Der Schlüssel zum Paradies … ist die Vertreibung daraus

Der Schlüssel zum Paradies … ist die Vertreibung daraus

Adam und Eva lebten im Paradies, so wie Gott sie schuf. Sie waren unschuldig. Sie lebten in den Tag hinein wie Kinder. Sie durchliebten die Nächte, auch wie Kinder. Dann biss Eva in den Apfel, der am Baum der Erkenntnis hing. Was folgte war Vertreibung, Schuld, Himmel und Hölle, das ganze Programm – so zumindest erzählt uns das die katholische Kirche.

Man kann diese Geschichte aber auch anders lesen: Was tat Gott mit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies? Er machte ihn einzigartig. Er vertrieb nicht den Wurm, der ein Loch in den Apfel gefressen hatte und auch nicht den Vogel, der ihn angepickt hatte. Nur der Mensch wurde draussen vor die Tür gesetzt. Und was geschah dann?

Draussen vor der Tür blickte der Mensch zurück. Und zum allerersten Mal sah jemand das, was vorher noch nie jemand gesehen hatte: nämlich das Paradies. Zum ersten Mal blickte jemand von aussen auf die Schöpfung. Und in diesem Moment wurde erkannt, was die Schöpfung überhaupt ist – nämlich ein Paradies. Etwas unfassbar, unglaublich, unbegreifbar, unermesslich Schönes, Faszinierendes, Wahres.

Der Walfisch, der durch die Ozeane schwimmt, merkt nicht, dass er im Paradies ist. Für ihn war der Ozean immer schon der Ozean, nicht mehr und nicht weniger. Der Vogel, der durch die Lüfte segelt, realisiert nicht, dass er über ein Paradies hinwegfliegt. Für ihn war die Erde immer schon einfach unten und der Himmel immer schon einfach oben. Erst wenn man von aussen auf die Ozeane schaut, erst wenn man wirklich getrennt von Himmel und Erde ist, erst als Vertriebener kann man das Paradies als Paradies erkennen. Und diese einmalige Perspektive ist nur dem Menschen zuteil geworden.

17.9.2019

Herzerwärmend

Herzerwärmend

Das Angebot von tausend Kernen bringt mir im Winter den herzerwärmenden Besuch von zwanzig Vogelarten. Amseln, Finken, Meisen, Kleiber, Spechte und Rotbrüstchen tummeln sich um unser Vogelhäuschen vom kalten November an. Fünf Kilogramm Futter vertilgen sie pro Woche. Sie werden umgesetzt in Lebendigkeit an dunklen Wintertagen.

Aus einer im Winter toten Ecke des Balkons wird ein lebendiges Geflatter und Gezwitscher. Meisen hämmern auf den Sonnenblumenkernen herum. Amseln und Kleiber schmeissen missliebige Samen in hohem Bogen aus dem Häuschen. Finken hocken oft eine Viertelstunde unter dem Vogelhausdach und schlagen sich den Bauch voll. Und ab und zu erscheinen die Seltenen und Besonderen: der Gimpel, der Kirschkernbeisser, der Kreuzschnabel oder der Buntspecht, die Schwanzmeise und die Bartmeise.

Am meisten Freude habe ich an den kleinen Zeisigen, die in Gruppen einfallen und am Boden herumhüpfen wie Federbällchen. Sie picken auf, was runtergefallen ist.

Seit meiner Kindheit habe ich Freude an Vögeln. Und meine Grossmutter, meine Mutter und jetzt wir haben sie im Winter immer gefüttert. Es ist eine Familientradition. Vor allem aber macht es Spass und Freude. Es sind keine überschwänglichen Momente, die ich vor dem Vogelhäuschen verbringe. Es ist die Konstanz und Verlässlichkeit des Erscheinens dieser Vögel, die mich beeindruckt. Sie signalisiert: der Kälte und Erstarrung des Winters zum Trotz geht das Leben weiter, wir sind immer noch da; wir widerstehen dem Gefrorenen wie du und freuen uns am Körnerangebot.

Das Bild der flatternden Vögel prägt mir jeden Morgen, vier oder fünf Wintermonate lang. Wenn sich alle Pflanzen draussen in die Erde zurückgezogen haben, kein Blatt an den Bäumen hängt und die Menschen, wenn überhaupt, nur vermummt durch die Strassen gehen, sind die Vögel immer noch da. Erscheinen wie aus dem Nichts, sobald ich ihnen ein paar Körner hinlege und bringen luftige Grüsse zum Teil von weit her oder auch nur vom nächsten Waldrand.

Jassen mit Inäni

Jassen mit Inäni

Keine Ahnung weshalb wir unsere Grossmutter «Inäni» nannten. Sie wohnte bei uns. Wir wussten, wo sie die Schokolade versteckt hielt, und sie wusste, dass wir es wussten. Ich habe sie geliebt. Ihr Wort hatte Gewicht für mich und ich erinnere mich heute noch, wie sie mir einmal entrüstet entgegenschleuderte: „Du bist ein Moloch!“ Das heisst laut Wikipedia «gnadenlose, alles verschlingende Macht». Sie gebrauchte diesen Kraftausdruck als wir zusammen Karten spielten (Jassen auf Schweizerdeutsch.) Das taten wir jeden Mittag nach dem Essen. Wahrscheinlich hatte ich eine Gewinnsträhne. Ich weiss heute noch, wie sich so etwas anfühlte – «gnadenlos» hat da durchaus seinen Platz.

Dieses rituelle Kartenspielen war Teil meines Familienerlebnisses, ebenso wie der wöchentliche Ausflug mit meinem Vater auf den Tennisplatz, jeden Samstag und fast jeden Sonntag. Diese Rituale lieferten das Gitter in dem sich der ganze Rest entfalten konnte. Dass es keine Kirchenbesuche waren, sondern Tennisplätze war typisch für diese Zeit in den 60er und 70er Jahren. Und dass es meine Grossmutter und nicht meine Mutter war, die noch jeden Tag Zeit hatte für ein Spielchen, war in der aufkommenden Frauenemanzipationsbewegung ebenso typisch.

Aber Inäni war noch in einer anderen Hinsicht beeindruckend. Sie hatte viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen, aber da war keine Bitternis, sondern eine Herzensgüte, die mir wohltat und die ich bewunderte. Ich hing an ihr und als sie eines schönen Tages 1973 vor meinen Augen umkippte – Herzstillstand – war das der erste grosse, tragische Verlust meines Lebens.

Rückblickend ist «Verlust» aber das falsche Wort. Seit Jahrzehnten trage ich meine Grossmutter in meinem Herzen. Sie ist da, so wie sie damals für mich da war. Einfach so, ohne gross Aufhebens davon zu machen.

Reifeprüfung

Reifeprüfung

Französisch in der Schule war Stress pur! Wie habe ich mich doch abgeplagt! Statt Élégance nur Sperrigkeit im Rachen. Statt Jonglieren im Mund nur Knoten in der Zunge. Ich konnte mir die Wörter nicht merken und das Verwenden der verschiedenen Zeitformen war immer reine Glückssache – Stichwort: Subjonctif!

Deshalb musste ich in diesem Fach richtig viel lernen. Trotzdem blieben meine Noten im Keller. Rumms eine 2. Dann wieder eine 3-4. Wenn mal ein 4-5 mit roter Tinte auf dem Test stand, war ich schon überglücklich. Und dies trotz eines tollen Lehrers, der witzig war, charmant, voller Lebensfreude und Schalk. Ich mochte ihn, auch wenn ich Französisch hasste.

Vorsprechen war das Schlimmste. Wie ein Idiot stammelte ich irgendwie irgendwas falsch betont und grammatikalisch unsinnig vor mich hin. Das Blut schoss mir ins Gesicht, die Knie waren weich. Ich war ein hoffnungsloser Fall. Bis zur Matura.

Nach sieben Jahren Gymnasialzeit. Nach sieben Jahren accent aigu, grave und circonflexe kam es zur Abschlussprüfung. Mündliche Prüfung, das hiess: alleine rein ins Zimmer und vor dem Franzlehrer und einem Experten über André Gide reden. Gide war mein Lieblingsautor, neben Camus. Ich legte mich ins Zeug, redete mich heiss, vergass, dass ich eigentlich gar kein Französisch konnte. Und mein Lehrer lächelte die ganze Zeit vor sich hin. „Gratulations Reto“, sagte er am Ende und entliess mich etwas verblüfft. Die schriftliche Prüfung war dann wieder dasselbe Desaster wie jede Französisch-Prüfung der letzten sieben Jahre. Aber dann kam der Abschlussabend, an dem die Noten bekannt gegeben wurden.

Wer nicht bestanden hatte wurde diskret vorher informiert und musste nicht an der Abschlussfeier erscheinen. In meinem Jahrgang waren das nur zwei Schüler. Alle andern sassen in der Aula. Es wurden Reden gehalten. Die Stimmung war ausgelassen. Alle freuten sich auf die Maturafeste, die die einzelnen Klassen organisiert hatten. Es ging bei diesem offiziellen Teil eigentlich nur darum, möglichst schnell das Zeugnis ausgehändigt zu bekommen, um nachher die Korken knallen zu lassen. 

Aber dann geschah das für mich Unerwartete. Ich wurde zum Zweitbesten meines Jahrgangs ausgerufen. Trotz Französisch? Ich konnte es nicht glauben! Ich betrat die Bühne um das Zeugnis abzuholen, unsicher, ob es sich nicht doch noch als Irrtum herausstellte. Aber nein, alle klatschten und ich nahm das Zeugnis und die Gratulationen des Rektors entgegen. Dann starrte ich in mein Zeugnis und da stand sie, die Note für mein Französisch: Es war keine Ungenügende, auch keine 4, sondern eine glatte 5. Ich konnte es kaum fassen! Blickte zum Französischlehrer hinüber, fragenden Auges, aber der lächelte bloss zurück. „Du hast es dir verdient“, sagte sein Blick. Und wie ein Flash rasten all die unsäglichen Tests und Noten an mir vorbei, all das Geknurze, das Unverständnis, das Leiden mit dieser Sprache, aber das Lächeln meines Französischlehrers blieb. Und es versöhnte mich mit einer ganzen Weltsprache. Dankbarkeit überflutete mich. Das ganze Maturitätszeugnis war eigentlich egal, aber diese 5 im Französisch, die bedeutete etwas. Sie öffnete das Tor zu einer anderen Kultur. Zur Grande Nation. Zu einem anderen Verständnis von Noten. Diese 5 war ein Bund fürs Leben mit einer Sprache, die mir nicht liegt, aber für die ich dankbar bin, dass es sie gibt. Und seither gehe ich gerne in dieses Land und war schon sehr oft da. Und werde bald wieder hingehen.

PS: André Gide, zum Beispiel „Der Immoralist“, habe ich auf deutsch gelesen 😉

(Matura, Sommer 77)

Forever in Bluejeans

Forever in Bluejeans


Es gibt Freunde, denen kann man sogar ein Neil Diamond-Konzert zumuten. Oder eines von Reinhard Mey. Der Song «Forever in Bluejeans» ist heute zwar so etwas von out, zumal ein 77-Jähriger vor uns steht und das Lied singt, aber was soll’s. Die Freundschaft ist ebenso alt und wird mit jeder Zumutung noch fester gezurrt. Es geht um Hans. Ich habe ihn vor drei Jahren in ein Reinhard Mey-Konzert gezerrt, weil ich diesen Liedermacher einmal im Leben live sehen wollte und weil er mich mit seiner Nickelbrille und dem kurz geschorenen Haar, dem verschmitzten Lächeln, seiner Weinseligkeit und seinem absolut soliden und verlässlichen Wesen immer an meinen Freund Hans erinnert hat. Viele Lieder von Mey gehören zudem zu meinen Lieblingsliedern, vor allem wegen seiner Texte, die mal witzig, mal poetisch, immer elegant sind. Und so besuchten Hans und ich den Reinhard in der Tonhalle Zürich. Ich fand’s genial und Hans stand zu mir als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Die Retourkutsche war eines der letzten Neil Diamond-Konzerte vor seinem Rücktritt von der Bühne, zu dem mich Hans mitschleppte. „Wenn der noch Mal kommt, will ich ihn unbedingt sehen“, war seine Begründung und mir war das genug. Wir bestiegen zusammen den Zug Richtung Hallenstadion, genossen, was zu geniessen war und übersahen geflissentlich, was ein bisschen peinlich daherkam. Sowohl Mey wie Diamond haben unsere Jugend beschallt. Lang ist’s her. Aber seitdem sind wir Freunde. Durch all die Jahrzehnte hindurch. Und jedes Mal, wenn wir einander wiedersehen ist es wie ein Heimkommen.

Die Eltern von Hans sind gestorben. Das heisst, für ihn gibt es kein nach Hause kommen mehr dort. Er hat zwar noch Schwestern, aber das ist nicht das Gleiche. Und er hat mich und ich ihn, um dieses Gefühl des Heimkommens zu zelebrieren. Wir tun jeweils nicht viel, wenn wir einander sehen. Eine kleine Wanderung, ein gemeinsames Essen oder eben ein Konzertbesuch. Wir müssen diese Freundschaft nicht weiterentwickeln, sondern einfach immer mal wieder zu ihr zurückkehren. Vom Meer her, das manchmal stürmisch ist, anlanden auf dieser Freundschaftsinsel, die immer dort steht, wie der Fels in der Brandung seit jeher. Diese Wiedersehen gehören zu den ruhigsten und entspanntesten Stunden meines Lebens. Da ist nichts, was gemusst wird, nichts, das gezeigt werden könnte, nur da sein und einander versichern, dass man immer noch da ist. Das reicht vollkommen.

(Freundschaft mit Hans, 1968 – …)

Hier ist der Text meines Lieblingsliedes von Reinhard Mey. Es geht um’s nach Hause kommen:

Viertel vor Sieben (Reinhard Mey)

Dunkle Regenwolken sind aufgezogen,

Die Dämmerung fällt auf einmal ganz schnell.

Überm Stahlwerk flackert blau der Neonbogen,

Die Fenster im Ort werden hell.

„Wo hast du dich nur wieder rumgetrieben,

Zieh die klatschnassen Schuh‘ erstmal aus!“

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Und es soll Sonnabend sein und es soll Topfkuchen geben

Und der soll schon auf dem Küchentisch stehn

Und eine Kanne Kakao und meine Tasse daneben

Und ich darf die braune Backform umdrehn.

Schokoladenflocken mit der Raspel gerieben

In der Schaumkrone meines Kakaos.

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Ein Brief zwischen Zeitung und Werbung im Kasten

Erschüttert dein Fundament:

Anna und Hans, die so gut zusammenpaßten,

Haben sich einfach getrennt.

Wie hast du sie beneidet, zwei, die sich so lieben!

Und plötzlich ist doch alles aus.

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Und Vater soll im Wohnzimmer Radio hör´n

In den steinalten Grundig versenkt.

Und die Haltung sagt mir: Bloß jetzt nicht stören!

Und wenn er den Blick auf mich lenkt,

Mit der vorwurfsvoll‘n Geste die Brille hochschieben,

„Menschenskind, wie siehst du wieder aus!“

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Das Fell wird dünner und leerer der Becher,

Der Zaubertrank wirkt nur noch schwer.

Der Kummer ist tiefer, der Trost scheint schwächer,

Und es heilt nicht alles mehr.

Wo ist meine Sorglosigkeit geblieben,

Was machte Erkenntnis daraus?

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Nur einen Augenblick noch mal das Bündel ablegen

Und mit argslosem Übermut,

Durch dunkle Wege, der Zuflucht entgegen

Und glauben können: Alles wird gut!

Manchmal wünscht‘ ich, die Dinge wär‘n so einfach geblieben

Und die Wege gingen nur gradeaus,

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!