
Ich stehe mitten in einem Birkenwald in Sibirien, nicht weit von Irkutsk am Baikalsee. Es ist Sommer. Der Birkenwald ist viel heller als unsere mitteleuropäischen Wälder, sonnig bis zu den Füssen. Ich bin allein. Ich war noch nie hier.
Meine Kollegen, mit denen ich diese Russlandreise mache, sind alle in Irkutsk geblieben und hatten keine Lust auf einen Spaziergang. Aus Irkutsk hinaus führte eine unbefestigte Strasse zu ein paar Holzhäuschen, bunt bemalt, hellblau, hellgrün, gelb, putzig, ob bewohnt oder nicht, ist schwierig zu sagen. Niemand zu sehen. Keine Wäsche im Wind. Hinter den Häuschen beginnt der Wald. Ein Trampelpfad führt hinein. Er verliert sich nach wenigen hundert Metern. Immerhin fällt die Orientierung leicht: Ich habe Sonne und den ältesten und tiefsten See der Welt im Rücken. Ich gehe weiter. Hier ist einfach niemand und ob hier jemals oder wann zum letzten Mal einer war, ich weiss es nicht. Kein gefällter Baum, kein Stumpf, keine Spuren menschlichen Tuns.
Die Sonne blinzelt freundlich. Es ist nicht heiss, aber angenehm warm. Ich beginne zu hören – Vogelstimmen, Windstimmen, Baum- und Blätterstimmen. Ich beginne zu riechen, würziger Duft von Birkenrinde, der markige Geruch eines grösseren Tieres, eines Fuchses vielleicht, was weiss ich schon von den Tieren hier? Dann höre ich ein Rascheln von herumgeschobenen Blättern. Ich bleibe stehen und versuche herauszufinden, woher es kommt. Es ist ganz nah, nur wenige Meter von mir entfernt. Jetzt sehe ich, wie sich ein paar Blätter bewegen und wie die Blüten des Heidekrauts erzittern. Auf dem Waldboden krabbelt mir etwas entgegen. Ist es eine Schlange, eine Maus? Ich bewege mich nicht mehr. Jetzt sehe ich ihn, noch zwei Meter von mir entfernt. Es ist keine Maus und auch keine Ratte, sondern ein Hamster.
Aus Büchern weiss ich wie ein Feldhamster aussieht. So einer kommt jetzt auf mich zu und tut so, als ob ich ein Baum wäre oder sonst was, das hierhergehört. Er schnüffelt vor sich her und scheint meinen Geruch zu mögen. Jedenfalls schnüffelt er sich direkt bis an meine Füsse. Er riecht an meinen Schuhen! Er stupst mit seiner Nase gegen meine Zehen. Er hat keine Angst. Er spaziert um mich herum und ich schaue ihm dabei zu, bleibe ganz ruhig stehen, als sei ich hier verwurzelt und fühle mich plötzlich auch so. Als ob ich schon immer hierhergehört hätte. Als ob ich ganz selbstverständlich Teil dieses Birkenwaldes wäre. Und in diesem Moment bin ich das auch. Da zu meinen Füssen wuselt ein lebendiges, wildes Tier, das neugierig auf mich ist, keine Furcht zeigt, mich hier annimmt, so wie ich bin. Und ich stehe da in Harmonie mit mir und der Natur um mich herum. „So muss das alles wohl einmal gedacht gewesen sein“, geht es mir durch den Kopf. Mensch und Tier friedlich und ohne Furcht zusammen. Franz von Assisi kommt mir in den Sinn. Ich habe viel über ihn gelesen. Er konnte mit den Tieren sprechen. Plötzlich scheint mir das gar nicht so weit hergeholt zu sein.
Nach einigen wenigen Minuten geht der Hamster seines Weges. Ohne zu rennen oder zu fliehen folgt er seiner Nase und verschwindet. Ich bleibe noch ein bisschen stehen, geniesse diesen Frieden und diese Ruhe in mir und um mich herum. Dann gehe auch ich.
(Irkutsk, 1989)