«Ich kann lieben, aber ich muss nicht.» Dieser Satz stammt vom Geigenbauer und Philosophen Martin Schleske. Der Satz hat mich zunächst in seiner Einfachheit und Kraft verblüfft. Er besagt, dass ich als Mensch eine ungeheure Macht habe: Ich kann wählen, ob ich Gott, das Leben und die Liebe auflaufen lasse, wie Schleske es ausdrückt. Schleske behauptet, dass ich eine Wahl habe, immer. Ich kann die Liebe annehmen, wenn sie mir zufällt, oder mich gegen sie entscheiden. Das Leben hat das so eingerichtet. Deshalb meint der Geigenbauer, dass Jesus nicht nur am Menschen zerbrochen ist, er ist auch an Gott und dem Leben zerbrochen, weil uns das Leben eben diese Wahl lässt. Wir können unserer Bestimmung folgen, und das bedeutet in der christlichen Tradition unserem liebenden Herzen zu folgen, oder wir können es sein lassen. Zu Zeiten von Jesus, haben es viele sein gelassen, deshalb wurde er von Menschen wie du und ich ans Kreuz genagelt.
Aber stimmt der Satz wirklich oder ist er einfach nur eingängig?
Der erste Teil des Satzes heisst: «Ich kann lieben …» Kann ich das wirklich immer?
Meine Erfahrung sagt mir: nein, oft kann ich gerade nicht. Weil ich zu beschäftigt bin. Weil ich die Verbindung zu meinem Herzen verloren habe. Weil ich verletzt oder gedemütigt wurde und ich einen Schutzwall um mich herum gebaut habe.
Lieben-können ist für mich und viele Menschen nicht selbstverständlich und will gelernt und geübt sein. Gerade wir, hier in westlichen Gesellschaften, lernen jedoch nicht viel darüber, wie man sein Herz für die Liebe öffnen und offenhalten kann. Ohne ein offenes Herz, gibt es jedoch kein Lieben-können. Erst wenn mein Herz offen ist, bin ich präsent und berührbar. Wenn ich präsent bin, dann bin ich im Hier und Jetzt. Dann bin ich zutiefst in Berührung mit dem Leben, mit mir selbst, mit meinen Mitmenschen – eben nicht mehr getrennt, sondern eins. Erst mit offenem Herzen werde ich zum Liebenden.
Der*die Liebende
Eine nächste Frage ist: Kann ich etwas tun, damit ich in die Liebe komme?
Ich erlebe Liebe als etwas, das mir zufällt. Ich kann es nicht machen. Liebe erfasst mich oder eben auch nicht. Sie ist ein Geschenk. Ein Geschenk Gottes oder ein Geschenk des Lebens. Wenn sie mir geschenkt wird, dann gehe ich als Liebender auf wie die Sonne am Morgen. Ich bin dann erfüllt von dieser wunderbaren Energie. Ich nehme plötzlich Dinge wahr, die ich vorher nicht gesehen habe. Ich sehe das Wunder im Menschen, den ich liebe. Ich sehe auch das Wunder in der Natur und im Kosmos.
Meist entspringen Gefühle der Liebe aufgrund einer Verbindung zu einem anderen Menschen. Und meist entsteht daraus dann eine romantische Beziehung mit Liebe und Gegenliebe.
In der christlichen Mystik gibt es aber nicht nur diese personale Liebe. Viele Mystikerinnen und Mystiker aus der christlichen Tradition bezeichnen die Liebe als Urgrund des Seins. Sie meinen damit eine transpersonale, universelle Liebe, Gottesliebe, Agape. Wer diesen Urgrund unter seinen Füssen wirklich zu spüren bekommt, oder ihn gar nie verloren hat, ist nahe beim Sein, beim lebendig sein, beim Leben. Dort ist Geborgenheit, dort ist grenzenloses Vertrauen in Gott oder ins Leben. Auch diese Liebe fällt einem zu; allerdings nicht einfach so, sondern oft erst in Phasen existenzieller Not, in ganz grossen Lebenskrisen, ausweglosen Situationen, in denen man*frau über seine eigenen Grenzen hinauswachsen muss. Das sind dann Momente, in denen einem die universelle Liebe vor die Füsse fallen kann. Als «Gnade» bezeichnet das die christliche Mystik. Und in dieser Gnade lässt sich leicht erkennen, dass das Leben Liebe im Überfluss hat. Liebe ist für das Leben keine Mangelware. Sie ist omnipräsent. Diese Erfahrung ist oft so heftig und zutiefst erschütternd, dass sie sich nicht mehr anzweifeln lässt. Wer einmal an diesem Punkt war, kann nicht mehr hinter diese Erfahrung zurück.
Zu unterscheiden davon ist, was im (Zen)-Buddhismus als Mitgefühl bezeichnet wird. Mit der oben beschriebenen Liebe hat das nichts zu tun. Mitgefühl ist eine Haltung. Etwas das eingeübt werden kann – eine wunderschöne Haltung übrigens. Wer Mitgefühl empfängt, fühlt sich respektiert. Mitgefühl kann man*frau erlernen, während man*frau die Liebe nur erfahren kann.
Die*der Geliebte
Auf der anderen Seite des Liebenden steht der*die Geliebte. Sich lieben zu lassen, geliebt zu werden scheint zunächst einfach. Erst in den letzten Jahren habe ich gelernt, dass dieser Teil der Verbindung genauso anspruchsvoll ist, wenn nicht sogar herausfordernder.
Ich rede hier nicht von der romantischen Beziehung, sondern von bedingungsloser Liebe ohne Gegenliebe.
Sich bedingungslos geliebt zu fühlen, ohne die Liebe erwidern zu können, ist oft schwer zu ertragen. Es versetzt uns in einen sehr ursprünglichen Zustand des Kindseins – wir sind aber keine Kinder mehr. Kinder fühlen sich von ihren Eltern geliebt, das ist der natürliche Zustand ihrer ersten Lebensjahre, sowohl vor wie auch nach der Geburt. Wer sich als Kind geliebt fühlt, entwickelt Vertrauen. Das Kind muss ja nichts leisten, damit es geliebt wird. Die Liebe, die ihm seine Eltern schenken, ist bedingungslos. Wenn dieses Vertrauen entsteht und kräftig ist, dann trägt es das Kind und danach den jungen und erwachsenen Menschen im besten Fall ein Leben lang. Aber wir alle wissen, dass dies nicht die Regel ist. Viele von uns verlieren im Laufe ihres Lebens dieses Vertrauen. Und nicht wenige haben es gar nie gekannt. Wie gehen wir in diesem Fall, jetzt da wir Erwachsene sind, mit dem Geliebt-werden um? Können wir uns lieben lassen, selbst wenn wir denjenigen oder diejenige, der*die uns liebt, nicht zurücklieben? Was passiert mit einem erwachsenen Menschen, wenn er geliebt wird, ohne dafür etwas zu leisten?
Meistens geraten diejenigen, die so geliebt-werden zunächst in eine Enge. Sie meinen, dass der Liebende Erwartungen an sie hat, die sie nicht erfüllen können oder wollen. Dass da jemand bedingungslos liebt, kommt ihnen verdächtig vor. Liebe war doch bisher immer ein Tauschhandel, das soll jetzt plötzlich nicht mehr gelten?
Sie fürchten auch um ihre Freiheit. Verbindungen schaffen Abhängigkeiten – zumindest waren das ihre bisherigen Erfahrungen. Und niemand will abhängig sein. Was also tun?
Meine Erfahrung ist, dass bedingungslose Liebe die Herzen öffnet – nicht sofort, die oben beschriebenen Widerstände sind real und kommen fast immer vor, aber mit der Zeit, mit den Monaten und Jahren bauen sich diese Widerstände beim geliebten Menschen ab. Zuerst werden die Mauern, die sein Herz umschliessen, weicher, dann nach und nach fallen sie in sich zusammen und er öffnet sein Herz, lässt sich berühren, verliert die Angst und nimmt diese bedingungslose Liebe an. Das ist kein harmonischer Prozess und er gelingt auch nicht immer. Beide, Liebender und Geliebte, brauchen Geduld, beide müssen dranbleiben am anderen. Es gibt Rückschläge und Verletzungen, Missverständnisse und Verstimmungen, Phasen der Distanz und Zeiten des einander Nahe-seins.
Aber schliesslich werden sie es zulassen geliebt zu sein, ohne in sich einen Druck auf Gegenleistung zu spüren, dann öffnet sich ihr Herz, so wie das Herz eines Kindes offen ist. Dann sind sie bereit für eine Liebe, die bedingungslos ist und ihnen ebenfalls zufällt wie ein Geschenk.
In dem Augenblick, in dem sie erkennen, dass sie bedingungslos geliebt werden und das zulassen – in diesem Augenblick sind sie im Mysterium der universellen Liebe angekommen. Das ist dann auch eine Art «Gnade». Martin Schleske beschreibt das treffend: «Nur wer sich lieben lässt, kann im eigentlichen Sinn Mensch werden und kann seinen Weg in dieser Welt bewahren.»
Jung und Alt
Und noch ein Gedanke zum Schluss.
Viele Verbindungen zwischen Enkeln und Grosseltern gründen auf diesem Gefühl des bedingungslos Geliebt-werdens; auch weil viel weniger Erziehungsgeschichte solche Verbindungen zwischen Grosseltern und Enkeln belasten.
Vielleicht ist es das, was die ältere Generation den Jungen heute bieten kann. Und vielleicht gibt es nichts Wertvolleres, was wir ihnen schenken können, als sie bedingungslos zu lieben. Dann können sie sich so zeigen, wie sie wirklich sind. Sie müssen nicht mehr gefallen und leisten, nicht mehr irgendwelchen Massstäben entsprechen oder Regeln gehorchen. Sie können sich in ihrer vollen Grösse entfalten, im Vertrauen darauf, dass sie geliebt sind.
Die Mauern, die die Enkel auf dem Weg zum Erwachsen-sein aufgebaut haben, werden dann aufgeweicht. Bis sie weich genug sind, dauert es meist eine Weile. Aber je länger wir Älteren diese jungen Menschen im Geliebt-sein halten können, umso mehr vertrauen sie. Auf diese Weise können tief befriedende Freundschaften über Generationen hinweg entstehen.