Olymp für Journalisten

Olymp für Journalisten

„Sonnenuntergang in Peking: eine matte Scheibe verbleicht zwei Handbreit über dem Horizont im braunen Dunst. Das Dunkel erbarmt sich der sterbenden, jungen Bäume vor dem Hotel…“ (Die Zeit, 13. Dezember 1985)

So beginnt mein erster Artikel, den ich für «Die Zeit» schreiben durfte. Ich hatte dafür, zusammen mit anderen Wissenschaftsjournalisten, drei Wochen lang China bereist. Und dann an meinem Text gefeilt und gefeilt. Alles umgeschrieben. Wieder gefeilt. Nochmals daran gearbeitet. Und dann endlich, nach wochenlanger Feinarbeit, war er soweit. Ich war so weit. Um das Telefon in die zittrige Hand zu nehmen und die Nummer der Wissenschaftsredaktion der Zeit zu wählen, um ihnen meinen Artikel anzubieten. Diesem Anruf vorangegangen war jahrelange Arbeit für Schweizer Zeitungen, durch die ich mir etwas Renommé und Glaubwürdigkeit verschafft hatte. Vorangegangen war auch ein zufälliges Treffen in Berlin mit dem Wissenschaftsredaktor der Zeit – der zufällig auch Schweizer war. Bei einem (oder zwei oder drei) Bier hatten wir uns spät am Abend darauf verständigt, dass ich ihn mal anrufen dürfe, wenn ich ein gutes Thema hätte. Das war jetzt der Fall.

Und ich brauchte nicht lange, um ihn zu überzeugen. China war heiss. Das Land hatte sich eben erst gegen Westen hin geöffnet. Alle waren neugierig, was dort geschah und ich war einer der wenigen gewesen, die mit der Elite der chinesischen Wissenschaft hatte sprechen können. Trotzdem hatte ich ungeheuren Respekt vor der Zeit. «Die Zeit», das war Marion Gräfin von Dönhoff, eine Journalistenlegende. «Die Zeit» war – und ist es heute noch – der Olymp des deutschsprachigen Journalismus. Würde ich dort aufgenommen werden?

Nach der telefonischen Zusage des Redaktors steckte ich meinen Artikel in ein Couvert (1985 gab es noch keine Email). Dann wartete ich. Die Post brauchte lange. Der Redaktor brauchte lange. Ich wartete lange. Nach zwei Wochen war meine Geduld am Ende. Ich nahm wieder den Telefonhörer in die Hand. Sie zitterte. Ich brauchte drei Anläufe. Dann hatte ich den Redaktor am Draht. Ja, er habe den Artikel bekommen. Ja, aber gelesen habe er ihn noch nicht. Ich solle mich noch etwas gedulden. Wieder geschah nichts und wieder nichts. Zwei lange Wochen. Dann rief ich, noch etwas zittriger, erneut an. Ja, der Artikel sei gut. Er komme in der nächsten Ausgabe. Adrenalin, das sowieso schon im Blut zirkulierte, schoss jetzt ein wie ein Flash. Ich hatte es in «Die Zeit» geschafft! Sie würden einen Artikel von mir abdrucken. Freudentaumelnd stand ich vom Pult auf und hüpfte durchs Zimmer. Ja!!!!!!

Dann wartete ich nochmals eine Woche bis die gedruckte Ausgabe vor mir lag. Ich blätterte sie hastig durch. Wissenschaft kommt immer erst am Schluss. Da stand er, mein Name und mein Text darunter. Ich las ihn. Er war gut. Er war sogar sehr gut. Ich konnte es fast nicht glauben, so gut war er. Aber die eine oder andere Formulierung, kam mir unbekannt vor. Hatte ich das wirklich geschrieben? Ich nahm mein Manuskript hervor und verglich es mit dem gedruckten Text. Satz für Satz. 

Zuerst staunte ich: Da war fast kein Satz gleich! Das war gar nicht mein Text! Das war ein Text, der meinem ähnelte, aber all das Geschliffene und Gefeilte war jetzt fliessender, besser und verständlicher geschrieben – aber nicht von mir! Der Redaktor hatte meinen gesamten Text gründlich überarbeitet! Eigentlich war kaum mehr ein Satz wirklich original von mir. Panik erfasste mich. Hatte ich versagt? War das mein erster und mein letzter Artikel für «Die Zeit» gewesen? 

Nach ein paar Tagen hatte ich meinen ganzen Mut wieder zusammengekratzt und nahm erneut das Telefon in die Hand, um den Zeit-Redaktor anzurufen und mal vorsichtig nachzufragen, ob er denn mit meiner Arbeit zufrieden sei. Aber sicher, ein sehr guter Artikel, meinte er. Und die vielen Korrekturen? Oh, das sei sogar unterdurchschnittlich, beteuerte er. Wir hier im Norden haben einfach einen anderen Sprachduktus als ihr im Süden; aber für einen Schweizer Text hätte er weniger korrigiert als üblich. Und ich solle ihm gerne wieder einen Text schicken, falls ich ein spannendes Thema hätte.

Das habe ich dann auch noch ein paar Mal getan. Bis mein Schweizer Redaktor bei der Zeit durch eine deutsche Kollegin ersetzt wurde.

Klettern heisst Spreizen

Klettern heisst Spreizen

Fontainebleau tönt nach Louis XIV, Schloss in Frankreich. Das ist es auch. Aber ums Schloss herum gibt es einen Wald. Und dieser Wald ist eine einmalige geologische Besonderheit: In ihm liegen zehntausende von grösseren und kleineren Sandsteinblöcken verstreut, die sich ideal dazu eignen, um auf ihnen herumzuklettern. «Bouldern» nennt man das. Im Wald von Fontainebleau wurde das «Bouldern» erfunden und er ist heute der Gral der Boulderwelt.

Die Felsen sind nicht hoch, sechs Meter vielleicht die grössten; die meisten kleiner. Auf fast jedem Felsen ist, oft kaum sichtbar, ein farbiger Punkt gemalt, der den Schwierigkeitsgrad des Kletterns bezeichnet. All dies ist fein säuberlich in Boulderkarten festgehalten. Man schnappt sich also so eine Karte, probiert aus, ob man orange, blau oder schwarz klettern kann und wählt dann eine orange, blaue oder schwarze Tour aus, die einen von Fels zu Fels, oft in einer Rundtour durch den Wald führt.

Bevor man zu Klettern beginnt, zieht man sich «Kletterfinken» über die Füsse. Diese Spezialschuhe sind so eng, dass es weh tut. Aber sie garantieren Halt und engsten Kontakt zwischen Fuss und Fels. Den braucht man.

Ich als Anfänger nehme mir zuerst ein paar einfache Brocken vor. Ich sehe die kleinen Vorsprünge, auf die ich stehen muss, kann den Verlauf der Kletterstufen vom Boden aus nachvollziehen, beginne hochzuklettern und stehe schon bald auf dem ersten, dann dem zweiten, dritten, vierten Brocken. Das ist jedes Mal ein Erfolgserlebnis. 

Dann wechsle ich die Farbe, klettere eine Stufe schwieriger. Die Vorsprünge werden kleiner. Die Anforderungen steigen. Oft kann ich mich nur dank meiner langen Beine und Arme hochziehen. Aber noch geht es. Noch sind die Erfolgserlebnisse häufig.

Nochmals wechsle ich die Farbe. Hier sehe ich noch einzelne Tritte, dazwischen aber ist nichts und es ist nicht klar, wie ich vom einen auf den anderen Tritt kommen soll – ich habe meine Kletterstufe gefunden: die drittleichteste Liga. Ich brauche jetzt mehrere Anläufe bis ich oben ankomme. Einzelne Felsen gehen gar nicht. Ich hänge dann dort irgendwie drin, sehe nicht, wie es weitergehen soll und muss wieder abspringen auf den Boden, um eine neue Route zu probieren. Ich komme ins Schwitzen. Ich lerne, dass ich ganz nah zum Fels gehen muss, der Bauchnabel muss über den Stein schleifen. Ich lerne von einem erfahrenen Kletterer den Satz «Klettern heisst Spreizen». Wenn manchmal kein Tritt, kein Vorsprung vorhanden ist, muss man sich irgendwie zwischen zwei Felsspalten hineinspreizen und dort Halt finden. Gar nicht einfach! Oder man klettert einer einzigen Spalte entlang und verspannt in einem Kraftakt die Arme mit der Spalte, um so hochzukommen.

Manchmal stehe ich auch vor einem Brocken, auf dessen Flanke auf den ersten Blick gar nichts zu sehen ist, kein Tritt, keine Spalte, kein Vorsprung. Erst beim Absuchen entdecke ich da und dort eine kleine Wölbung oder einen winzigen Riss. Das ist dann ganz schwierig und für mich oft nur mit Hilfe meiner Mitkletterer zu lösen, die mehr Erfahrung haben. Doch je schwieriger es wird, umso faszinierender wird es auch. Es ist wie eine Rätselaufgabe, bei der Kopf und Körper zusammenarbeiten müssen. Ganz fokussiert. Ich muss mit dem Fels verschmelzen, ihn zu mir nehmen, damit ich ihn besteigen kann. Wenn das gelingt, ist es ein herrliches Flow-Erlebnis.

(2009)

Tiefschneefahren ist wie Fliegen


Es schneit, gestern schneite es auch. Wir fahren mit den Autos zur Gondel und sind froh um unseren Vierradantrieb. Dann geht’s hinauf auf den Didamskopf im Bregenzerwald. Zuerst sehen wir nichts dort oben. Stecken in den Wolken, fahren die ersten Abfahrten fast blind. Dann reisst es auf. Die Sonne ist plötzlich in ihrer vollen Leuchtkraft da und nun sehen wir den frisch verschneiten Bergwinter in seiner ganzen Pracht. Jungfräuliche Hänge ohne eine einzige Spur überall. Alle Pisten lassen wir links liegen. Ab in den Tiefschnee. Pulverig, beinah einen Meter hoch, göttlich! Wir legen die ersten Spuren, alle von uns, es ist leicht, es ist reines Vergnügen! Der Pulverschnee hält uns und lässt uns doch frei schwingen, er gibt uns unsere Spuren und lässt uns die Linien doch selber ziehen. Es ist das absolut beste Tiefschneefahren der letzten 50 Jahre!

Und das Beste vom Besten ist der Steilhang. Dort liegt der Pulverschnee hüfttief. Der Hang ist so steil, dass man etwas Mut braucht, um oben einzusteigen. Aber heute nicht. Die Pulverschneemasse hält mich am Berg, begrenzt das Tempo und ich schwinge fast im freien Fall den steilen Hang hinunter, ohne Zwischenhalt, fast wie Fliegen fühlt es sich an. Ich flute mich mit Adrenalin und mein Herz stampft. An der Brille hängt Schnee, ich sehe fast nichts, aber das Schwingen geht auch so. Nocheinmal und nocheinmal rauf und wieder den Steilhang runter. Auch mit den Spuren drin gibt es kein Problem, so leicht ist der Schnee heut. Wir fahren, nein befliegen ihn bis zur Erschöpfung, bis zur letzten Bahn.

(Bregenzerwald, Österreich, Dezember 2013)