Olymp für Journalisten

Olymp für Journalisten

„Sonnenuntergang in Peking: eine matte Scheibe verbleicht zwei Handbreit über dem Horizont im braunen Dunst. Das Dunkel erbarmt sich der sterbenden, jungen Bäume vor dem Hotel…“ (Die Zeit, 13. Dezember 1985)

So beginnt mein erster Artikel, den ich für «Die Zeit» schreiben durfte. Ich hatte dafür, zusammen mit anderen Wissenschaftsjournalisten, drei Wochen lang China bereist. Und dann an meinem Text gefeilt und gefeilt. Alles umgeschrieben. Wieder gefeilt. Nochmals daran gearbeitet. Und dann endlich, nach wochenlanger Feinarbeit, war er soweit. Ich war so weit. Um das Telefon in die zittrige Hand zu nehmen und die Nummer der Wissenschaftsredaktion der Zeit zu wählen, um ihnen meinen Artikel anzubieten. Diesem Anruf vorangegangen war jahrelange Arbeit für Schweizer Zeitungen, durch die ich mir etwas Renommé und Glaubwürdigkeit verschafft hatte. Vorangegangen war auch ein zufälliges Treffen in Berlin mit dem Wissenschaftsredaktor der Zeit – der zufällig auch Schweizer war. Bei einem (oder zwei oder drei) Bier hatten wir uns spät am Abend darauf verständigt, dass ich ihn mal anrufen dürfe, wenn ich ein gutes Thema hätte. Das war jetzt der Fall.

Und ich brauchte nicht lange, um ihn zu überzeugen. China war heiss. Das Land hatte sich eben erst gegen Westen hin geöffnet. Alle waren neugierig, was dort geschah und ich war einer der wenigen gewesen, die mit der Elite der chinesischen Wissenschaft hatte sprechen können. Trotzdem hatte ich ungeheuren Respekt vor der Zeit. «Die Zeit», das war Marion Gräfin von Dönhoff, eine Journalistenlegende. «Die Zeit» war – und ist es heute noch – der Olymp des deutschsprachigen Journalismus. Würde ich dort aufgenommen werden?

Nach der telefonischen Zusage des Redaktors steckte ich meinen Artikel in ein Couvert (1985 gab es noch keine Email). Dann wartete ich. Die Post brauchte lange. Der Redaktor brauchte lange. Ich wartete lange. Nach zwei Wochen war meine Geduld am Ende. Ich nahm wieder den Telefonhörer in die Hand. Sie zitterte. Ich brauchte drei Anläufe. Dann hatte ich den Redaktor am Draht. Ja, er habe den Artikel bekommen. Ja, aber gelesen habe er ihn noch nicht. Ich solle mich noch etwas gedulden. Wieder geschah nichts und wieder nichts. Zwei lange Wochen. Dann rief ich, noch etwas zittriger, erneut an. Ja, der Artikel sei gut. Er komme in der nächsten Ausgabe. Adrenalin, das sowieso schon im Blut zirkulierte, schoss jetzt ein wie ein Flash. Ich hatte es in «Die Zeit» geschafft! Sie würden einen Artikel von mir abdrucken. Freudentaumelnd stand ich vom Pult auf und hüpfte durchs Zimmer. Ja!!!!!!

Dann wartete ich nochmals eine Woche bis die gedruckte Ausgabe vor mir lag. Ich blätterte sie hastig durch. Wissenschaft kommt immer erst am Schluss. Da stand er, mein Name und mein Text darunter. Ich las ihn. Er war gut. Er war sogar sehr gut. Ich konnte es fast nicht glauben, so gut war er. Aber die eine oder andere Formulierung, kam mir unbekannt vor. Hatte ich das wirklich geschrieben? Ich nahm mein Manuskript hervor und verglich es mit dem gedruckten Text. Satz für Satz. 

Zuerst staunte ich: Da war fast kein Satz gleich! Das war gar nicht mein Text! Das war ein Text, der meinem ähnelte, aber all das Geschliffene und Gefeilte war jetzt fliessender, besser und verständlicher geschrieben – aber nicht von mir! Der Redaktor hatte meinen gesamten Text gründlich überarbeitet! Eigentlich war kaum mehr ein Satz wirklich original von mir. Panik erfasste mich. Hatte ich versagt? War das mein erster und mein letzter Artikel für «Die Zeit» gewesen? 

Nach ein paar Tagen hatte ich meinen ganzen Mut wieder zusammengekratzt und nahm erneut das Telefon in die Hand, um den Zeit-Redaktor anzurufen und mal vorsichtig nachzufragen, ob er denn mit meiner Arbeit zufrieden sei. Aber sicher, ein sehr guter Artikel, meinte er. Und die vielen Korrekturen? Oh, das sei sogar unterdurchschnittlich, beteuerte er. Wir hier im Norden haben einfach einen anderen Sprachduktus als ihr im Süden; aber für einen Schweizer Text hätte er weniger korrigiert als üblich. Und ich solle ihm gerne wieder einen Text schicken, falls ich ein spannendes Thema hätte.

Das habe ich dann auch noch ein paar Mal getan. Bis mein Schweizer Redaktor bei der Zeit durch eine deutsche Kollegin ersetzt wurde.

Die Stille von Ryoanji

Die Stille von Ryoanji

Eine der grössten Touristenattraktionen von Japan erlebe ich in vollkommener Stille. Nicht weil es heute keine Touristen hat, sondern weil sich ein Schweigen auf sie legt. Dabei besteht die Attraktion bloss aus einer Kiesfläche, 10 auf 25 Meter, mit 15 Steinen drin. Sie wurde um 1500 von einem unbekannten Mönch angelegt und ist inzwischen zum Inbegriff des japanischen Zen-Gartens geworden: Ryoanji.

Ich habe wie alle ein Ticket gekauft und die Schuhe ausgezogen. Und wenn im Zugang noch das Geplauder und Gekicher der freudigen Erwartung herumschwirrt, in einer Ecke der Reiseführer vor dem Modell des Ryoanji einer Touristengruppe den Gartenaufbau erklärt, das Licht von draussen vor der letzten Treppe fast schmerzhaft in den dunklen Gang dringt, ist mit dem einen Schritt in diesen Kiesinnenhof plötzlich alles weg.

Vor allem der Lärm. Auf dem Holzdeck entlang der Kiesfläche sitzen sie, die vorher laut waren, still, andächtig und schauen auf den geharkten Kies. Sogar die Kinder einer Schulklasse verstummen. Und ich werde ebenfalls sofort ruhig, aber vor allem innerlich. Die Ruhe strömt von diesem Zen-Garten aus mit einer solchen Kraft über das Holzdeck, dass sich ihr niemand entziehen kann. Man muss hier gar nicht feinfühlig sein, um das zu spüren.

Es ist eine Stille, die mich hält. Ich kann ihr nichts entgegensetzen. Es gibt hier kein Wort. Alle, jeder und jede ob alt oder jung versinkt im blossen Schauen. Geschaut wird aber nichts. Da sind bloss ein paar mit Moos umwachsene Steine, die lose verstreut im Kies liegen. Ich schaue also ins Leere. Nur dass diese Leere nicht schwarz ist, wie wenn man die Augen schliesst, sondern im Sonnenlicht flimmert. Und natürlich ist auch die Stille nicht so tonlos, wie wenn man einen Ohrstöpsel im Ohr hat, sondern die Holzdielen knarren leise, ab und zu vernehme ich auch ein Flüstern. Aber gerade deshalb wirkt die Leere leerer, die Stille tiefer. Leere und Fülle sind hier eins. Und ich bin ein selbstverständlicher Teil davon. Und noch besser: sie sind auch ein Teil von mir. Aussen ist wie Innen.

Das alles kommt so überraschend und schnell über mich, dass ich das Gefühl habe aus Raum und Zeit zu fallen. Dieser Zustand jenseits von Raum und Zeit dauert wahrscheinlich nur ein paar Augenblicke, ist aber so eindrücklich, dass ich ihn nie mehr vergessen werde. Ryoanji ist ein Wunder. Eine Art ausserirdischer Erscheinung. Eine Reise um die halbe Welt wert.

(Japan, 2006)

Franz von Assisi und der Hamster am Baikalsee

Franz von Assisi und der Hamster am Baikalsee

Ich stehe mitten in einem Birkenwald in Sibirien, nicht weit von Irkutsk am Baikalsee. Es ist Sommer. Der Birkenwald ist viel heller als unsere mitteleuropäischen Wälder, sonnig bis zu den Füssen. Ich bin allein. Ich war noch nie hier.

Meine Kollegen, mit denen ich diese Russlandreise mache, sind alle in Irkutsk geblieben und hatten keine Lust auf einen Spaziergang. Aus Irkutsk hinaus führte eine unbefestigte Strasse zu ein paar Holzhäuschen, bunt bemalt, hellblau, hellgrün, gelb, putzig, ob bewohnt oder nicht, ist schwierig zu sagen. Niemand zu sehen. Keine Wäsche im Wind. Hinter den Häuschen beginnt der Wald. Ein Trampelpfad führt hinein. Er verliert sich nach wenigen hundert Metern. Immerhin fällt die Orientierung leicht: Ich habe Sonne und den ältesten und tiefsten See der Welt im Rücken. Ich gehe weiter. Hier ist einfach niemand und ob hier jemals oder wann zum letzten Mal einer war, ich weiss es nicht. Kein gefällter Baum, kein Stumpf, keine Spuren menschlichen Tuns.

Die Sonne blinzelt freundlich. Es ist nicht heiss, aber angenehm warm. Ich beginne zu hören – Vogelstimmen, Windstimmen, Baum- und Blätterstimmen. Ich beginne zu riechen, würziger Duft von Birkenrinde, der markige Geruch eines grösseren Tieres, eines Fuchses vielleicht, was weiss ich schon von den Tieren hier? Dann höre ich ein Rascheln von herumgeschobenen Blättern. Ich bleibe stehen und versuche herauszufinden, woher es kommt. Es ist ganz nah, nur wenige Meter von mir entfernt. Jetzt sehe ich, wie sich ein paar Blätter bewegen und wie die Blüten des Heidekrauts erzittern. Auf dem Waldboden krabbelt mir etwas entgegen. Ist es eine Schlange, eine Maus? Ich bewege mich nicht mehr. Jetzt sehe ich ihn, noch zwei Meter von mir entfernt. Es ist keine Maus und auch keine Ratte, sondern ein Hamster.

Aus Büchern weiss ich wie ein Feldhamster aussieht. So einer kommt jetzt auf mich zu und tut so, als ob ich ein Baum wäre oder sonst was, das hierhergehört. Er schnüffelt vor sich her und scheint meinen Geruch zu mögen. Jedenfalls schnüffelt er sich direkt bis an meine Füsse. Er riecht an meinen Schuhen! Er stupst mit seiner Nase gegen meine Zehen. Er hat keine Angst. Er spaziert um mich herum und ich schaue ihm dabei zu, bleibe ganz ruhig stehen, als sei ich hier verwurzelt und fühle mich plötzlich auch so. Als ob ich schon immer hierhergehört hätte. Als ob ich ganz selbstverständlich Teil dieses Birkenwaldes wäre. Und in diesem Moment bin ich das auch. Da zu meinen Füssen wuselt ein lebendiges, wildes Tier, das neugierig auf mich ist, keine Furcht zeigt, mich hier annimmt, so wie ich bin. Und ich stehe da in Harmonie mit mir und der Natur um mich herum. „So muss das alles wohl einmal gedacht gewesen sein“, geht es mir durch den Kopf. Mensch und Tier friedlich und ohne Furcht zusammen. Franz von Assisi kommt mir in den Sinn. Ich habe viel über ihn gelesen. Er konnte mit den Tieren sprechen. Plötzlich scheint mir das gar nicht so weit hergeholt zu sein.

Nach einigen wenigen Minuten geht der Hamster seines Weges. Ohne zu rennen oder zu fliehen folgt er seiner Nase und verschwindet. Ich bleibe noch ein bisschen stehen, geniesse diesen Frieden und diese Ruhe in mir und um mich herum. Dann gehe auch ich.

(Irkutsk, 1989)

Jassen mit Inäni

Jassen mit Inäni

Keine Ahnung weshalb wir unsere Grossmutter «Inäni» nannten. Sie wohnte bei uns. Wir wussten, wo sie die Schokolade versteckt hielt, und sie wusste, dass wir es wussten. Ich habe sie geliebt. Ihr Wort hatte Gewicht für mich und ich erinnere mich heute noch, wie sie mir einmal entrüstet entgegenschleuderte: „Du bist ein Moloch!“ Das heisst laut Wikipedia «gnadenlose, alles verschlingende Macht». Sie gebrauchte diesen Kraftausdruck als wir zusammen Karten spielten (Jassen auf Schweizerdeutsch.) Das taten wir jeden Mittag nach dem Essen. Wahrscheinlich hatte ich eine Gewinnsträhne. Ich weiss heute noch, wie sich so etwas anfühlte – «gnadenlos» hat da durchaus seinen Platz.

Dieses rituelle Kartenspielen war Teil meines Familienerlebnisses, ebenso wie der wöchentliche Ausflug mit meinem Vater auf den Tennisplatz, jeden Samstag und fast jeden Sonntag. Diese Rituale lieferten das Gitter in dem sich der ganze Rest entfalten konnte. Dass es keine Kirchenbesuche waren, sondern Tennisplätze war typisch für diese Zeit in den 60er und 70er Jahren. Und dass es meine Grossmutter und nicht meine Mutter war, die noch jeden Tag Zeit hatte für ein Spielchen, war in der aufkommenden Frauenemanzipationsbewegung ebenso typisch.

Aber Inäni war noch in einer anderen Hinsicht beeindruckend. Sie hatte viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen, aber da war keine Bitternis, sondern eine Herzensgüte, die mir wohltat und die ich bewunderte. Ich hing an ihr und als sie eines schönen Tages 1973 vor meinen Augen umkippte – Herzstillstand – war das der erste grosse, tragische Verlust meines Lebens.

Rückblickend ist «Verlust» aber das falsche Wort. Seit Jahrzehnten trage ich meine Grossmutter in meinem Herzen. Sie ist da, so wie sie damals für mich da war. Einfach so, ohne gross Aufhebens davon zu machen.

Reifeprüfung

Reifeprüfung

Französisch in der Schule war Stress pur! Wie habe ich mich doch abgeplagt! Statt Élégance nur Sperrigkeit im Rachen. Statt Jonglieren im Mund nur Knoten in der Zunge. Ich konnte mir die Wörter nicht merken und das Verwenden der verschiedenen Zeitformen war immer reine Glückssache – Stichwort: Subjonctif!

Deshalb musste ich in diesem Fach richtig viel lernen. Trotzdem blieben meine Noten im Keller. Rumms eine 2. Dann wieder eine 3-4. Wenn mal ein 4-5 mit roter Tinte auf dem Test stand, war ich schon überglücklich. Und dies trotz eines tollen Lehrers, der witzig war, charmant, voller Lebensfreude und Schalk. Ich mochte ihn, auch wenn ich Französisch hasste.

Vorsprechen war das Schlimmste. Wie ein Idiot stammelte ich irgendwie irgendwas falsch betont und grammatikalisch unsinnig vor mich hin. Das Blut schoss mir ins Gesicht, die Knie waren weich. Ich war ein hoffnungsloser Fall. Bis zur Matura.

Nach sieben Jahren Gymnasialzeit. Nach sieben Jahren accent aigu, grave und circonflexe kam es zur Abschlussprüfung. Mündliche Prüfung, das hiess: alleine rein ins Zimmer und vor dem Franzlehrer und einem Experten über André Gide reden. Gide war mein Lieblingsautor, neben Camus. Ich legte mich ins Zeug, redete mich heiss, vergass, dass ich eigentlich gar kein Französisch konnte. Und mein Lehrer lächelte die ganze Zeit vor sich hin. „Gratulations Reto“, sagte er am Ende und entliess mich etwas verblüfft. Die schriftliche Prüfung war dann wieder dasselbe Desaster wie jede Französisch-Prüfung der letzten sieben Jahre. Aber dann kam der Abschlussabend, an dem die Noten bekannt gegeben wurden.

Wer nicht bestanden hatte wurde diskret vorher informiert und musste nicht an der Abschlussfeier erscheinen. In meinem Jahrgang waren das nur zwei Schüler. Alle andern sassen in der Aula. Es wurden Reden gehalten. Die Stimmung war ausgelassen. Alle freuten sich auf die Maturafeste, die die einzelnen Klassen organisiert hatten. Es ging bei diesem offiziellen Teil eigentlich nur darum, möglichst schnell das Zeugnis ausgehändigt zu bekommen, um nachher die Korken knallen zu lassen. 

Aber dann geschah das für mich Unerwartete. Ich wurde zum Zweitbesten meines Jahrgangs ausgerufen. Trotz Französisch? Ich konnte es nicht glauben! Ich betrat die Bühne um das Zeugnis abzuholen, unsicher, ob es sich nicht doch noch als Irrtum herausstellte. Aber nein, alle klatschten und ich nahm das Zeugnis und die Gratulationen des Rektors entgegen. Dann starrte ich in mein Zeugnis und da stand sie, die Note für mein Französisch: Es war keine Ungenügende, auch keine 4, sondern eine glatte 5. Ich konnte es kaum fassen! Blickte zum Französischlehrer hinüber, fragenden Auges, aber der lächelte bloss zurück. „Du hast es dir verdient“, sagte sein Blick. Und wie ein Flash rasten all die unsäglichen Tests und Noten an mir vorbei, all das Geknurze, das Unverständnis, das Leiden mit dieser Sprache, aber das Lächeln meines Französischlehrers blieb. Und es versöhnte mich mit einer ganzen Weltsprache. Dankbarkeit überflutete mich. Das ganze Maturitätszeugnis war eigentlich egal, aber diese 5 im Französisch, die bedeutete etwas. Sie öffnete das Tor zu einer anderen Kultur. Zur Grande Nation. Zu einem anderen Verständnis von Noten. Diese 5 war ein Bund fürs Leben mit einer Sprache, die mir nicht liegt, aber für die ich dankbar bin, dass es sie gibt. Und seither gehe ich gerne in dieses Land und war schon sehr oft da. Und werde bald wieder hingehen.

PS: André Gide, zum Beispiel „Der Immoralist“, habe ich auf deutsch gelesen 😉

(Matura, Sommer 77)

Der Federer-Effekt

Der Federer-Effekt

Plötzlich sehe ich es. 

All die Jahre, in denen ich Tennis spiele, habe ich es nicht gesehen. Jetzt ist die Sicht da. Ich stehe mit einem Freund auf dem Platz in der Tennishalle Pilatus und realisiere mit einem Mal, wie absolut unglaublich es ist, überhaupt den Ball zu treffen. Ich nehme wahr, mit welch unfassbarem Zusammenspiel aller Muskeln und Sinne er den Ball zum Service hochwirft, ihn trifft und in mein Feld spielt. Und wie in Zeitlupe verfolge ich, wie meine Augen diesen Ball fixieren und mein Gehirn gleichzeitig aus sämtlichen Rohren schiesst, um meine Muskeln dorthin zu bewegen, wo ich den Ball treffen soll. Es kommt mir ganz und gar unwirklich vor, wie so etwas, solch eine Bewegung überhaupt auszuführen ist. Und wie ich mich gleichzeitig mit allen Sinnen im Raum orientiere, die richtige Stellung zum Ball finde, aushole und den Schlag führe. Es ist ein wunderbarer Tanz. Vollkommen perfekt in sich. Es ist ein irrsinniges Zusammenfliessen und Verströmen von Energien, von Reizen, von Antworten darauf. Und alles geschieht in natürlicher Eleganz, eben wie ein Tanz. 

Man könnte auf die Idee kommen, dass das eine Erleuchtung auf dem Tennisplatz war.

Am nächsten Tag schaue ich dann Roger Federer im Fernsehen zu und habe dieses Erlebnis in abgeschwächter Form (höchstens noch 10%) nochmals.

Viel Vergnügen beim Australian Open!!

(Tennisplatz, November 2017)

Der USP von 60+

Der USP von 60+

«Loslassen». Das Wort springt mich von überall her an. Meine Freunde reden darüber, Meditationslehrer üben es ein, in den Führungsetagen von Unternehmen ist es ein grosses Thema, sogar mein Masseur spricht von «Loslassen». Offenbar bin ich in dem Jahrzehnt meines Lebens angekommen, in dem Loslassen als Titelmelodie gespielt wird. Egal ob mir die Melodie gefällt oder nicht.

Ist das «Loslassen» ein USP (unique selling point) mit 60? Etwas das wir besser können, als damals als wir 50 waren? Oder 40? Oder sollen wir doch lieber Golf spielen, Kreuzfahrten buchen, einen Hund Gassi führen, teure Autos und eine Ferienwohnung kaufen? Und uns dann fragen war’s das?

Ich zum Beispiel kann mehr sein lassen. «So wie es ist, so ist es gut.» Diesen Spruch, der als Kalligraphie seit zwanzig Jahren bei mir an der Wand hängt, kann ich langsam aber sicher akzeptieren. Ich kann mich in Frieden lassen. Ich muss weniger. Ich bin nicht mehr so getrieben, wie noch mit 50 und erst recht mit 40. Ich lasse mich nicht mehr so schnell aus der Ruhe bringen. Nehme nicht mehr alles so persönlich. Auch die Welt muss ich nicht mehr retten, weil ich langsam erkenne, dass die Welt schon recht gut für sich selber schauen kann. Mein Freund, der kürzlich in China über einen grossen Platz spaziert ist, sagt: „Inmitten all der Chinesen habe ich plötzlich erkannt, wie unbedeutend ich bin. Würde jetzt ich oder irgendeiner dieser Chinesen plötzlich in einem Erdloch verschwinden, es wäre vollkommen egal.“ Das stimmt natürlich nicht, weil wir dann nicht mehr jeden Montag miteinander Kaffee trinken und philosophieren könnten; aber ich weiss, was er damit gemeint hat.

Also ab ins Kaffee oder unter die Platanen, Boule-spielen, wie es die alten Männer in Südfrankreich tun? Dummerweise wählen viele dieser Boule-spieler den Front national. Ich nicht. Und deshalb ist es nicht so einfach mit dem Loslassen. Boule-spielen ist keine Lösung. Front national wählen bedeutet eben auch: Festhalten am alten. Es bedeutet, dass man überzeugt ist, dass früher alles besser war. Dass man recht hat. Dass man eigentlich weiss, wie man es machen müsste. 

Mein neues Lebensgefühl am Anfang dieses siebten Lebensjahrzehnts ist anders. An guten Tagen stehe ich auf und bin überrascht, wie tief ich geschlafen habe. Ich erinnere mich an einen Traum und hänge ein paar Momente diesen Erinnerungen nach. Dann merke ich beim Aufstehen, dass meine Beine etwas steif sind, aber das geht in Ordnung. Ich steige die Treppe hinab, mache Frühstück für mich, freue mich, wenn eins der Kinder sich zu mir setzt, beklage mich nicht, wenn es nichts sagt, sondern einfach seine Cornflakes in sich hineinstopft. Vielleicht liefert die Sonne ein Sonnenaufgangsspektakel, vielleicht auch nicht. Und so geht es weiter. Der Tag kommt auf mich zu. Er überrascht mich. Er ärgert mich. Das Wetter ist gut oder schlecht. Ich nehme es hin. Die Schnecken im Garten haben am frisch gepflanzten Ysop geschleimt und gefressen, aber die Wegwarte steht unversehrt, gut so. Ich freue mich aufs Kaffeetrinken mit meinem Freund. Schaue kurz im Büro vorbei und erledige, was zu erledigen ist. Ich bin frei von Stress. Ich kann mit meinen Kolleginnen über Ferien plaudern, aber ich muss nicht. Ich kann meine Meinung zum neuen Geschäftsbericht sagen, sie hören mir zu, aber ob sie beherzigen, was ich von mir gebe, ist ihre Sache. Und immer wieder, während dieses ganzen, schönen, langen Tages sehe ich, was die Welt alles zu bieten hat. Und ich sehe, dass ich frei bin, mich darauf einzulassen oder auch nicht. Das ist sehr entspannt. Das fühlt sich gut und richtig an. Das hat Weite und Tiefe. An einem solchen Tag ist nichts Grossartiges erreicht worden, aber es war ein guter Tag in Frieden mit mir und der Welt.

Es gibt auch die schlechteren Tage, an denen sich der Frieden nicht einstellt, an denen ich immer noch meine, ich müsse, an denen etwas nicht so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe und ich damit nicht klarkomme. Tage an denen ich damit hadere, dass ich nicht wie ein junger Hund aus dem Bett springe, an denen der Rücken schmerzt und ich darunter leide. Dann bin ich nicht im Tao, zweifle an mir und der Welt, weiss nicht, was ich mit mir und der Welt anfangen und was in den nächsten zehn Jahren noch abgehen soll. Aber wenn ich an solch schlechten Tagen viel Glück habe, erkenne ich irgendwann oder vielleicht erst wenn die Nacht hereinbricht, dass auch das sein darf. Dass weder meine Frau noch meine Kinder mich weniger lieben oder mich verlassen, selbst wenn ich einen Tag lang nörgelig und unleidig war. Und dass die Welt mir am nächsten Tag genau den gleichen Strauss an Fülle und Wundern anbieten wird und ich wieder die Möglichkeit und Freiheit haben werde, dies anzunehmen oder halt nicht.

Es ist dieses neue Lebensgefühl, dass wir im siebten Jahrzehnt als USP und als Fortschritt anzubieten haben. Es ist ein Kunststück und eine Herausforderung. Das war es aber schon immer. Wenn wir die Herausforderung nicht annehmen, landen wir beim Front national, der SVP oder der AfD. Aber wenn uns das Kunststück gelingt, sehen wir die volle Weite und Tiefe des Himmels und das ist nicht nichts.

(14.11.2018)

Sein wo man ist

Sein wo man ist

Eine Zeit lang bin ich jeden Donnerstagmorgen in unseren Garten gegangen und habe dort zwanzig Minuten lang achtsam gearbeitet; mal Rosen geschnitten, mal Wege gejätet, mal Beeren angebunden, … Das hat mir sehr viel Ruhe in den Alltag gebracht. So viel, dass ich über diese stillen zwanzig Minuten ein kleines Buch geschrieben habe. «Meditatives Gärtnern» (https://www.google.com/search?client=firefox-b-ab&q=Meditatives+G%C3%A4rtnern)

Es sind kurze Texte. Einer davon ist der Folgende:

Sechs Uhr in der Früh. Der Garten ist ohne mich gewachsen in den vergangenen zwei Monaten. Das tut er, einfach so. Das Leben darin hat sich ohne mich abgespielt. Ich stand daneben, einfach so.

Jetzt versuche ich, wieder hinein zu kommen. Die Stille ist schon da, wie sie es immer ist. Sie wartet nur auf mich. Ich gehe hinein. Es hat geregnet in der Nacht. Jetzt donnert es. Ich gehe ein Stück des Weges in den Garten, atme, spüre, wie der Atem kommt und geht, aber nicht fliesst. Dann beginnt es zu tröpfeln. Das Räucherwerk, das ich in den Händen halte, darf nicht nass werden – ich gehe zurück, stelle mich unter das Garagendach, lege das Räucherwerk ins Trockene.

Nur ein warmer Sommerregen, denke ich. Den Hut habe ich vergessen. Ich trete wieder hinaus, spüre die Tropfen auf meinem Schädel, hole die Grasschere und beginne mit Gras schneiden rund um die kleine Buddhastatue aus Stein. Die Messer wetzen gegeneinander, ritsch-ratsch, schön regelmässig. Der Regen hat die Halme gebeugt, gerade so, dass ich deutlich sehen kann, wo ich zu schneiden habe. Ritsch-ratsch ist ein leises, schönes Geräusch, nicht unähnlich demjenigen einer Sichel. Ich schneide gebückt die zwei Quadratmeter, denke an die Millionen von Sicheln, die jetzt gerade, im selben Augenblick den Reis schneiden in Asien, fühle mich verbunden, vergessen ist der Regen, ritsch-ratsch.

Der Buddha kommt frei. Ich hole das tiefgelbe Tuch, das mir eine Leserin geschenkt hat, um unseren Buddha zu schmücken. Es liegt noch im Trockenen. Ich binde es ihm um die Schultern. Es ist Licht. Ich hole die Räucherstäbchen, die sie mitgegeben hat und zünde sie an, trotz Regen. Dann trete ich drei Schritte zurück und blicke ihn an. Ich weiss, dass es nicht stimmt, aber er lächelt jetzt etwas breiter, schaut etwas zufriedener, befreit von Gras und zwei Schnecken, geschmückt mit einem leuchtenden Tuch und dem süsslichen Duft seiner Heimat in der Nase.

Ich lächle auch. Es regnet trotzdem. Ich bin nass. Es ist gut so. Ich gehe zurück, putze die Grasschere und lege sie zurück in den Schrank. Jetzt ist die Achtsamkeit da. Ich spüre, wie die Streichhölzer in meiner Hosentasche gegen den Schenkel drücken, gehe nochmals zurück, um auch sie an ihren Ort zu verstauen. Und weil ich dafür nochmals in den Regen hinaustreten muss, werde ich nochmals nass und genau in diesem Augenblick bin ich verbunden mit all den vielen, die durchhalten, die Disziplin üben, die tun, was getan werden muss, ob es regnet oder schneit, auch wenn es dunkel ist und mühselig und nichts als ihre Pflicht, ihr Tun an dem Ort, an den sie hingekommen sind.

Ihnen widme ich diese Zeilen. Und ihnen wünsche ich, dass sie beschenkt werden, wie ich heute, mit einem hellen, gelben Tuch, das Licht in den Regentag bringt.

(geschrieben am 29.6.06)

Klettern heisst Spreizen

Klettern heisst Spreizen

Fontainebleau tönt nach Louis XIV, Schloss in Frankreich. Das ist es auch. Aber ums Schloss herum gibt es einen Wald. Und dieser Wald ist eine einmalige geologische Besonderheit: In ihm liegen zehntausende von grösseren und kleineren Sandsteinblöcken verstreut, die sich ideal dazu eignen, um auf ihnen herumzuklettern. «Bouldern» nennt man das. Im Wald von Fontainebleau wurde das «Bouldern» erfunden und er ist heute der Gral der Boulderwelt.

Die Felsen sind nicht hoch, sechs Meter vielleicht die grössten; die meisten kleiner. Auf fast jedem Felsen ist, oft kaum sichtbar, ein farbiger Punkt gemalt, der den Schwierigkeitsgrad des Kletterns bezeichnet. All dies ist fein säuberlich in Boulderkarten festgehalten. Man schnappt sich also so eine Karte, probiert aus, ob man orange, blau oder schwarz klettern kann und wählt dann eine orange, blaue oder schwarze Tour aus, die einen von Fels zu Fels, oft in einer Rundtour durch den Wald führt.

Bevor man zu Klettern beginnt, zieht man sich «Kletterfinken» über die Füsse. Diese Spezialschuhe sind so eng, dass es weh tut. Aber sie garantieren Halt und engsten Kontakt zwischen Fuss und Fels. Den braucht man.

Ich als Anfänger nehme mir zuerst ein paar einfache Brocken vor. Ich sehe die kleinen Vorsprünge, auf die ich stehen muss, kann den Verlauf der Kletterstufen vom Boden aus nachvollziehen, beginne hochzuklettern und stehe schon bald auf dem ersten, dann dem zweiten, dritten, vierten Brocken. Das ist jedes Mal ein Erfolgserlebnis. 

Dann wechsle ich die Farbe, klettere eine Stufe schwieriger. Die Vorsprünge werden kleiner. Die Anforderungen steigen. Oft kann ich mich nur dank meiner langen Beine und Arme hochziehen. Aber noch geht es. Noch sind die Erfolgserlebnisse häufig.

Nochmals wechsle ich die Farbe. Hier sehe ich noch einzelne Tritte, dazwischen aber ist nichts und es ist nicht klar, wie ich vom einen auf den anderen Tritt kommen soll – ich habe meine Kletterstufe gefunden: die drittleichteste Liga. Ich brauche jetzt mehrere Anläufe bis ich oben ankomme. Einzelne Felsen gehen gar nicht. Ich hänge dann dort irgendwie drin, sehe nicht, wie es weitergehen soll und muss wieder abspringen auf den Boden, um eine neue Route zu probieren. Ich komme ins Schwitzen. Ich lerne, dass ich ganz nah zum Fels gehen muss, der Bauchnabel muss über den Stein schleifen. Ich lerne von einem erfahrenen Kletterer den Satz «Klettern heisst Spreizen». Wenn manchmal kein Tritt, kein Vorsprung vorhanden ist, muss man sich irgendwie zwischen zwei Felsspalten hineinspreizen und dort Halt finden. Gar nicht einfach! Oder man klettert einer einzigen Spalte entlang und verspannt in einem Kraftakt die Arme mit der Spalte, um so hochzukommen.

Manchmal stehe ich auch vor einem Brocken, auf dessen Flanke auf den ersten Blick gar nichts zu sehen ist, kein Tritt, keine Spalte, kein Vorsprung. Erst beim Absuchen entdecke ich da und dort eine kleine Wölbung oder einen winzigen Riss. Das ist dann ganz schwierig und für mich oft nur mit Hilfe meiner Mitkletterer zu lösen, die mehr Erfahrung haben. Doch je schwieriger es wird, umso faszinierender wird es auch. Es ist wie eine Rätselaufgabe, bei der Kopf und Körper zusammenarbeiten müssen. Ganz fokussiert. Ich muss mit dem Fels verschmelzen, ihn zu mir nehmen, damit ich ihn besteigen kann. Wenn das gelingt, ist es ein herrliches Flow-Erlebnis.

(2009)