Integrale Kommunikation in einem Hörsaal

Integrale Kommunikation in einem Hörsaal

Ich gebe seit über zwanzig Jahren eine Vorlesung an einer der besten Hochschulen der Welt. Nur dass ich sie nicht gebe, sondern sie empfange und es auch keine Vorlesung ist, sondern ein Experiment und eine Erfahrung, wie Kommunikation zwischen Menschen gelingen kann. Das läuft folgendermassen ab:

Zu Anfang fordere ich die Studierenden auf, sich ihre Ohren zu massieren. Für Leute, die zu spät kommen und dieses Ritual noch nicht kennen, wirkt das einigermassen skurril. Sie platzen dann in eine «Vorlesung» und sehen als erstes zwei bis drei Dutzend Kommilitonen, die sich die Ohren kneten, inklusive eines Dozenten, der mit derselben Tätigkeit beschäftigt ist.

Dieses Massageritual zögert den Moment hinaus, in dem ich etwas sagen muss. Beziehungsweise es stimmt auf ihn ein. Denn um Einstimmung im wahrsten Sinne des Wortes geht es.

Wenn ich dann den Mund aufmache, weiss ich nicht was rauskommt. Ich folge in diesem Moment meiner Intuition. Ich habe keine bestimmte Absicht. Will nichts Bestimmtes lehren, sondern stehe einfach mit meinem Wissen und meiner Erfahrung da, um sie zu teilen. Was geteilt wird, wie es geteilt und wie es mitgeteilt wird überlasse ich dem Augenblick.

„Kommunikation stammt aus dem Lateinischen communicareund bedeutet teilen, mitteilen, teilhaben lassen, gemeinsam machen, vereinigen.“ (wikipedia). Normalerweise geht das Mitteilen von einem Sender aus und trifft den Empfänger. Der Sender verfolgt dabei ein Ziel, will eine Botschaft rüberbringen. Normalerweise scheitert dieses Unterfangen, zumindest ist das meine Überzeugung nach vierzig Jahren professioneller Kommunikationsarbeit. Der Grund für dieses Scheitern liegt kurz gesagt darin, dass auf diese Weise nichts wirklich geteilt wird. Es wird etwas rübergeschoben, so wie man ein Paket über den Tisch schiebt. Das genügt jedoch nicht und bewirkt nichts – mit Ausnahme von simplen Informationspaketen wie «bei der nächsten Kreuzung links abbiegen». Deshalb verfolge ich in meiner Vorlesung, die keine ist, einen anderen Ansatz. Dieser Ansatz ist eine Mischung aus zwei Erfahrungsbereichen, die ich «Flow» und «Resonanz» nenne. Wie sieht das konkret aus? 

Wie ein Freund von mir einmal treffend bemerkte: „Im Fluss sein kann man nur, wenn man den Boden unter den Füssen verliert.“ Bildlich gesprochen steige ich nach der Ohrenmassage nackt in diesen Fluss, stosse mich ab vom Ufer und lasse mich treiben. Und meistens legen meine Zuhörerinnen und Zuhörer nach einiger Zeit ebenfalls ihre schützenden Hüllen ab und gleiten ins Wasser. Dann treiben wir gemeinsam mit der Strömung. Diese Strömung ist der uns umspülende Bewusstseinsstrom. Was dabei auftaucht bestimmen wir gemeinsam, nicht ich allein. Dabei findet spürbar eine Öffnung statt, sowohl bei mir als auch bei einer Mehrheit der Studierenden. Es erscheinen dabei zum Teil sehr persönliche Erfahrungen; aber indem sie auftauchen verlieren sie ein Stück weit ihre Intimität und fliessen einfach ein, in das Miteinander-Reden und sich Einander-Zeigen.

Nach 15 Jahren Schulzeit, das heisst nach 15 Jahren Erdulden dieses epischen Wissenstransfers wirkt das Eintauchen in den Bewusstseinsstrom ungemein entspannend. Es ist die Erfahrung, dass wir als Menscheneinander etwas zu sagen haben, unabhängig von unserem Wissen. Etwas kommt dabei in Schwingung und diese Schwingung nehmen wir wahr. An uns selbst und an den anderen. Wenn das passiert entsteht ein Klang, wie derjenige eines Orchesters. Und wie bei einem Orchester muss weder das Piano noch die Trompete recht haben, sondern alle Instrumente geben ihres, um einen runden, schwingenden Klangkörper zu schaffen. So läuft das auch in dieser Vorlesung. Die Studenten und ich machen die Erfahrung, dass wir miteinander kommunizieren können und dass dadurch etwas in Bewegung kommt. Das ist ganz grundlegend, aber für viele, die hier im Hörsaal sitzen, ist es das erste Mal, dass sie ein solches Kommunikationserlebnis haben.

Es ist eine schlichte Erfahrung, die wir da machen. Eine aussergewöhnliche Erfahrung an einer Hochschule, aber eine wertvolle. Und sie mündet in die schlichte Erkenntnis, dass wir als Menschen einander etwas zu sagen haben. Dass wir füreinander bedeutungsvoll sind. Erst jetzt, wenn wir uns in diesem Bewusstseinsstrom treiben lassen, kann ich mein Wissen und meine Erfahrungen teilen. Erst jetzt bekommen sie eine Bedeutung und nur wenn sie eine Bedeutung haben, können sie wirken.

Ich wollte als Junge immer Dirigent werden. Aber damals habe ich mir das als machtvolle Position vorgestellt. Und so ist es nicht. Wenn die Musik erst einmal spielt, ist es einfach ein Entspannen, in dem was da an Schwingungen und Tönen auftaucht. Und es so geniessen und sein lassen, stimmig wie es ist.

Der Vorlesungstitel heisst «Integrale Umweltkommunikation». Die Vorlesung, die keine ist, findet jeweils im Herbstsemester an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich statt.

Mondwanderung Bödmeren-Silberen

Mondwanderung Bödmeren-Silberen

Die Magie einer Mondnacht, die einen silbernen Schein über die Karstlandschaft legt – das wollten wir erleben.

Losgewandert sind wir vom Bödmerenwald, dem grössten Urwald des Alpenraums. Er liegt am Pragelpass im Kanton Schwyz, in der Schweiz. Manche der Bäume hier sind 500 Jahre alt, Fichten mit meterlangen Bart-Flechten behangen, wie im Wald Fangorn aus dem «Herr der Ringe» von Tolkien. Kein Mensch weit und breit, ausser ein junger Freund von mir und ich. Er geht voran, auf Wegen die mehr Trampelpfade sind als Wege. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen. Schaut, weist mich auf besondere Blumen hin, auf spezielle, riesige, von Moosen und Farnen überwucherte Steine, auf die phantastischen Wuchsformen von Ästen der alten Fichten. Er hat ein gutes Auge, das ehrfürchtig auf diese unberührte Natur schaut.

Wir reden nicht viel. In der Stille schwingen wir uns ein auf diesen Ort hier und auf uns. Hier stimmt alles. So wie es ist, so ist es gut. Das Wachstum dieser riesigen Bäume ist gut. Und wenn der Sturm einen alten fällt, ist es auch gut, selbst wenn der alte einige Junge unter sich begräbt. Die Erde hier ist in ihrer vollen Kraft und wir spüren, dass sie uns daran teilhaben lässt.

Je weiter wir den Berg hoch wandern, um so lichter wird der Wald. Am Mittag haben wir die Waldgrenze erreicht und machen ein Picknick. Es geht uns gut. Wir haben etwas zu essen, zu trinken, sitzen in einer der grossartigsten Landschaften der Schweiz und fühlen, dass wir hier und jetzt gemeinsam etwas erleben, das aussergewöhnlich wertvoll und schön ist.

Dann geht’s weiter hinauf, über die Baumgrenze. Vor uns entfaltet sich die Karstlandschaft, hell fast grell glänzend im Sonnenschein. Wir kommen ins Schwitzen. Auch weil wir die Wege ab und zu verlieren, uns verlaufen, neu suchen müssen, uns neu orientieren müssen. Trotzdem ist es herrlich. Wir sind vollkommen für uns. Inmitten dieser phantastischen Natur. Wir wandern über arg zerklüftete Felsrücken, federn durch Moore, entdecken kleine Seen und Tümpel. Der Wind pfeift an gewissen Ecken und nutzt die Karren und Schratten als Orgelpfeifen. Wir fühlen uns in eine andere Welt versetzt. Die Düfte, die Formen, die Töne, die Einsamkeit, alles zusammen wirkt entrückt, irreal.

Es ist eine weite Wanderung. Stunde um Stunde vergeht und wir spüren, wie wir langsam ermüden. Die Dämmerung legt sich über uns. Es wird dunkler und dunkler. Wir rasten erneut. Diesmal an einem kleinen Tümpel. Wir sind erschöpft. Essen, was wir noch haben. Und dann geht der Mond auf. Er erscheint über dem Berggipfel und spiegelt sich im Wasser des Teiches. Es fühlt sich an wie ein Zauberschlag. Plötzlich verwandelt sich die dunkle Landschaft in ein Bild von Formen, die allesamt mit einem silbrig glänzenden Schleier überzogen sind. Von oben scheint der volle Mond, von unten scheint die Erde zurück. Uns laufen die Augen über. So schön ist das. Es gibt gar nichts mehr zu sagen. Wir staunen nur. Sind selber verzaubert. Sehen wie der andere auch feuchte Augen bekommt von alldem Zauberhaften, das sich vor uns ausbreitet.

Leise packen wir unsere Rucksäcke zusammen und machen uns auf den Weg durch dieses Zauberland. In dem jeder einzelne Stein glänzt. Jeder Ast plötzlich von Silber überzogen ist. Jeder Halm eine Silbersträhne. Der Rückweg hinunter zum Pragelpass ist noch weit. Wir gehen ihn in einer Art Trance, bezaubert und vollkommen erschöpft. Als wir endlich unten auf der Passstrasse ankommen, fallen wir uns in die Arme. Wir können kaum noch stehen und hängen aneinander, drücken einander, atmen einander ein und realisieren, dass wir zusammen etwas Surreales und etwas Esoterisches erlebt haben, das wir nie vergessen werden. Und noch in dieser Umarmung kommen wir beide langsam wieder in der realen Welt an. Der Zauber, der uns eben noch vollständig umfangen hat, weicht zurück, wie ein leichter Nebel, der vom Wind weggetrieben wird. Wir öffnen die Augen, lösen uns, blicken einander in die Augen. Es ist ein tiefer Blick. Ein Lächeln. Ein gemeinsames Abschiednehmen und Zurückkehren in die normale Welt jenseits der Magie einer Mondnacht.

(2009)

Bitte anschnallen

Bitte anschnallen

Im Bergwald von Laax erkunde und ersinne ich einen Pfad, der Touristen die Natur der Alpen nahebringen soll. Über ein Dutzend Stationen habe ich mir bereits ausgedacht. Es soll Duftglocken geben, unter denen die Wanderer in Arven-, Tannen- und Erikawolken eintauchen. Oder Liegen aus Moos, auf denen sie die Stille eines Bergwaldes geniessen können. Oder ein Baumstamm-Xylophon, das bespielt werden kann. Der Wegverlauf und die einzelnen Stationen sind inzwischen schon ziemlich klar. Deshalb laufe ich heute den Weg nochmals ab und teste, ob auch der Rhythmus stimmt; also ob in sinnvollen Abständen die nächste Station auftaucht oder ob es Lücken gibt. Und tatsächlich: nach ungefähr zwei Dritteln der Wegstrecke gibt es eine ganze Weile lang keine Station. Der Wald ist dort sehr licht, grosse alte Einzelbäume stehen verstreut, der Jungwuchs ist spärlich, es gibt Polster von Heidelbeeren und Böschungen mit Erika, viel Moos auch.

Ich schaue mich um. Der grösste Einzelbaum ist eine alte Buche, die etwas vom Weg entfernt steht. Ich gehe zu ihr hin und stelle mich darunter, lehne mich an ihren Stamm – und stelle mir vor, ich wäre diese Buche. Nach ein oder zwei Minuten will ich weitergehen, mich weiter umsehen, aber etwas hält mich zurück. Mir geht auf, dass diese Buche wohl schon 80 oder hundert Jahre hier steht. Wenn ich also etwas mehr vom Geist dieser Buche erfahren möchte, muss ich es noch etwas länger hier am Stamm aushalten. Ich bleibe also stehen. Dabei kommt mir in den Sinn, dass es hilfreich wäre, wenn hier ein Gurt hängen würde, mit dem man sich an die Buche anschnallen könnte. Und ich stelle mir vor, wie ich angeschnallt am Stamm festgebunden bin. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Stehe einfach da. Wie die Buche. Bin verwurzelt. Bin ein Baum. 

Ich schaue mich um als Baum. Alleine bin ich nicht. Es gibt andere wie ich. Es gibt den Wind, der mir Düfte und Nachrichten von weither bringt. Es gibt die Vögel, die auf meinen Ästen rumalbern oder absitzen und sich ausruhen. Es wird Tag und wieder Nacht. Jahrein, jahraus. Ich bin einfach da. Regen kommt. Sonne scheint. Im Winter fällt Schnee. Das alles stört mich nicht in meinem Dasein. Ich bin da, ganz Baum, der nirgends hinmuss. Ruhe. Ich wachse. Ich repräsentiere Stabilität, nicht zehn, sondern hundert Jahre und auch mehr, wenn ich stehen gelassen werde. Einige hundert Jahre alt kann ich werden und einfach hier stehen bleiben. Ich bin die Seele dieses Ortes, zusammen mit den anderen Stämmen hier. 

Ich mache auch Junge, blühe, trage Früchte und werfe diese ab. Aus den allerwenigsten wächst ein neuer Baum. Wenn ich mich umschaue, sehe ich vielleicht ein halbes Dutzend Nachkommen. Sie leben am Rande meines Schattens. Ich sehe, wie sie kämpfen müssen, auch mit meiner Grösse, aber auch mit dem Wild, das ihre jungen Knospen zerbeisst, oder mit dem Schnee, der sie niederdrückt. Ich kann ihnen nicht helfen. Es ist auch nicht meine Aufgabe, ihnen zu helfen. Ich habe sie zur Welt gebracht. Mehr vermag ich nicht für sie zu tun.

Ich spüre auch, wie weit hinunter in die Erde meine Wurzeln reichen. Aus dieser Dunkelheit und Tiefe hole ich Wasser und Mineralien ins Licht. Diese Wurzeln machen meine Kraft aus. Ich kann nicht umfallen, nicht im Sturm und nicht vom Schnee und seiner Last; dazu bin ich viel zu stark.

So angeschnallt und verbunden mit dem Leben dieser Buche verbringe ich zwanzig Minuten. Dann löse ich die imaginären Gurten und trete unter der Krone hervor. Mit einem Dank verabschiede ich mich. «Bitte anschnallen» wird eine Station auf diesem Naturpfad, ganz sicher.

(2017)

#Ankommen

#Ankommen

Der Auslöser für den Titel #Ankommen ist eine Umkleidekabine. Ich bin mit meinem Sohn auf Einkaufstour. Er braucht eine neue Skijacke, ich ein paar Wintersocken. Mit suchenden Blicken passieren wir Regale, nehmen dort ein Stück heraus, um es genauer zu betrachten, schieben an einem anderen ein paar Bügel beiseite, um einen besseren Blick zu bekommen. Schliesslich probiert er eine erste Jacke: nicht schlecht, die Ärmel sind vielleicht eine Spur zu kurz. Danach ein zweite: nein, die Farbe sah zwar am Bügel gut aus, an ihm aber nicht. Die dritte: er schlüpft rein in die Ärmel und sie umschliessen seine Arme wie eine zweite Haut, er zieht den Reissverschluss hoch bis unters Kinn und es ist als würde sein Körper in eine vollendete Form fallen – das Stück passt perfekt, Farbe, Form, Material, einfach alles.

Manchmal, selten genug, passiert’s, wenn man Kleider anprobiert. Dann gibt es keinen Zweifel mehr. Dieses Stück und kein anderes muss es sein. #Ankommen. Man kommt zu diesem Kleidungsstück als ob es für einen bestimmt wäre; als ob es die ganze Zeit da im Regal gehangen und auf einen gewartet hätte. Wunderbar! Es sind diese Stücke, die einem lange erhalten bleiben und von denen man sich nur mehr ungern trennt, selbst wenn man aus ihnen herausgewachsen ist.

Man geht in Resonanz mit diesem einmaligen Ding. Das geschieht plötzlich, ist nicht vorhersehbar, und auch mit ausführlichen Internetrecherchen nicht planbar.

Bei mir gibt’s das bei Autos. Jahrzehntelang betrachtete ich Autos als Vehikel, um von A nach B zu gelangen. Die einen etwas komfortabler als die anderen. Aber irgendwann, nachdem unser alter Ford kaputt gegangen war, setzte ich mich in einen Jaguar X-Type. Und da war es: alles passte wie angegossen; ich sass auf schwarzen Ledersitzen, die sich an meinen Rücken und meine Oberschenkel schmiegten, ich genoss die gediegende Atmosphäre, die das Armaturenbrett aus Holz verbreitete; ich freute mich am Klang des surrenden 6-Zylinder-Motors; alles war handlich, passend, auf mich zugeschnitten, einfach wunderbar. Ich kaufte das Teil und erlebte mit ihm die beste Autofahrzeit meines Lebens.

#Ankommen kann man auch:

  • im Körper
  • beim Essen
  • daheim
  • im Beruf
  • in einem Buch
  • in einem Film
  • in einer Freundschaft
  • beim Sex
  • in einem Land
  • in einem Garten
  • bei einer Hose

Es ist dingliches, materielles Verbundensein. Wenn’s passiert, erlebt man Resonanz.

(2017)

Es gibt keine Lösung, weil es bereits gelöst ist

Es gibt keine Lösung, weil es bereits gelöst ist

Die Lösungen für uns dringlich erscheinende Probleme wie Klimakrise, Brexit, Artensterben, Überschuldung, Migration – sie sind bereits da.


Wir brauchen nicht mehr länger nach Lösungen zu suchen. Wir werden keine finden, weil sie bereits da sind. «Es gibt keine Lösungen, weil es bereits gelöst ist.»

Halte hier einen Moment inne – wie fühlt sich das an?

Es wäre erleichternd, beruhigend, entspannend. 

Wir könnten uns der Gegenwart zuwenden, anstatt mit Blick auf die Vergangenheit etwas für die Zukunft hinzubiegen. 

Wir müssten weniger streiten. 

Wir könnten wieder Vertrauen schöpfen, in uns, in unsere Mitmenschen, ins Leben selbst. 

Wir könnten uns darauf besinnen, wofür wir eigentlich hier auf der Erde sind; was unsere Bestimmung ist. 

Klingt gut, oder?

Eingefallen ist mir dieser Satz beim Lesen des neuen Buchs von Richard Powers «Die Wurzeln des Lebens». Aber aus heiterem Buch, beziehungsweise heiterem Himmel kommt dieser Satz nicht. Dahinter steckt so ungefähr meine ganze Lebensgeschichte. Ich habe mein ganzes Leben lang nach Lösungen gesucht. Für persönliche Probleme, für Weltprobleme, für Probleme im Geschäft und bei Projekten, die ich mir ausgedacht hatte. Gelöst hat sich dadurch nichts wirklich. Die Welt konnte ich so nicht retten. 

Aber: Ich lebe noch! Die Welt dreht sich noch immer! Und auch unser Business funktioniert und generiert Wohlstand. Weil ich noch lebe, die Welt sich noch dreht und das Geschäft weiterhin läuft, scheint der Satz: «Es gibt keine Lösung, weil es bereits gelöst ist.», gar nicht so weit hergeholt. Denn hätte es wirklich diese Lösungen gebraucht, so wie ich das immer gemeint habe, dann wäre ich entweder tot oder bankrott und die Welt hätte mit Drehen aufgehört.

(Ich) Wir können Weltprobleme wie die Klimakrise, das Artensterben, die weltweite Überschuldung, die Völkerwanderungen nicht lösen. Ich kann sie nicht lösen, aber auch wir als Weltgemeinschaft können sie nicht lösen. Sie lösen zu wollen ist nicht nur anmassend, sondern schlicht grössenwahnsinnig. Zu meinen, wir könnten zum Beispiel die globale Erwärmung stoppen oder rückgängig machen, zeugt von einem Weltverständnis, das die 4,5 Milliarden Jahre Erdgeschichte ignoriert. (Und nebenbei gesagt die 700 Millionen (!!!) psychisch Kranken erklärt, die es laut Weltgesundheitsorganisation heute gibt.)

Schauen wir doch mal zum Fenster hinaus. Dort futtert eine Kohlmeise die Sonnenblumenkerne, die ich für sie bereitgelegt habe. Damit diese Kohlmeise zu dem wurde, was sie heute ist, brauchte sie Zeit. Nicht hundert Jahre. Nicht tausend Jahre. Nicht zehntausend Jahre. Nicht hunderttausend Jahre. (Damit sind wir erdgeschichtlich im Zeitraum angelangt, wo der Homo sapiens erscheint). Aber die Vögel und damit unsere Kohlmeise ist noch viel älter. Nicht eine Million, nicht zehn Millionen, sondern 120 Millionen Jahre alt. Dort passierte der erste Flügelschlag. Heute bringen Teile der Menschheit (vor allem reiche, weisse Menschen) gewisse Vogelarten zum Aussterben. Andere Teile der Menschheit (vor allem reiche, weisse) wollen diese aussterbenden Arten retten. Beides ist vermessen. Es ist vermessen, Arten zu zerstören, die sich über Millionen von Jahren hinweg entwickelt haben. Und es ist vermessen zu glauben, man könne eine Entwicklung stoppen, die ebenfalls über Millionen von Jahren gelaufen ist. Da der Mensch Teil dieser Entwicklung ist, wird er sich dieser Entwicklung nicht entziehen können. 

Diese Entwicklung wird weitergehen, vor allem darauf kann man sich verlassen. Der Kosmos wird sich weiter differenzieren, wird weiterentwickelte Formen hervorbringen. Falls der Mensch dem im Wege stehen sollte, wird es ohne ihn weitergehen. Deshalb sage ich, es gibt keine Lösung, weil alles bereits gelöst ist. Die Entwicklung läuft. Der Mensch pumpt CO2 in die Luft – das System reagiert mit einer Klimaerwärmung, die dem Menschen die Lebensgrundlagen entzieht. Der Mensch rottet Arten aus – die Entwicklung reagiert mit ein paar Pilzen oder «Schädlingen», die genau jene Arten zerstören, auf die sich der Mensch bei seiner Nahrungsmittelproduktion fokussiert hat. Die Menschen verschulden sich (Individuen, Unternehmen, Staaten) – das System reagiert mit einer Finanzkrise – und diejenige von 2008 wird nicht die letzte gewesen sein. Die Entwicklung ist nicht nur viel kreativer und viel potenter als wir, sie hat sich auch darauf eingestellt, uns überflüssig zu machen, falls wir überflüssig sein sollten. 

ABER: Wir sind nicht ersetzbar. Genauso wenig wie die Kohlmeise ersetzbar ist. Doch wenn wir die Weiterentwicklung behindern, dann ist der Kosmos absolut verlässlich und wird neue Möglichkeiten finden, um das zu verwirklichen, was er mit dem Menschen vorhatte. Ändert diese Sicht etwas an unserer Situation?

Ich glaube schon. Erstens müssen wir nicht Angst haben, dass wir ALLES zerstören. Dazu nur zwei Zahlen: Die Masse aller Lebewesen auf der Erde beträgt 1800 Milliarden Tonnen; die Masse aller Menschen beträgt hingegen nur 0,4 Milliarden Tonnen. ALLES ist viel, viel grösser als wir. Was wir hier im Moment tun ist vielleicht Selbstmord (davor kann man Angst haben), aber es erschüttert die Entwicklung der Welt nicht in ihren Grundfesten. Wenn diese Einsicht in ihrer ganzen Klarheit da ist, ergibt sich daraus sicherlich nicht das neue Motto «nach mir die Sintflut», sondern eine Haltung der Demut.

Zweitens stellt sich die Frage, ob es wirklich unsere Bestimmung ist Selbstmord zu verüben? Sind wir Menschen deshalb auf die Welt gekommen? Um das System zu testen? Um herauszufinden, ob die kosmische Entwicklung clever genug ist, Störenfriede wie uns gleich wieder auszuschalten?

Wenn nein, wozu sind wir denn da?

(Teil 2 bald hier auf diesem Blog)

Der Bach, der durch mich hindurch fliesst

Der Bach, der durch mich hindurch fliesst

Es ist ein Selbstversuch. Wir stehen vor einem Bächlein. Es schlängelt, plätschert, fliesst durch einen Wald in den Voralpen. Wir, das ist eine kleine Gruppe, die sich auf die Natur einlassen will. Geleitet wird sie vom Land-Art-Künstler Kari Joller, der sein halbes Leben draussen in der Natur verbracht hat.

Wir verbinden einander die Augen, so gut, dass wir absolut nichts mehr sehen. Dann gehen wir einer nach der anderen auf das Bächlein zu und tasten uns dem Bachverlauf entlang, der Fliessrichtung entgegen.

Zuerst finde ich das schwierig. Ich weiss, dass vor mir jemand ist und habe Angst auf ihn aufzulaufen. Aber nach den ersten Schritten wird nicht das schwierig, sondern die Orientierung. Wo ist der Bach? Ich höre ihn, spüre aber das Wasser nicht. Ich korrigiere die Richtung und verliere die Orientierung noch mehr. Laufe ich noch bergan? Meine Hände suchen das Wasser. Und nach einer Weile finden sie es. Dran bleiben jetzt. Schritt für Schritt folge ich dem Nassen. Es ist sehr kaltes Wasser, ein Bergbach eben.

Nach einer weiteren Weile habe ich keine Ahnung mehr, wie weit ich bereits gekommen bin. Eine Zeit lang konnte ich das Bild des Baches noch aus meinem Gedächtnis abrufen, wusste, dass zuerst eine felsige Partie kommt, dann ein Gebüsch, danach ein kleiner Wasserfall. Inzwischen bin ich wohl schon über das Geschaute hinweg und taste mich dem Wasser entlang ohne ein Bild.

Es gibt nur den Boden unter den Füssen und das Wasser an den Händen. Doch ich höre auch. Und zwar ein Rauschen, wie von einem grossen Wasserfall. Grosser Wasserfall mitten im Wald? Ich taste herum, spüre den nassen Felsen. Muss jetzt klettern, klettere, glitschig, über dicke Äste hinweg, grosses Rauschen, wo? Ich merke, dass ich das Rauschen nicht mehr lokalisieren kann. Es rauscht durch mich hindurch. Ja wirklich. Das Wasser fliesst mir nicht mehr über die Finger, sondern durch sie hindurch. Ich bin im Fluss und der Fluss ist in mir. Das Bächlein fliesst durch mich hindurch als ob ich keine Körpergrenzen hätte. In diesem aufgelösten Zustand bewege ich mich weiter, werde dabei durchflossen und komme doch voran. Das geht noch eine ganze Weile so, bis ich von weit her höre, wie etwas gerufen wird; Übungsende. Ich ziehe mir die Augenbinde vom Kopf. Schaue mich um und sehe, dass ich kaum 50 Meter weit gekommen bin. Der grosse Wasserfall ist ein halber Meter hoher Stein, über den das Bächlein plätschert. Das Bächlein in mir ist mit einem Wimpernschlag verschwunden. Was bleibt ist die Erinnerung, dass Wasser durch einen hindurch fliessen kann.

„Es ist wunderbar, wie die Natur ein Teil von uns ist.

Die Sonne scheint nicht auf uns, sondern in uns.

Die Flüsse fliessen nicht an uns vorbei, sondern durch uns hindurch.“

            John Muir

(Eigenthal, Schweiz, 2008)

Ein-Griff am offenen Körper

Ein-Griff am offenen Körper

Er ist der jüngste von etwa einem Dutzend Therapeuten im Ayurvedaresort Sonnhof. Wie bei allen anderen auch lege ich mich auf die Liege und warte ab. Nach Akupressur, Akupunktur, Faszienmassage, vierhändiger Abhyanga-Massage, Ölgüssen und mehr steht jetzt Philip neben mir. Was er macht, erklärt er nicht. Er legt mir einfach die Hand auf den Bauch. Dann etwas weiter unten, knapp oberhalb des Schambeins. Dort bleibt sie liegen. Eine halbe Stunde lang.

Ich warte. Ich liege. Es bewegt sich etwas dort unten im Bauch, nicht seine Hand, etwas im Innen bewegt sich. Es fühlt sich jetzt weich an dort. Und in meinem Kopf taucht die Vorstellung auf, dass Philip mit seiner Hand in meinem Bauch ist und dort Ordnung schafft. Ich spüre, jetzt nicht im Kopf, sondern direkt dort, wie Teile von mir bewegt werden. Etwas rückt ein bisschen nach links, etwas anderes lockert sich, noch etwas anderes gleitet entspannt in seine Ruheposition. Es fühlt sich gut an. Es fühlt sich heilsam an. Der untere Bauch wird lebendiger und geschmeidiger.

Wie Philip das macht bleibt mir ein Rätsel. Diese Therapie hat etwas Wundersames an sich. „Viscerale Osteopathie“, nennt er das, „aber es steckt auch noch mehr drin“, ergänzt er ohne weitere Erklärung. 

(Ayurvedaresort Sonnhof, Hinterthiersee, Österreich, Mai 2017)

Love is in the Air

Love is in the Air

Sie hat braune Locken, Sommersprossen, Stupsnase und ein schelmisches Lächeln und ich bin verknallt in sie. Und wir stehen in Banyuls-sur-Mer auf dem Pier, zusammen mit ein paar anderen Studienkollegen, vor dem Labor für Meeresbiologie, in dem wir einen wöchigen Kurs geniessen. Tintenfische und Seeigel haben wir im Kopf, als dieser Song zu spielen beginnt: «Love is in the air». Er dröhnt vom Rummelplatz herüber, der aus fünf abgehalfterten Bahnen besteht, auf denen kaum jemand sitzt. Aber er zuckt mir in die Beine, die Schmetterlinge im Bauch beginnen zu flattern wie wild, Tintenfische und Seeigel sind weg. Da nehme ich, tollkühn, die Hand dieses Mädchens und beginne zu tanzen. Und dann tanzen wir gemeinsam über diesen Pier am Meer! Hüpfen, drehen und springen! Tun so, als ob wir fliegen könnten! Und in dem Moment fliegen wir auch wirklich! «Love is in the air»!!! Wir wirbeln herum, auf einander zu und wieder voneinander weg. Die Welt um uns herum, alle Tintenfische und Seeigel sind weg. Unsere Herzen hämmern. Die Welt, die zwar weg ist, sie gehört doch uns, uns zwei allein, für die Dauer dieses Songs. «oh oh oh oh uh»!!

Ich trage sie mit den Sommersprossen hinauf in den Himmel und im Sturzflug geht es wieder hinab. Es ist eine Eroberung des Luftraums und der Frau. Sie dauert eine gefühlte Ewigkeit, 3 Minuten und 22 Sekunden. Dann verstummt der Song und wir laufen mit pochenden Herzen und keuchenden Lungen aus, wie Velofahrer, die nach dem Sprint auf der Zielgerade ausrollen; laufen aufeinander zu, in eine Umarmung hinein. Verwegen wäre jetzt ein Kuss, aber dazu kommt es nicht. Wir halten einander in den Armen und spüren die klopfenden Brüste, atmen den Duft des anderen ein, dann ist es genug. Das verschmitzte Lächeln erscheint wieder auf ihrem Gesicht und auf meinem ein glückliches.

Auf dem Heimweg balanciere ich dann noch über ein Brückengeländer. Zeige ihr wie mutig und tollkühn ich sein kann und spüre die weichen Knie als ich am Ende der Brücke wieder auf den Gehsteig springe.

Mehr als diesen einen Tanz auf dem Pier in Südfrankreich hat es mit ihr nie gegeben.

(Südfrankreich, 1980)

Gier versus Platz im Kosmos

Gier versus Platz im Kosmos

Von den sieben Todsünden haben vier mit Gier zu tun. Vom Klimawandel über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich über die chaotischen Zustände im Finanzwesen über die massenhafte Produktion von Fake-Medikamenten bis hin zur Machtpolitik der USA, der Türkei, Chinas, Nordkoreas, Saudi-Arabiens hat alles mit Gier zu tun. Gier ist das Schmiermittel der Jahrtausendwende. Der Gier gegenüber von Bescheidenheit zu predigen ist nutzlos. Während die Gier Glanz in die Augen zaubert, kräuselt die Bescheidenheit nur ein spöttisches Lächeln um die Lippen.

Wenn ich mir die Menschen vergegenwärtige, von denen ich glaube, dass sie nicht gierig sind, fällt mir eine Gemeinsamkeit auf: Sie erwecken den Eindruck, dass sie ihren Platz im Kosmos einnehmen. Sie suchen nicht mehr, sie haben gefunden. Sie füllen den Raum, der zu ihnen gehört. Sie sind bei sich angekommen. Sie verströmen den Geschmack von Freiheit. Wirken gelöst und sind doch, in dem was sie sind, verwurzelt.

Was sie tun, tun sie nicht aus Getriebenheit, sondern weil sie es für sich als richtig und wichtig empfinden.

Ich kenne keinen einzigen, der das zu hundert Prozent verkörpert. Aber einige, die diesen Zustand die meiste Zeit ihres Tages leben können. Einer davon ist der kürzlich verstorbene Bernie Glassmann, ein Zen-Meister aus New York mit dem ich eine Reise durch Japan erleben durfte (Bild).
Bei Kindern und Jugendlichen begegnet mir das öfter als bei Menschen in mittleren Jahren, und wieder öfter begegne ich von Gier befreiten alten Menschen. Die mittleren 40 Jahre, von 20 bis 60 sind wohl am meisten von Gier beherrscht. Bei Frauen gleich wie bei Männern.

«Seinen Platz im Kosmos einnehmen.» Also dort sein, wo man hingehört. Das tun, wozu man geboren wurde. Das bedeutet nicht, zu verharren und sich ein Leben lang nicht mehr zu bewegen. Aber es kann auch nicht bedeuten, ein Leben lang gegen den Strom zu schwimmen. Jeder Fluss fliesst früher oder später ins Meer. Seinen Platz im Kosmos einnehmen, bedeutet, ein Leben lang im Fluss zu sein. Dabei kann es sich durchaus sinnvoll anfühlen, einmal gegen den Strom zu schwimmen, um nicht auf einen Felsen zuzutreiben. Oder es mag angebracht sein, zu springen, um einen Wasserfall oder eine Stromschnelle zu überwinden. Oder wegzutauchen. Die meiste Zeit wird es jedoch ein Fliessen sein, mal schneller, mal langsamer. Gier hat dabei keine Bedeutung. Wer im Fluss ist, für den ist Gier keine Kategorie mehr. Man kann nicht tiefer oder breiter, schneller oder schöner im Fluss sein. Man ist im Fluss, in dieser Erfahrung, mehr ist da nicht.