Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Wir wollten auf Muottas Muragl, das ist ein 2400 Meter hoher Berg im Engadin, übernachten. Das Wetter war den ganzen Tag über trüb gewesen. Und es war saukalt, fast – 20 Grad Celsius. Wir sassen im Speisesaal des Hotels am Fenster und blickten auf die Engadiner Seen hinunter. Ausser weissen schnee- und eisbedeckten Flächen war da allerdings nicht viel zu sehen. Der Wein ging langsam zur Neige. Eigentlich hatten wir vorgehabt noch einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen, aber das da draussen war wenig einladend. Also aufs Zimmer? Wir blickten nochmals durch die grossen Fenster hinaus auf die Bergwelt. Da zeigte sich plötzlich ein kleiner schwacher gelber Streifen am Himmel. Mickrig aber stark genug, um uns rauszulocken, nur kurz, ohne Jacken und Mützen, für eine kurze Runde.

Als wir draussen ankamen war der Streifen ein klein bisschen gewachsen. Wir gingen ein paar Schritte, hundert Meter vielleicht, bis wir auf eine Fotografin trafen. Sie hatte ihr Stativ aufgestellt und wartete. Wir blickten in die Richtung ihres Objektivs: Der gelbe Streifen war deutlich gelber geworden und auch breiter. Also gingen wir nochmals 50 Meter weiter, um in die andere Talseite zu schauen. Dort war nichts zu sehen, alles grau in grau. Aber als wir uns umdrehten war der Streifen zu einer gelb, hell orangen Fläche über den weissen Gipfeln angeschwollen. Und mit jedem Schritt, den wir machten, schüttete der Himmel weiter Farbe ins Firmament. Als wir wieder bei der Fotografin ankamen war sie bereits am Bilder machen.

Wir nahmen unsere Kamera beziehungsweise das Handy ebenfalls zur Hand und taten es ihr nach. Der Himmel pumpte weiter Farbe. Und jetzt holte er auch den grossen Pinsel heraus und strich die Wolkenbalken. Hinter uns übergoss er die weissen Gipfel mit Orange und Rosa. Dann begann er richtig zuzulangen. Die Wolken wurden jetzt tief orange. Zwischendrin leuchteten türkisfarbene Himmelsfetzen aus dem All. Und jetzt begann er auch mit Rot um sich zu werfen. 

Wir schlotterten schon die ganze Zeit. Und um das zu ändern rannten wir wie junge Hunde über den Schnee Richtung Hotel. Dort auf der Terrasse fotografierten und staunten und bewunderten wir weiter. Der Himmel kannte nun kein Halten mehr. Purpur erschien. Orange wurde noch oranger. Wir konnten die Farben nicht mehr nur sehen, sie flossen so stark über, dass wir sie auch fliessen hören konnten. Es war alles symphonisch. Es gab keine Grenzen mehr. Alles zerfloss ineinander und zueinander in einem überwältigenden Farbenrausch. Wir wurden trunken. Auch wir zerflossen. Überall war Farbe. Orange auf unseren Gesichtern. Gelb und Rot auf unseren Händen. Ich lachte und weinte abwechslungsweise. Ich spürte wie es kein Entrinnen vor der Erkenntnis gab, dass hier für uns ein Wunder an Farbenfülle und Lebenslust inszeniert wurde, in das wir eingetaucht waren, ohne zu wissen wie uns geschah. Wir waren einfach mitgenommen worden in dieses grosse Gestalten. Es war ein einziges, riesiges Fest von Farben über den weissen Gipfeln der Engadiner Berge. Ein Fest fürs Leben.Und irgendwann war es vorbei. Wir waren äusserlich halb erfroren, aber innerlich so heiss vor Freude und Glück, dass die kalten Nasen, Finger und Zehen nichts ausmachten.

24.2.22

Julia Roberts – inexistent

Julia Roberts – inexistent

Sie stehen im Laden an der Kasse. Vor Ihnen legt eine Frau ihre Einkäufe aufs Band. Die Frau heisst Julia Roberts.

Sie kennen Julia Roberts nicht? Ok, dann ist diese Frau einfach eine Frau, die ihre Einkäufe bezahlen möchte.

Sie kennen Julia Roberts? Sie wissen, dass Julia Roberts eine der berühmtesten Schauspielerinnen Hollywoods ist? Ok, dann schauen Sie genauer hin. Ist sie es wirklich? Ja, sie ist es!

Im ersten Fall existiert Julia Roberts für Sie nicht. Sondern es existiert nur die Frau mit den Einkäufen.

Im andern Fall existiert Julia Roberts sehr wohl – für Sie. Ob etwas existiert oder nicht hängt also einzig und allein von Ihrem Wissen ab. Weil Sie Julia Roberts kennen, sehen Sie Julia Roberts. Wer Julia Roberts nicht kennt, kann sie nicht sehen. Genau so funktioniert Bewusstsein. Was nicht im Bewusstsein ist, existiert nicht. So ist es auch mit der Biodiversität.

Wenn Sie nichts von der Lorbeerweide – der schönsten Weide der Schweiz – wissen, dann werden Sie sie auch nicht sehen, selbst wenn dieser Weidenbaum neben dem Parkplatz steht. Wenn Sie den Bluthänfling  (eine Vogelart) nicht kennen, werden Sie ihn auch nicht sehen, selbst wenn er durch Ihren Garten fliegt. All die Tier- und Pflanzenarten, die Sie nicht kennen, existieren für Sie nicht, Sie nehmen sie gar nicht wahr. Sie sind nicht in Ihrem Bewusstsein. Geschätzte 75‘000 Arten gibt es in der Schweiz, 42’000 davon kennt man. Für Sie und für fast alle anderen Menschen in der Schweiz existieren aber 99,999% dieser Arten nicht, obwohl sie den gleichen Lebensraum mit Ihnen teilen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir uns so schwertun mit der Biodiversität.

Nun ist es aber nicht möglich, der ganzen Schweizer Bevölkerung einen Kurs in Artenkenntnis zu verpassen. Die einzige Lösung dieses Problems, die ich sehe, ist, dass wir den Menschen vertrauen, die etwas von Biodiversität verstehen. Genauso wie Sie ihrem Garagisten, ihrem Zahnarzt oder ihrem IT-Spezialisten vertrauen. Diese Biodiversitäts-Fachleute sind wichtig, vielleicht wichtiger als Zahnarzt, Garagist oder IT-Spezialist, weil diese Menschen fundamentale Zusammenhänge unserer Lebensgrundlage verstehen. Wir sollten sie ernster nehmen, als wir das heute tun. Einfach weil unsere Lebensgrundlage wichtiger ist als unser Gebiss, unser Auto oder unser Computer.

Herzerwärmend

Herzerwärmend

Das Angebot von tausend Kernen bringt mir im Winter den herzerwärmenden Besuch von zwanzig Vogelarten. Amseln, Finken, Meisen, Kleiber, Spechte und Rotbrüstchen tummeln sich um unser Vogelhäuschen vom kalten November an. Fünf Kilogramm Futter vertilgen sie pro Woche. Sie werden umgesetzt in Lebendigkeit an dunklen Wintertagen.

Aus einer im Winter toten Ecke des Balkons wird ein lebendiges Geflatter und Gezwitscher. Meisen hämmern auf den Sonnenblumenkernen herum. Amseln und Kleiber schmeissen missliebige Samen in hohem Bogen aus dem Häuschen. Finken hocken oft eine Viertelstunde unter dem Vogelhausdach und schlagen sich den Bauch voll. Und ab und zu erscheinen die Seltenen und Besonderen: der Gimpel, der Kirschkernbeisser, der Kreuzschnabel oder der Buntspecht, die Schwanzmeise und die Bartmeise.

Am meisten Freude habe ich an den kleinen Zeisigen, die in Gruppen einfallen und am Boden herumhüpfen wie Federbällchen. Sie picken auf, was runtergefallen ist.

Seit meiner Kindheit habe ich Freude an Vögeln. Und meine Grossmutter, meine Mutter und jetzt wir haben sie im Winter immer gefüttert. Es ist eine Familientradition. Vor allem aber macht es Spass und Freude. Es sind keine überschwänglichen Momente, die ich vor dem Vogelhäuschen verbringe. Es ist die Konstanz und Verlässlichkeit des Erscheinens dieser Vögel, die mich beeindruckt. Sie signalisiert: der Kälte und Erstarrung des Winters zum Trotz geht das Leben weiter, wir sind immer noch da; wir widerstehen dem Gefrorenen wie du und freuen uns am Körnerangebot.

Das Bild der flatternden Vögel prägt mir jeden Morgen, vier oder fünf Wintermonate lang. Wenn sich alle Pflanzen draussen in die Erde zurückgezogen haben, kein Blatt an den Bäumen hängt und die Menschen, wenn überhaupt, nur vermummt durch die Strassen gehen, sind die Vögel immer noch da. Erscheinen wie aus dem Nichts, sobald ich ihnen ein paar Körner hinlege und bringen luftige Grüsse zum Teil von weit her oder auch nur vom nächsten Waldrand.

Baum sein

Baum sein

Der Meditationslehrer heisst Anand und ruckelt mit seinem Kopf, wie es so elegant und vielsagend nur Inder können. Wir liegen alle auf dem Rücken und machen Atemübungen. Auch die Hände haben wir auf die Handrücken gelegt, wie um etwas zu empfangen. Mit einem Mal geschieht es, als sei es das Selbstverständlichste: Ich bin plötzlich der Baum draussen vor der Meditationshalle. Ich stehe da als Baum, atme als Baum, bin es. Augenblicklich erschliessen sich mir auch all die komplizierten Lebensprozesse im Baum. Ich sehe, wie aus der Luft und der Sonne Energie entsteht, sehe den Mitochondrien bei der Arbeit zu, überschaue wie die Nährstoffe und das Wasser aus den Wurzeln aufsteigt und zu den Blättern fliesst.

Wie lange ich Baum bin, kann ich nicht sagen. Die Meditationsblöcke dauern normalerweise 20 – 30 Minuten. Als Anand uns auffordert wieder die Augen aufzumachen, tue ich das und verlasse mich als Baum, um wieder zurückzukehren als ich Reto.

Das war mein erstes Einheitserlebnis während einer Meditation. Ich weiss noch, wie ich dachte: aha, so ist das also. Und ich war auch etwas stolz, das mir so etwas passiert ist.

Danach dauerte es Jahre bis ich wieder ein solches Erlebnis hatte. Diese Jahre brauchte ich, um zu lernen, dass solche Erfahrungen zwar extrem eindrücklich und schön sind, dass aber das Leben nicht aus der Sammlung dieser Einheitserlebnisse besteht, sondern aus unseren Montagen und Dienstagen, Wochen, Monaten und Jahren. Sich mit jedem Montag zu verbinden ist wert- und kunstvoller als Baum zu sein.

(Lassalle-Haus, Zug, Schweiz, 2003)

Smalltalk mit einem Berg

Smalltalk mit einem Berg

Die Greina ist eine der schönsten Hochebenen der Schweiz, eine Landschaft von nationaler Bedeutung und ein Symbol des erfolgreichen Politwiderstands. Denn die Greina sollte überflutet werden, weil Stromfirmen einen Stausee bauen wollten. Deshalb ist die Greina unter Linken und Grünen ein beliebtes Wanderziel. Ich bin allerdings mit einem Zeitungsredaktor der bürgerlich orientierten Neuen Zürcher Zeitung unterwegs, völlig unideologisch, einfach weil uns die Landschaft hier oben fasziniert.

Wir kommen vom Süden her, aus dem Tessin und steigen über einen kleinen Pass in die Hochebene hinunter. Es ist Frühsommer. Der Schnee ist geschmolzen, aber überall fliesst noch reichlich Wasser. So viel, dass es gar nicht so einfach ist, das namensgebende Flüsschen Greina zu überqueren. Wir müssen eine Passage suchen, bei der wir von Felsblock zu Felsblock springen können. Das Wasser ist hier noch reissend, eisig kalt und von milchiger Farbe.

Weiter unten wird es dann klarer und durch die Ebene schlängelt und windet sich die Greina als einer der letzten, freien Flüsse der Schweiz. Es ist ein herrlicher Anblick! Er erinnert uns an nordische Landschaften. Wollgras winkt bereits mit seinen schneeweissen Zotten im Wind. Noch weiter unten grasen ein paar Pferde. Die ganze Landschaft wirkt unberührt, heil. 

Über diese Hochebene zu wandern dauert ungefähr eine Stunde. Wir geniessen sie sehr. Reden kaum miteinander. Machen Fotos. Bleiben immer wieder auch stehen. Am unteren Ende der Hochebene, dort, wo die Ebene gegen das Tal abknickt, steht eine rostig orange Stahlskulptur, ein Engel. Mir gefällt sie. Ich bleibe lange neben ihr stehen und folge ihrem Blick. Er ist über den Fluss hinweg auf den Bergkegel vis-à-vis gerichtet. Ich geniesse nochmals die Ruhe, blicke zurück auf das breite Tal mit dem mäandrierenden Fluss, freue mich, dass dieses Tal unversehrt geblieben ist und gehe dann weiter. Mein Freund ist jetzt bereits ein paar hundert Meter vorausgelaufen. Aber wir haben Zeit, eilen muss ich nicht. Und so schaue ich mir den Bergkegel auf der anderen Talseite etwas genauer an. Er hat gegen Süden eine trockene, felsige Flanke und eine Felskante, die den Süden vom Norden trennt. Nördlich der Felskante ist es schattig und dunkelgrün und nass. Hier fliesst Schmelzwasser zur Greina hinab. Es ist Mitte Nachmittag und die Sonne wirft ihre Strahlen schräg auf den Berg. Dieses Licht macht seine Konturen sehr lebendig. Dann höre ich ihn sagen: „Alles ist gut.“

Mit einem Ruck bleibe ich stehen. Was habe ich gerade gehört? Ich schaue hinüber zum Berg und er wiederholt: “Alles ist gut.“ Der Berg spricht. Ich schaue ihn verdattert an. Sehe wie das Wasser in Rinnsalen seine Flanken hinunterfliesst. Alles ist gut? Er stehe schon sehr, sehr lange hier, sagt er. Und werde auch noch sehr, sehr lange hierstehen. „Einfach da sein“, meint er. „Friedlich ruhen in sich selbst.“ Ich merke, wie das Zeitgefühl dieses Berges auf mich übergreift, wie die Jahrmillionen spürbar werden. Die Staumauer, die hier hätte gebaut werden sollen – ein Wimpernschlag in seiner Zeit. Der politische Widerstand, der sich hier manifestierte – schon vorbei. Mein eigenes Leben – einmal einatmen des Berges und einmal ausatmen. Unheimlich die Ruhe und Beständigkeit, die mir der Berg in diesem Moment entgegenbringt! „Vertraue, alles ist gut“, wiederholt er. Aber die ganze Umweltzerstörung in der Welt!? All die Katastrophen, Meeresverschmutzung, Artensterben?! „In meinen Zeiträumen ist das nur ein Zittern an der Oberfläche“, versichert er. „Ich reiche tief bis ins Innere der Erde und gegen oben weit in den Himmel hinein. Deshalb kann ich sagen, in meinem Empfinden ist alles gut so wie es ist.“

Ich stehe immer noch auf diesem Weg, wie angewurzelt, und sehe mich plötzlich von aussen, wie ich mit diesem Berg gegenüber rede. Ich nehme wahr, wie dieser Mann und dieser Berg und dieser Engel aus Stahl eins sind, zutiefst miteinander verbunden. Dass es deshalb gar nicht verwunderlich ist, was dieser Mann tut, nämlich mit einem Berg sprechen. Und dass es ganz natürlich ist, dass dieser Berg mit diesem Mann spricht. Ich nehme das alles wahr und lache. Gleichzeitig höre ich, wie dieser Mann lacht, sehe wie er sich leicht vor dem Berg verneigt, ihm adieu sagt und weitergeht.

Gott ruht im Herzen der Steine, atmet mit den Pflanzen, träumt in den Tieren und erwacht im Menschen. (aus Indien)

Mondwanderung Bödmeren-Silberen

Mondwanderung Bödmeren-Silberen

Die Magie einer Mondnacht, die einen silbernen Schein über die Karstlandschaft legt – das wollten wir erleben.

Losgewandert sind wir vom Bödmerenwald, dem grössten Urwald des Alpenraums. Er liegt am Pragelpass im Kanton Schwyz, in der Schweiz. Manche der Bäume hier sind 500 Jahre alt, Fichten mit meterlangen Bart-Flechten behangen, wie im Wald Fangorn aus dem «Herr der Ringe» von Tolkien. Kein Mensch weit und breit, ausser ein junger Freund von mir und ich. Er geht voran, auf Wegen die mehr Trampelpfade sind als Wege. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen. Schaut, weist mich auf besondere Blumen hin, auf spezielle, riesige, von Moosen und Farnen überwucherte Steine, auf die phantastischen Wuchsformen von Ästen der alten Fichten. Er hat ein gutes Auge, das ehrfürchtig auf diese unberührte Natur schaut.

Wir reden nicht viel. In der Stille schwingen wir uns ein auf diesen Ort hier und auf uns. Hier stimmt alles. So wie es ist, so ist es gut. Das Wachstum dieser riesigen Bäume ist gut. Und wenn der Sturm einen alten fällt, ist es auch gut, selbst wenn der alte einige Junge unter sich begräbt. Die Erde hier ist in ihrer vollen Kraft und wir spüren, dass sie uns daran teilhaben lässt.

Je weiter wir den Berg hoch wandern, um so lichter wird der Wald. Am Mittag haben wir die Waldgrenze erreicht und machen ein Picknick. Es geht uns gut. Wir haben etwas zu essen, zu trinken, sitzen in einer der grossartigsten Landschaften der Schweiz und fühlen, dass wir hier und jetzt gemeinsam etwas erleben, das aussergewöhnlich wertvoll und schön ist.

Dann geht’s weiter hinauf, über die Baumgrenze. Vor uns entfaltet sich die Karstlandschaft, hell fast grell glänzend im Sonnenschein. Wir kommen ins Schwitzen. Auch weil wir die Wege ab und zu verlieren, uns verlaufen, neu suchen müssen, uns neu orientieren müssen. Trotzdem ist es herrlich. Wir sind vollkommen für uns. Inmitten dieser phantastischen Natur. Wir wandern über arg zerklüftete Felsrücken, federn durch Moore, entdecken kleine Seen und Tümpel. Der Wind pfeift an gewissen Ecken und nutzt die Karren und Schratten als Orgelpfeifen. Wir fühlen uns in eine andere Welt versetzt. Die Düfte, die Formen, die Töne, die Einsamkeit, alles zusammen wirkt entrückt, irreal.

Es ist eine weite Wanderung. Stunde um Stunde vergeht und wir spüren, wie wir langsam ermüden. Die Dämmerung legt sich über uns. Es wird dunkler und dunkler. Wir rasten erneut. Diesmal an einem kleinen Tümpel. Wir sind erschöpft. Essen, was wir noch haben. Und dann geht der Mond auf. Er erscheint über dem Berggipfel und spiegelt sich im Wasser des Teiches. Es fühlt sich an wie ein Zauberschlag. Plötzlich verwandelt sich die dunkle Landschaft in ein Bild von Formen, die allesamt mit einem silbrig glänzenden Schleier überzogen sind. Von oben scheint der volle Mond, von unten scheint die Erde zurück. Uns laufen die Augen über. So schön ist das. Es gibt gar nichts mehr zu sagen. Wir staunen nur. Sind selber verzaubert. Sehen wie der andere auch feuchte Augen bekommt von alldem Zauberhaften, das sich vor uns ausbreitet.

Leise packen wir unsere Rucksäcke zusammen und machen uns auf den Weg durch dieses Zauberland. In dem jeder einzelne Stein glänzt. Jeder Ast plötzlich von Silber überzogen ist. Jeder Halm eine Silbersträhne. Der Rückweg hinunter zum Pragelpass ist noch weit. Wir gehen ihn in einer Art Trance, bezaubert und vollkommen erschöpft. Als wir endlich unten auf der Passstrasse ankommen, fallen wir uns in die Arme. Wir können kaum noch stehen und hängen aneinander, drücken einander, atmen einander ein und realisieren, dass wir zusammen etwas Surreales und etwas Esoterisches erlebt haben, das wir nie vergessen werden. Und noch in dieser Umarmung kommen wir beide langsam wieder in der realen Welt an. Der Zauber, der uns eben noch vollständig umfangen hat, weicht zurück, wie ein leichter Nebel, der vom Wind weggetrieben wird. Wir öffnen die Augen, lösen uns, blicken einander in die Augen. Es ist ein tiefer Blick. Ein Lächeln. Ein gemeinsames Abschiednehmen und Zurückkehren in die normale Welt jenseits der Magie einer Mondnacht.

(2009)

Bitte anschnallen

Bitte anschnallen

Im Bergwald von Laax erkunde und ersinne ich einen Pfad, der Touristen die Natur der Alpen nahebringen soll. Über ein Dutzend Stationen habe ich mir bereits ausgedacht. Es soll Duftglocken geben, unter denen die Wanderer in Arven-, Tannen- und Erikawolken eintauchen. Oder Liegen aus Moos, auf denen sie die Stille eines Bergwaldes geniessen können. Oder ein Baumstamm-Xylophon, das bespielt werden kann. Der Wegverlauf und die einzelnen Stationen sind inzwischen schon ziemlich klar. Deshalb laufe ich heute den Weg nochmals ab und teste, ob auch der Rhythmus stimmt; also ob in sinnvollen Abständen die nächste Station auftaucht oder ob es Lücken gibt. Und tatsächlich: nach ungefähr zwei Dritteln der Wegstrecke gibt es eine ganze Weile lang keine Station. Der Wald ist dort sehr licht, grosse alte Einzelbäume stehen verstreut, der Jungwuchs ist spärlich, es gibt Polster von Heidelbeeren und Böschungen mit Erika, viel Moos auch.

Ich schaue mich um. Der grösste Einzelbaum ist eine alte Buche, die etwas vom Weg entfernt steht. Ich gehe zu ihr hin und stelle mich darunter, lehne mich an ihren Stamm – und stelle mir vor, ich wäre diese Buche. Nach ein oder zwei Minuten will ich weitergehen, mich weiter umsehen, aber etwas hält mich zurück. Mir geht auf, dass diese Buche wohl schon 80 oder hundert Jahre hier steht. Wenn ich also etwas mehr vom Geist dieser Buche erfahren möchte, muss ich es noch etwas länger hier am Stamm aushalten. Ich bleibe also stehen. Dabei kommt mir in den Sinn, dass es hilfreich wäre, wenn hier ein Gurt hängen würde, mit dem man sich an die Buche anschnallen könnte. Und ich stelle mir vor, wie ich angeschnallt am Stamm festgebunden bin. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Stehe einfach da. Wie die Buche. Bin verwurzelt. Bin ein Baum. 

Ich schaue mich um als Baum. Alleine bin ich nicht. Es gibt andere wie ich. Es gibt den Wind, der mir Düfte und Nachrichten von weither bringt. Es gibt die Vögel, die auf meinen Ästen rumalbern oder absitzen und sich ausruhen. Es wird Tag und wieder Nacht. Jahrein, jahraus. Ich bin einfach da. Regen kommt. Sonne scheint. Im Winter fällt Schnee. Das alles stört mich nicht in meinem Dasein. Ich bin da, ganz Baum, der nirgends hinmuss. Ruhe. Ich wachse. Ich repräsentiere Stabilität, nicht zehn, sondern hundert Jahre und auch mehr, wenn ich stehen gelassen werde. Einige hundert Jahre alt kann ich werden und einfach hier stehen bleiben. Ich bin die Seele dieses Ortes, zusammen mit den anderen Stämmen hier. 

Ich mache auch Junge, blühe, trage Früchte und werfe diese ab. Aus den allerwenigsten wächst ein neuer Baum. Wenn ich mich umschaue, sehe ich vielleicht ein halbes Dutzend Nachkommen. Sie leben am Rande meines Schattens. Ich sehe, wie sie kämpfen müssen, auch mit meiner Grösse, aber auch mit dem Wild, das ihre jungen Knospen zerbeisst, oder mit dem Schnee, der sie niederdrückt. Ich kann ihnen nicht helfen. Es ist auch nicht meine Aufgabe, ihnen zu helfen. Ich habe sie zur Welt gebracht. Mehr vermag ich nicht für sie zu tun.

Ich spüre auch, wie weit hinunter in die Erde meine Wurzeln reichen. Aus dieser Dunkelheit und Tiefe hole ich Wasser und Mineralien ins Licht. Diese Wurzeln machen meine Kraft aus. Ich kann nicht umfallen, nicht im Sturm und nicht vom Schnee und seiner Last; dazu bin ich viel zu stark.

So angeschnallt und verbunden mit dem Leben dieser Buche verbringe ich zwanzig Minuten. Dann löse ich die imaginären Gurten und trete unter der Krone hervor. Mit einem Dank verabschiede ich mich. «Bitte anschnallen» wird eine Station auf diesem Naturpfad, ganz sicher.

(2017)

Der Bach, der durch mich hindurch fliesst

Der Bach, der durch mich hindurch fliesst

Es ist ein Selbstversuch. Wir stehen vor einem Bächlein. Es schlängelt, plätschert, fliesst durch einen Wald in den Voralpen. Wir, das ist eine kleine Gruppe, die sich auf die Natur einlassen will. Geleitet wird sie vom Land-Art-Künstler Kari Joller, der sein halbes Leben draussen in der Natur verbracht hat.

Wir verbinden einander die Augen, so gut, dass wir absolut nichts mehr sehen. Dann gehen wir einer nach der anderen auf das Bächlein zu und tasten uns dem Bachverlauf entlang, der Fliessrichtung entgegen.

Zuerst finde ich das schwierig. Ich weiss, dass vor mir jemand ist und habe Angst auf ihn aufzulaufen. Aber nach den ersten Schritten wird nicht das schwierig, sondern die Orientierung. Wo ist der Bach? Ich höre ihn, spüre aber das Wasser nicht. Ich korrigiere die Richtung und verliere die Orientierung noch mehr. Laufe ich noch bergan? Meine Hände suchen das Wasser. Und nach einer Weile finden sie es. Dran bleiben jetzt. Schritt für Schritt folge ich dem Nassen. Es ist sehr kaltes Wasser, ein Bergbach eben.

Nach einer weiteren Weile habe ich keine Ahnung mehr, wie weit ich bereits gekommen bin. Eine Zeit lang konnte ich das Bild des Baches noch aus meinem Gedächtnis abrufen, wusste, dass zuerst eine felsige Partie kommt, dann ein Gebüsch, danach ein kleiner Wasserfall. Inzwischen bin ich wohl schon über das Geschaute hinweg und taste mich dem Wasser entlang ohne ein Bild.

Es gibt nur den Boden unter den Füssen und das Wasser an den Händen. Doch ich höre auch. Und zwar ein Rauschen, wie von einem grossen Wasserfall. Grosser Wasserfall mitten im Wald? Ich taste herum, spüre den nassen Felsen. Muss jetzt klettern, klettere, glitschig, über dicke Äste hinweg, grosses Rauschen, wo? Ich merke, dass ich das Rauschen nicht mehr lokalisieren kann. Es rauscht durch mich hindurch. Ja wirklich. Das Wasser fliesst mir nicht mehr über die Finger, sondern durch sie hindurch. Ich bin im Fluss und der Fluss ist in mir. Das Bächlein fliesst durch mich hindurch als ob ich keine Körpergrenzen hätte. In diesem aufgelösten Zustand bewege ich mich weiter, werde dabei durchflossen und komme doch voran. Das geht noch eine ganze Weile so, bis ich von weit her höre, wie etwas gerufen wird; Übungsende. Ich ziehe mir die Augenbinde vom Kopf. Schaue mich um und sehe, dass ich kaum 50 Meter weit gekommen bin. Der grosse Wasserfall ist ein halber Meter hoher Stein, über den das Bächlein plätschert. Das Bächlein in mir ist mit einem Wimpernschlag verschwunden. Was bleibt ist die Erinnerung, dass Wasser durch einen hindurch fliessen kann.

„Es ist wunderbar, wie die Natur ein Teil von uns ist.

Die Sonne scheint nicht auf uns, sondern in uns.

Die Flüsse fliessen nicht an uns vorbei, sondern durch uns hindurch.“

            John Muir

(Eigenthal, Schweiz, 2008)

Die Stille von Ryoanji

Die Stille von Ryoanji

Eine der grössten Touristenattraktionen von Japan erlebe ich in vollkommener Stille. Nicht weil es heute keine Touristen hat, sondern weil sich ein Schweigen auf sie legt. Dabei besteht die Attraktion bloss aus einer Kiesfläche, 10 auf 25 Meter, mit 15 Steinen drin. Sie wurde um 1500 von einem unbekannten Mönch angelegt und ist inzwischen zum Inbegriff des japanischen Zen-Gartens geworden: Ryoanji.

Ich habe wie alle ein Ticket gekauft und die Schuhe ausgezogen. Und wenn im Zugang noch das Geplauder und Gekicher der freudigen Erwartung herumschwirrt, in einer Ecke der Reiseführer vor dem Modell des Ryoanji einer Touristengruppe den Gartenaufbau erklärt, das Licht von draussen vor der letzten Treppe fast schmerzhaft in den dunklen Gang dringt, ist mit dem einen Schritt in diesen Kiesinnenhof plötzlich alles weg.

Vor allem der Lärm. Auf dem Holzdeck entlang der Kiesfläche sitzen sie, die vorher laut waren, still, andächtig und schauen auf den geharkten Kies. Sogar die Kinder einer Schulklasse verstummen. Und ich werde ebenfalls sofort ruhig, aber vor allem innerlich. Die Ruhe strömt von diesem Zen-Garten aus mit einer solchen Kraft über das Holzdeck, dass sich ihr niemand entziehen kann. Man muss hier gar nicht feinfühlig sein, um das zu spüren.

Es ist eine Stille, die mich hält. Ich kann ihr nichts entgegensetzen. Es gibt hier kein Wort. Alle, jeder und jede ob alt oder jung versinkt im blossen Schauen. Geschaut wird aber nichts. Da sind bloss ein paar mit Moos umwachsene Steine, die lose verstreut im Kies liegen. Ich schaue also ins Leere. Nur dass diese Leere nicht schwarz ist, wie wenn man die Augen schliesst, sondern im Sonnenlicht flimmert. Und natürlich ist auch die Stille nicht so tonlos, wie wenn man einen Ohrstöpsel im Ohr hat, sondern die Holzdielen knarren leise, ab und zu vernehme ich auch ein Flüstern. Aber gerade deshalb wirkt die Leere leerer, die Stille tiefer. Leere und Fülle sind hier eins. Und ich bin ein selbstverständlicher Teil davon. Und noch besser: sie sind auch ein Teil von mir. Aussen ist wie Innen.

Das alles kommt so überraschend und schnell über mich, dass ich das Gefühl habe aus Raum und Zeit zu fallen. Dieser Zustand jenseits von Raum und Zeit dauert wahrscheinlich nur ein paar Augenblicke, ist aber so eindrücklich, dass ich ihn nie mehr vergessen werde. Ryoanji ist ein Wunder. Eine Art ausserirdischer Erscheinung. Eine Reise um die halbe Welt wert.

(Japan, 2006)

Franz von Assisi und der Hamster am Baikalsee

Franz von Assisi und der Hamster am Baikalsee

Ich stehe mitten in einem Birkenwald in Sibirien, nicht weit von Irkutsk am Baikalsee. Es ist Sommer. Der Birkenwald ist viel heller als unsere mitteleuropäischen Wälder, sonnig bis zu den Füssen. Ich bin allein. Ich war noch nie hier.

Meine Kollegen, mit denen ich diese Russlandreise mache, sind alle in Irkutsk geblieben und hatten keine Lust auf einen Spaziergang. Aus Irkutsk hinaus führte eine unbefestigte Strasse zu ein paar Holzhäuschen, bunt bemalt, hellblau, hellgrün, gelb, putzig, ob bewohnt oder nicht, ist schwierig zu sagen. Niemand zu sehen. Keine Wäsche im Wind. Hinter den Häuschen beginnt der Wald. Ein Trampelpfad führt hinein. Er verliert sich nach wenigen hundert Metern. Immerhin fällt die Orientierung leicht: Ich habe Sonne und den ältesten und tiefsten See der Welt im Rücken. Ich gehe weiter. Hier ist einfach niemand und ob hier jemals oder wann zum letzten Mal einer war, ich weiss es nicht. Kein gefällter Baum, kein Stumpf, keine Spuren menschlichen Tuns.

Die Sonne blinzelt freundlich. Es ist nicht heiss, aber angenehm warm. Ich beginne zu hören – Vogelstimmen, Windstimmen, Baum- und Blätterstimmen. Ich beginne zu riechen, würziger Duft von Birkenrinde, der markige Geruch eines grösseren Tieres, eines Fuchses vielleicht, was weiss ich schon von den Tieren hier? Dann höre ich ein Rascheln von herumgeschobenen Blättern. Ich bleibe stehen und versuche herauszufinden, woher es kommt. Es ist ganz nah, nur wenige Meter von mir entfernt. Jetzt sehe ich, wie sich ein paar Blätter bewegen und wie die Blüten des Heidekrauts erzittern. Auf dem Waldboden krabbelt mir etwas entgegen. Ist es eine Schlange, eine Maus? Ich bewege mich nicht mehr. Jetzt sehe ich ihn, noch zwei Meter von mir entfernt. Es ist keine Maus und auch keine Ratte, sondern ein Hamster.

Aus Büchern weiss ich wie ein Feldhamster aussieht. So einer kommt jetzt auf mich zu und tut so, als ob ich ein Baum wäre oder sonst was, das hierhergehört. Er schnüffelt vor sich her und scheint meinen Geruch zu mögen. Jedenfalls schnüffelt er sich direkt bis an meine Füsse. Er riecht an meinen Schuhen! Er stupst mit seiner Nase gegen meine Zehen. Er hat keine Angst. Er spaziert um mich herum und ich schaue ihm dabei zu, bleibe ganz ruhig stehen, als sei ich hier verwurzelt und fühle mich plötzlich auch so. Als ob ich schon immer hierhergehört hätte. Als ob ich ganz selbstverständlich Teil dieses Birkenwaldes wäre. Und in diesem Moment bin ich das auch. Da zu meinen Füssen wuselt ein lebendiges, wildes Tier, das neugierig auf mich ist, keine Furcht zeigt, mich hier annimmt, so wie ich bin. Und ich stehe da in Harmonie mit mir und der Natur um mich herum. „So muss das alles wohl einmal gedacht gewesen sein“, geht es mir durch den Kopf. Mensch und Tier friedlich und ohne Furcht zusammen. Franz von Assisi kommt mir in den Sinn. Ich habe viel über ihn gelesen. Er konnte mit den Tieren sprechen. Plötzlich scheint mir das gar nicht so weit hergeholt zu sein.

Nach einigen wenigen Minuten geht der Hamster seines Weges. Ohne zu rennen oder zu fliehen folgt er seiner Nase und verschwindet. Ich bleibe noch ein bisschen stehen, geniesse diesen Frieden und diese Ruhe in mir und um mich herum. Dann gehe auch ich.

(Irkutsk, 1989)