Die Stille von Ryoanji

Die Stille von Ryoanji

Eine der grössten Touristenattraktionen von Japan erlebe ich in vollkommener Stille. Nicht weil es heute keine Touristen hat, sondern weil sich ein Schweigen auf sie legt. Dabei besteht die Attraktion bloss aus einer Kiesfläche, 10 auf 25 Meter, mit 15 Steinen drin. Sie wurde um 1500 von einem unbekannten Mönch angelegt und ist inzwischen zum Inbegriff des japanischen Zen-Gartens geworden: Ryoanji.

Ich habe wie alle ein Ticket gekauft und die Schuhe ausgezogen. Und wenn im Zugang noch das Geplauder und Gekicher der freudigen Erwartung herumschwirrt, in einer Ecke der Reiseführer vor dem Modell des Ryoanji einer Touristengruppe den Gartenaufbau erklärt, das Licht von draussen vor der letzten Treppe fast schmerzhaft in den dunklen Gang dringt, ist mit dem einen Schritt in diesen Kiesinnenhof plötzlich alles weg.

Vor allem der Lärm. Auf dem Holzdeck entlang der Kiesfläche sitzen sie, die vorher laut waren, still, andächtig und schauen auf den geharkten Kies. Sogar die Kinder einer Schulklasse verstummen. Und ich werde ebenfalls sofort ruhig, aber vor allem innerlich. Die Ruhe strömt von diesem Zen-Garten aus mit einer solchen Kraft über das Holzdeck, dass sich ihr niemand entziehen kann. Man muss hier gar nicht feinfühlig sein, um das zu spüren.

Es ist eine Stille, die mich hält. Ich kann ihr nichts entgegensetzen. Es gibt hier kein Wort. Alle, jeder und jede ob alt oder jung versinkt im blossen Schauen. Geschaut wird aber nichts. Da sind bloss ein paar mit Moos umwachsene Steine, die lose verstreut im Kies liegen. Ich schaue also ins Leere. Nur dass diese Leere nicht schwarz ist, wie wenn man die Augen schliesst, sondern im Sonnenlicht flimmert. Und natürlich ist auch die Stille nicht so tonlos, wie wenn man einen Ohrstöpsel im Ohr hat, sondern die Holzdielen knarren leise, ab und zu vernehme ich auch ein Flüstern. Aber gerade deshalb wirkt die Leere leerer, die Stille tiefer. Leere und Fülle sind hier eins. Und ich bin ein selbstverständlicher Teil davon. Und noch besser: sie sind auch ein Teil von mir. Aussen ist wie Innen.

Das alles kommt so überraschend und schnell über mich, dass ich das Gefühl habe aus Raum und Zeit zu fallen. Dieser Zustand jenseits von Raum und Zeit dauert wahrscheinlich nur ein paar Augenblicke, ist aber so eindrücklich, dass ich ihn nie mehr vergessen werde. Ryoanji ist ein Wunder. Eine Art ausserirdischer Erscheinung. Eine Reise um die halbe Welt wert.

(Japan, 2006)

Sein wo man ist

Sein wo man ist

Eine Zeit lang bin ich jeden Donnerstagmorgen in unseren Garten gegangen und habe dort zwanzig Minuten lang achtsam gearbeitet; mal Rosen geschnitten, mal Wege gejätet, mal Beeren angebunden, … Das hat mir sehr viel Ruhe in den Alltag gebracht. So viel, dass ich über diese stillen zwanzig Minuten ein kleines Buch geschrieben habe. «Meditatives Gärtnern» (https://www.google.com/search?client=firefox-b-ab&q=Meditatives+G%C3%A4rtnern)

Es sind kurze Texte. Einer davon ist der Folgende:

Sechs Uhr in der Früh. Der Garten ist ohne mich gewachsen in den vergangenen zwei Monaten. Das tut er, einfach so. Das Leben darin hat sich ohne mich abgespielt. Ich stand daneben, einfach so.

Jetzt versuche ich, wieder hinein zu kommen. Die Stille ist schon da, wie sie es immer ist. Sie wartet nur auf mich. Ich gehe hinein. Es hat geregnet in der Nacht. Jetzt donnert es. Ich gehe ein Stück des Weges in den Garten, atme, spüre, wie der Atem kommt und geht, aber nicht fliesst. Dann beginnt es zu tröpfeln. Das Räucherwerk, das ich in den Händen halte, darf nicht nass werden – ich gehe zurück, stelle mich unter das Garagendach, lege das Räucherwerk ins Trockene.

Nur ein warmer Sommerregen, denke ich. Den Hut habe ich vergessen. Ich trete wieder hinaus, spüre die Tropfen auf meinem Schädel, hole die Grasschere und beginne mit Gras schneiden rund um die kleine Buddhastatue aus Stein. Die Messer wetzen gegeneinander, ritsch-ratsch, schön regelmässig. Der Regen hat die Halme gebeugt, gerade so, dass ich deutlich sehen kann, wo ich zu schneiden habe. Ritsch-ratsch ist ein leises, schönes Geräusch, nicht unähnlich demjenigen einer Sichel. Ich schneide gebückt die zwei Quadratmeter, denke an die Millionen von Sicheln, die jetzt gerade, im selben Augenblick den Reis schneiden in Asien, fühle mich verbunden, vergessen ist der Regen, ritsch-ratsch.

Der Buddha kommt frei. Ich hole das tiefgelbe Tuch, das mir eine Leserin geschenkt hat, um unseren Buddha zu schmücken. Es liegt noch im Trockenen. Ich binde es ihm um die Schultern. Es ist Licht. Ich hole die Räucherstäbchen, die sie mitgegeben hat und zünde sie an, trotz Regen. Dann trete ich drei Schritte zurück und blicke ihn an. Ich weiss, dass es nicht stimmt, aber er lächelt jetzt etwas breiter, schaut etwas zufriedener, befreit von Gras und zwei Schnecken, geschmückt mit einem leuchtenden Tuch und dem süsslichen Duft seiner Heimat in der Nase.

Ich lächle auch. Es regnet trotzdem. Ich bin nass. Es ist gut so. Ich gehe zurück, putze die Grasschere und lege sie zurück in den Schrank. Jetzt ist die Achtsamkeit da. Ich spüre, wie die Streichhölzer in meiner Hosentasche gegen den Schenkel drücken, gehe nochmals zurück, um auch sie an ihren Ort zu verstauen. Und weil ich dafür nochmals in den Regen hinaustreten muss, werde ich nochmals nass und genau in diesem Augenblick bin ich verbunden mit all den vielen, die durchhalten, die Disziplin üben, die tun, was getan werden muss, ob es regnet oder schneit, auch wenn es dunkel ist und mühselig und nichts als ihre Pflicht, ihr Tun an dem Ort, an den sie hingekommen sind.

Ihnen widme ich diese Zeilen. Und ihnen wünsche ich, dass sie beschenkt werden, wie ich heute, mit einem hellen, gelben Tuch, das Licht in den Regentag bringt.

(geschrieben am 29.6.06)

Nightwalk im dunklen Wald

Nightwalk im dunklen Wald


Es ist 01.30 Uhr. Ich bin zum ersten Mal zu dieser Stunde allein im Wald. Die Luft hängt voller Flieder, schwer und süss. Mir ist etwas unheimlich. Ich trete in den Wald ein. Der Weg ist gut sichtbar. Es ist weniger dunkel als ich mir vorgestellt habe. Ich höre vor allem meine Schritte und meinen Atem. Die Augen gehen gegen den Himmel, wie immer in der Nacht.

Der dunkle Wald umfängt mich mit einer ungewöhnlichen Wärme. Er ruht viel mehr als ich. Er wird auch ruhen, wenn ich gegangen bin. Er hat mehr Zeit. Ich bekomme eine Ahnung davon, wie es war, als ich noch ungeboren im Bauch meiner Mutter war: warm und dunkel.

Hierin unterscheidet sich das Erlebnis deutlich von Gipfelerlebnissen in den Bergen: die sind rein und klar und erhaben; etwas für den Geist und für den Willen. Der Wald hingegen ist etwas für den Bauch. Hier im Dunkeln steigen Gefühle auf von unten, aus der Tiefe.

Es wird dunkler. Das Blätterdach über mir schliesst sich. Noch ein paar Schritte und ich sehe kaum mehr die Hand vor meinen Augen. Wie in einem Kuhmagen, denke ich. Ich tappe jetzt vorwärts. Die Unsicherheit wächst, doch nach einer kurzen Weile wird sie wieder kleiner. Wunderbar. Meine Füsse beginnen zu sehen. Meine Schritte werden sicherer. Stockdunkel ist es immer noch.

Ich bin jetzt in der Tiefe angekommen. Weitergehen. Ein seltsames Gefühl kommt hoch: Wo höre ich auf und wo beginnt der Wald? Da ich meinen Körper nicht mehr sehe, lösen sich diese Grenzen zwischen Wald und mir auf. Ich bin jetzt im Wald angekommen. Ich habe keinerlei Angst mehr. Grosses Vertrauen breitet sich aus. Mir kann nichts passieren, weder hier im Wald noch sonst wo. Alles ist gut. 

Dann tauchen zwischen Blättern und Stämmen fern wieder erste Lichter der Stadt auf. Die Ruhe zieht sich in mein Inneres zurück. Ich und der Wald sind wieder zwei. Aber ich weiss jetzt: Er wird immer da sein. Ich muss nur hineingehen.

(geschrieben 3.5.2005 nach meinem ersten Nightwalk)

Wir haben aus diesem ersten nächtlichen Spaziergang im Wald ein Projekt gemacht und nächtliche Waldspaziergänge für ein grösseres Publikum angeboten. Hier sind einige Reaktionen von Teilnehmenden:

*** «Ich laufe durch den dunklen Wald, ein Ast knackt, ein Kauz ruft, ein Frosch quakt, die Steinchen knirschen unter meinen Sohlen. Ich spüre eine Kraft, die aus dem Boden kommt, aus dem Wald, aus mir selber. Wunderschön!»

** Allein im Wald, einsam, alles dunkel um mich. Was bin ich schon, inmitten dieses grossen Etwas, das mich umgibt? Klein, unscheinbar, unwichtig. Seltsam, dieses Gefühl von Ohnmacht, obwohl doch alles so friedlich ist um mich herum…Wohin führt mein Weg? – Stille. Warten auf Antworten…Könnten doch die Mächtigen dieser Welt dieses Erlebnis mit mir teilen!! Demut fühlen vor diesem Ewigen. Zeit? Ich kann sie nicht mehr abschätzen, sie ist so unwichtig. Anderes zählt, das überdauert. Stille.

+ Zaghaft die ersten Schritte. Die Ohren eilen voraus. Doch das Knirschen unter den Schuhen bindet sie zurück – Seid still, seid still. Sie gehorchen nicht. Das Knirschen führt mich zurück zu mir, hallt um mich, wickelt mich ein – Rhythmus, Rhythmus… Rhythmus in mir öffnet die Tore für das Spüren des Waldes. Samtige Zartheit der luftigen kühlen Berührung auf den Wangen. Fühlt sich frisch und ermutigend an. Unheimlich das dunkle Etwas an meiner linken Seite. Weit und glänzend, zieht mich magisch an, bis ich “Schlagseite” in mir spüre und über die nächste Wurzel “stürchle”. Könnte es nicht endlich enden! Ungeduld, nervöses Kribbeln, wankende Schritte. Da, von rechts schlägt plötzlich ein Ast auf mich ein, oder war es nur Einbildung?! Das Ducken jedoch echt! Endlich der Senkrechte Leuchtstab – Hallo. Langsam und stetig fällt der Weg ab – Plötzlich aus der Bewegung heraus ein Hüpfen und noch eines. Kindlicher Übermut – fühle mich sicher – getragen – geborgen – möchte lachen und glucksen. Dunklere Stellen – wieder vorsichtigere Schritte – weicher Boden. Der Mond – ah – staunen – aufsaugen – Ruhe draussen und drinnen in mir  – keine Worte mehr. Wahrer Genuss.