vor 375 Millionen Jahren bereits gab. Diversity anerkennen heisst auch bescheiden, ja sogar demütig sein.

ANERKENNE DICH SELBST „Wer bin ich?“, ist eine gute Frage. Bis jetzt haben wir diese Frage spirituell oder psychologisch beantwortet. Die präzisere Frage ist jedoch: Was unterscheidet mich körperlich von anderen? Jeder wirklich relevante Unterschied manifestiert sich körperlich. Auch Bewusstseinsstufen sind körperlich, behaupte ich mal 🙂 Diese meine körperlichen Bedingungen muss ich anerkennen. Beispiel: Krämpfe in kaltem Wasser. Der Schwimmlehrer hat mich als Angsthase abgestempelt. Meine Partnerin konnte auch nicht recht damit umgehen. Aber es ist nun Mal so: Ich kriege Krämpfe, wenn das Wasser unter 14 Grad ist. Mit dieser Bedingtheit muss ich leben. Je früher ich sie anerkenne, umso weniger stört sie.

COMING OUT Erkennen und anerkennen, wer man/frau ist. Dieser Prozess dauert lebenslang. Nicht jeder geht diesen Weg. Beispiel Garten: Wir haben unseren Garten seit 20 Jahren Richtung mehr Biodiversität entwickelt. Dabei ist kein Stein auf dem andern geblieben. Unser Nachbar hat in der gleichen Zeitspanne seinen Garten gegen alle Veränderungen verteidigt. Beides hat seinen Platz im Ganzen. Ich fühle mich als Bewahrer körperlich unwohl. Er fühlt sich als Veränderer unwohl. Beide gehen wir unseren Weg. Resonanz, Vertrauen, Glück, Lust – Verbindung ist nur möglich, wenn frau/man sich zeigt. Wenn ich mich dem Schmetterling nicht als Blume zu erkennen gebe, wird er vorbeifliegen.