Ich habe hunderte von Gärten besucht, aber keiner geht verschwenderischer mit den Sinnesfreuden und mit der Lust an Farben um, wie der Jardin Majorelle von Yves Saint Laurent in Marakesh. Zwei oder drei Stunden dort eintauchen, herumspazieren, etwas essen im Hof ist eine sich tief einprägende Erfahrung der Lebensfreude und Lebenslust.Mehr als Worte sagen die Bilder in der Galerie (siehe Sidebar), die ich von dort mitnahm.
Manchmal dauert es lang bis man das richtige Wort findet. Ich meine hier nicht Stunden oder Tage, nicht Wochen oder Monate; ich rede hier von Jahren. Und dann wie aus dem Nichts, beim Sitzen vor der Glotze, taucht es auf. Es heisst: Hingabe. Und der Film, den ich geschaut habe, trägt den Titel «Unter dem Sand». Das Entscheidende für das Wort Hingabe ist aber der Schauspieler, der dieses Wort verkörperte. Die Rede ist von Louis Hofmann. Ein deutscher Shootingstar, 21 Jahre alt, der an der Berlinale 2017 den European Young Actors Award abgeholt hat und auch 2018 eine goldene Kamera bekam. Ich habe zwei Filme am Fernsehen mit ihm gesehen – «Unter dem Sand» und «Freistatt». Einmal spielt er einen jungen deutschen Soldaten, der als Kriegsgefangener an der dänischen Küste zur Minenräumung («Unter dem Sand») eingesetzt wird; ein Film, der fast ohne Dialoge auskommt. Das andere Mal ist er ein Junge in einer Erziehungsanstalt («Freistatt»), in der Folter und Missbrauch zum Anstaltsreglement gehören. Der Film spielt in den siebziger Jahren in Niedersachsen und beruht auf wahren Begebenheiten.
Ich war beide Male völlig gebannt und fasziniert. Was ich da sah, war für mich etwas Neues, noch nie Gesehenes. Beide Filme sind erschütternd, aber das sind viele Filme. Das Ausserordentliche bei diesen beiden Filmen war der Hauptdarsteller Hofmann, beziehungsweise seine Art zu spielen, weil er etwas in dieses Spiel bringt, was ich vorher so noch nie wahrgenommen habe – Hingabe. Hofmann hat nicht nur Talent. Er sieht nicht nur gut aus, obwohl das auch hilft. Und es ist nicht nur seine bereits beträchtliche Schauspielerfahrung (über zehn Filmeinsätze), die er sich in jungen Jahren schon angeeignet hat. Er hat auch etwas vollkommen Neues, eine Haltung oder eine neue Perspektive, die zum Leitmotiv seiner Zeit werden kann – und das ist die Hingabe.
Er agiert aus dem Augenblick. Er geht in Resonanz mit dem Momentum. Jedes Zucken des Augenlids, jedes Vertiefen seiner Grübchen beim Lachen stimmt überein mit diesem einen Augenblick, in dem es passiert. Das geht weit über das Spielen einer Rolle hinaus. Das ist viel mehr als das Befolgen von Drehbuch- und Regieanweisungen. Das ist auch nicht mehr method acting, wie es Robert de Niro praktizierte, sondern das ist eine neue Art von Schauspielkunst im neuen Jahrtausend.
Die Welt verbessern war gestern. Heute geht es darum, die Welt so zu nehmen wie sie ist. Und die einzig mögliche Haltung darin ist die Hingabe. Wie das konkret aussieht, was es bedeutet und was es eben gerade nicht bedeutet, hat Louis Hofmann in diesen zwei Filmen veranschaulicht. Vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein, wahrscheinlich sogar ohne sich dessen bewusst zu sein. So wie die Jugend vieles richtig macht und immer richtig gemacht hat, ohne genau zu wissen, was dahintersteckt und welche Folgen es haben wird. Hofmann agiert im vollkommenen Vertrauen in sich undin die Welt. In beiden Filmen ist die Welt nicht einfach böse und nicht einfach gut, sondern sie ist wie sie ist. Und Hofmann bringt das Kunststück fertig, sie so zu nehmen wie sie ist. Mit einer Feinfühligkeit, die einen als Zuschauer körperlich mitnimmt. Es gelingt dem Schauspieler Hofmann die Hingabe vom Schauspieler auf den Zuschauer übergehen zu lassen. Gute Filme und gute Schauspieler haben diese Identifikation des Zuschauers mit einem Rollenbild schon immer geschafft. Manchmal ging man als kleiner Tom Cruise aus dem Kino und wollte selber die Welt wieder in Ordnung bringen; manchmal tanzte man als John Travolta aus dem Kinosaal und war prall angefüllt mit Lebenslust. Und jetzt steht man eben nach dem Film auf und hält einen neuen Schlüssel zur heutigen absurden, grossartigen, brutalen, unlogischen, fantastischen Welt in der Hand – die Hingabe. Hofmann sei Dank.
Zweifellos ist die Frage nach dem Sinn des Lebens eine interessante Frage. Oder doch nicht? Wenn man beim Tiefschneefahren im Flow ist, taucht sie jedenfalls nicht auf. Wenn man zuhause mit Freunden oder der Familie ein ausgelassenes Fest feiert, auch nicht. Im Moment der höchsten Lust, ist sie mir noch nie begegnet. Eigentlich verliert dieses Fragezeichen seine Existenz, wann immer man oder frau im Moment lebt. Also im Hier und Jetzt. Und wer einmal zu lernen anfängt, oder zu begreifen beginnt, dass das Leben, so wie es ist, gut ist, den interessiert die Sinnfrage nicht mehr.
Wenn wir nach dem Sinn fragen, dann versuchen wir etwas zu rechtfertigen, das einer Rechtfertigung bedarf. Es macht Sinn so viel zu arbeiten, damit unsere Kinder genug zu essen und wir im Alter genug gespart haben. Es macht Sinn weniger Auto zu fahren, damit das Weltklima nicht ganz aus den Fugen gerät. Es macht Sinn fair und biologisch hergestellte Produkte einzukaufen, um die Welt etwas gerechter und die Umwelt etwas besser zu machen. In all diesen Fällen macht die Sinnfrage Sinn. All diese Fragen betreffen unsere Alltagsroutinen. Mit Alltag und Routinen beschäftigen wir uns zu 80 Prozent unserer Wachzeit. In diesen 80 Prozent unserer Wachzeit spulen wir Programme ab, erledigen wir Pflichten, erfüllen wir Vorgaben. Damit wir das überhaupt tun, brauchen wir einen Sinn. Je weniger wir das tun, also wenn wir aus den 80 Prozent 70 oder 60% Alltag machen, umso weniger müssen wir unser Handeln mit Sinn unterlegen.
Es könnte also darum gehen, bewusst die Routinen, Pflichten, Alltagsgeschäfte und –verrichtungen zu reduzieren. Mehr Zeit zu gewinnen für Situationen, in denen sich die Sinnfrage gar nicht mehr stellt. Wir gewinnen dadurch Freiheit. Und wir gewinnen dadurch mehr Möglichkeiten, uns auf den Augenblick zu konzentrieren.
Die Sinnfrage zu stellen ist also sinnvoll – überall dort, wo wir den Alltag bewältigen müssen. Es ist aber auch sinnvoll, sich mehr und mehr Freiräume zu schaffen, damit sich dieses grosse Fragezeichen immer seltener zeigt.
Es ist 01.30 Uhr. Ich bin zum ersten Mal zu dieser Stunde allein im Wald. Die Luft hängt voller Flieder, schwer und süss. Mir ist etwas unheimlich. Ich trete in den Wald ein. Der Weg ist gut sichtbar. Es ist weniger dunkel als ich mir vorgestellt habe. Ich höre vor allem meine Schritte und meinen Atem. Die Augen gehen gegen den Himmel, wie immer in der Nacht.
Der dunkle Wald umfängt mich mit einer ungewöhnlichen Wärme. Er ruht viel mehr als ich. Er wird auch ruhen, wenn ich gegangen bin. Er hat mehr Zeit. Ich bekomme eine Ahnung davon, wie es war, als ich noch ungeboren im Bauch meiner Mutter war: warm und dunkel.
Hierin unterscheidet sich das Erlebnis deutlich von Gipfelerlebnissen in den Bergen: die sind rein und klar und erhaben; etwas für den Geist und für den Willen. Der Wald hingegen ist etwas für den Bauch. Hier im Dunkeln steigen Gefühle auf von unten, aus der Tiefe.
Es wird dunkler. Das Blätterdach über mir schliesst sich. Noch ein paar Schritte und ich sehe kaum mehr die Hand vor meinen Augen. Wie in einem Kuhmagen, denke ich. Ich tappe jetzt vorwärts. Die Unsicherheit wächst, doch nach einer kurzen Weile wird sie wieder kleiner. Wunderbar. Meine Füsse beginnen zu sehen. Meine Schritte werden sicherer. Stockdunkel ist es immer noch.
Ich bin jetzt in der Tiefe angekommen. Weitergehen. Ein seltsames Gefühl kommt hoch: Wo höre ich auf und wo beginnt der Wald? Da ich meinen Körper nicht mehr sehe, lösen sich diese Grenzen zwischen Wald und mir auf. Ich bin jetzt im Wald angekommen. Ich habe keinerlei Angst mehr. Grosses Vertrauen breitet sich aus. Mir kann nichts passieren, weder hier im Wald noch sonst wo. Alles ist gut.
Dann tauchen zwischen Blättern und Stämmen fern wieder erste Lichter der Stadt auf. Die Ruhe zieht sich in mein Inneres zurück. Ich und der Wald sind wieder zwei. Aber ich weiss jetzt: Er wird immer da sein. Ich muss nur hineingehen.
(geschrieben 3.5.2005 nach meinem ersten Nightwalk)
Wir haben aus diesem ersten nächtlichen Spaziergang im Wald ein Projekt gemacht und nächtliche Waldspaziergänge für ein grösseres Publikum angeboten. Hier sind einige Reaktionen von Teilnehmenden:
*** «Ich laufe durch den dunklen Wald, ein Ast knackt, ein Kauz ruft, ein Frosch quakt, die Steinchen knirschen unter meinen Sohlen. Ich spüre eine Kraft, die aus dem Boden kommt, aus dem Wald, aus mir selber. Wunderschön!»
** Allein im Wald, einsam, alles dunkel um mich. Was bin ich schon, inmitten dieses grossen Etwas, das mich umgibt? Klein, unscheinbar, unwichtig. Seltsam, dieses Gefühl von Ohnmacht, obwohl doch alles so friedlich ist um mich herum…Wohin führt mein Weg? – Stille. Warten auf Antworten…Könnten doch die Mächtigen dieser Welt dieses Erlebnis mit mir teilen!! Demut fühlen vor diesem Ewigen. Zeit? Ich kann sie nicht mehr abschätzen, sie ist so unwichtig. Anderes zählt, das überdauert. Stille.
+ Zaghaft die ersten Schritte. Die Ohren eilen voraus. Doch das Knirschen unter den Schuhen bindet sie zurück – Seid still, seid still. Sie gehorchen nicht. Das Knirschen führt mich zurück zu mir, hallt um mich, wickelt mich ein – Rhythmus, Rhythmus… Rhythmus in mir öffnet die Tore für das Spüren des Waldes. Samtige Zartheit der luftigen kühlen Berührung auf den Wangen. Fühlt sich frisch und ermutigend an. Unheimlich das dunkle Etwas an meiner linken Seite. Weit und glänzend, zieht mich magisch an, bis ich “Schlagseite” in mir spüre und über die nächste Wurzel “stürchle”. Könnte es nicht endlich enden! Ungeduld, nervöses Kribbeln, wankende Schritte. Da, von rechts schlägt plötzlich ein Ast auf mich ein, oder war es nur Einbildung?! Das Ducken jedoch echt! Endlich der Senkrechte Leuchtstab – Hallo. Langsam und stetig fällt der Weg ab – Plötzlich aus der Bewegung heraus ein Hüpfen und noch eines. Kindlicher Übermut – fühle mich sicher – getragen – geborgen – möchte lachen und glucksen. Dunklere Stellen – wieder vorsichtigere Schritte – weicher Boden. Der Mond – ah – staunen – aufsaugen – Ruhe draussen und drinnen in mir – keine Worte mehr. Wahrer Genuss.
Es gibt Freunde, denen kann man sogar ein Neil Diamond-Konzert zumuten. Oder eines von Reinhard Mey. Der Song «Forever in Bluejeans» ist heute zwar so etwas von out, zumal ein 77-Jähriger vor uns steht und das Lied singt, aber was soll’s. Die Freundschaft ist ebenso alt und wird mit jeder Zumutung noch fester gezurrt. Es geht um Hans. Ich habe ihn vor drei Jahren in ein Reinhard Mey-Konzert gezerrt, weil ich diesen Liedermacher einmal im Leben live sehen wollte und weil er mich mit seiner Nickelbrille und dem kurz geschorenen Haar, dem verschmitzten Lächeln, seiner Weinseligkeit und seinem absolut soliden und verlässlichen Wesen immer an meinen Freund Hans erinnert hat. Viele Lieder von Mey gehören zudem zu meinen Lieblingsliedern, vor allem wegen seiner Texte, die mal witzig, mal poetisch, immer elegant sind. Und so besuchten Hans und ich den Reinhard in der Tonhalle Zürich. Ich fand’s genial und Hans stand zu mir als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Die Retourkutsche war eines der letzten Neil Diamond-Konzerte vor seinem Rücktritt von der Bühne, zu dem mich Hans mitschleppte. „Wenn der noch Mal kommt, will ich ihn unbedingt sehen“, war seine Begründung und mir war das genug. Wir bestiegen zusammen den Zug Richtung Hallenstadion, genossen, was zu geniessen war und übersahen geflissentlich, was ein bisschen peinlich daherkam. Sowohl Mey wie Diamond haben unsere Jugend beschallt. Lang ist’s her. Aber seitdem sind wir Freunde. Durch all die Jahrzehnte hindurch. Und jedes Mal, wenn wir einander wiedersehen ist es wie ein Heimkommen.
Die Eltern von Hans sind gestorben. Das heisst, für ihn gibt es kein nach Hause kommen mehr dort. Er hat zwar noch Schwestern, aber das ist nicht das Gleiche. Und er hat mich und ich ihn, um dieses Gefühl des Heimkommens zu zelebrieren. Wir tun jeweils nicht viel, wenn wir einander sehen. Eine kleine Wanderung, ein gemeinsames Essen oder eben ein Konzertbesuch. Wir müssen diese Freundschaft nicht weiterentwickeln, sondern einfach immer mal wieder zu ihr zurückkehren. Vom Meer her, das manchmal stürmisch ist, anlanden auf dieser Freundschaftsinsel, die immer dort steht, wie der Fels in der Brandung seit jeher. Diese Wiedersehen gehören zu den ruhigsten und entspanntesten Stunden meines Lebens. Da ist nichts, was gemusst wird, nichts, das gezeigt werden könnte, nur da sein und einander versichern, dass man immer noch da ist. Das reicht vollkommen.
(Freundschaft mit Hans, 1968 – …)
Hier ist der Text meines Lieblingsliedes von Reinhard Mey. Es geht um’s nach Hause kommen:
Viertel vor Sieben (Reinhard Mey)
Dunkle Regenwolken sind aufgezogen,
Die Dämmerung fällt auf einmal ganz schnell.
Überm Stahlwerk flackert blau der Neonbogen,
Die Fenster im Ort werden hell.
„Wo hast du dich nur wieder rumgetrieben,
Zieh die klatschnassen Schuh‘ erstmal aus!“
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Und es soll Sonnabend sein und es soll Topfkuchen geben
Und der soll schon auf dem Küchentisch stehn
Und eine Kanne Kakao und meine Tasse daneben
Und ich darf die braune Backform umdrehn.
Schokoladenflocken mit der Raspel gerieben
In der Schaumkrone meines Kakaos.
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Ein Brief zwischen Zeitung und Werbung im Kasten
Erschüttert dein Fundament:
Anna und Hans, die so gut zusammenpaßten,
Haben sich einfach getrennt.
Wie hast du sie beneidet, zwei, die sich so lieben!
Und plötzlich ist doch alles aus.
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Und Vater soll im Wohnzimmer Radio hör´n
In den steinalten Grundig versenkt.
Und die Haltung sagt mir: Bloß jetzt nicht stören!
Und wenn er den Blick auf mich lenkt,
Mit der vorwurfsvoll‘n Geste die Brille hochschieben,
„Menschenskind, wie siehst du wieder aus!“
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Das Fell wird dünner und leerer der Becher,
Der Zaubertrank wirkt nur noch schwer.
Der Kummer ist tiefer, der Trost scheint schwächer,
Und es heilt nicht alles mehr.
Wo ist meine Sorglosigkeit geblieben,
Was machte Erkenntnis daraus?
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Nur einen Augenblick noch mal das Bündel ablegen
Und mit argslosem Übermut,
Durch dunkle Wege, der Zuflucht entgegen
Und glauben können: Alles wird gut!
Manchmal wünscht‘ ich, die Dinge wär‘n so einfach geblieben
Und die Wege gingen nur gradeaus,
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Ich bin kein Feinschmecker, aber dieses Hirschfilet von Ueli macht Essen zu etwas Neuem. Ueli trägt Bart und sieht aus wie ein Bergler. Das ist er auch. Sein Restaurant liegt im Rocksresort in Laax, in den Schweizer Alpen und heisst «Grandis». Viel Holz im Innern, rustikale, aber moderne Formen. Eine grosse Vinothek und vor allem: die offene Küche mit dem Holzfeuer, um das sich alles dreht und das man fast von jedem Tisch aus im Auge hat.
Auf diesem Feuer wird das Hirschfilet, die Spezialität des Hauses, grilliert. Dazu servieren sie Polenta und ein bisschen Gemüse. Auch der auserlesene Rotwein gehört zum Gesamtbouquet. Genauso wie der aufmerksame, fast familiäre Service.
Schon beim Ansetzen des Messers auf das Fleisch spüre ich, wie zart es sein wird. Und dann genügt ein einziger, weicher Schnitt, um den Bissen abzutrennen. Kann Fleisch so zart sein, fährt es mir überrascht durch den Kopf? Doch dann liegt das Stück bereits auf der Zunge – und es zergeht! Es zerfliesst in meinem Mund und der Geschmack von Holzfeuer, Wildnis in den Wäldern, Bergluft und röhrender Kraft des Hirsches entfaltet sich zuerst in meinem Gaumen, dann in meinem ganzen Kopf. Wow! Einen Moment fühlt es sich an wie ein Drogentrip. Und meiner Frau, die mir gegenübersitzt, ergeht es genau gleich; ihre Augen weiten sich und über ihr Gesicht legt sich Entzückung. „Ist das gut!!!!!“.
Wir essen weiter und merken, wie sich die Polenta wie eine Bassnote unter den Hirsch legt und ihm Boden gibt. Die Polenta ist sämig und die kleinen Maisstücke darin sind fest und geben Halt, damit das Hirschfilet noch markanter zerfliessen kann.
Und die Gemüse würzen und bringen das Herbale der Bergwiesen ins Spiel. Wir kommen nicht aus dem Staunen und Geniessen raus. Jeder einzelne Bissen ist ein Erlebnis. Und der Teller leert sich viel zu schnell. Aber auch hier beweist Ueli, dass er etwas vom Handwerk versteht: Die Portionen sind exakt von richtiger Grösse, damit keine Schwere im Bauch entsteht und sich diese Bergnaturerfahrung auch im Bauch weiter entfalten kann.
Auf dem kurzen Heimweg vom «Grandis» in unsere Wohnung geschieht dann das, was ich so noch nie erlebt habe: Vom Bauch aus verbreitet sich eine Harmonie in meinem Körper, so dass sich der Körper anfühlt wie ein einziger Klang. Und kaum habe ich diesen Klang wahrgenommen, weitet er sich über meinen Körper hinaus und erfasst den Boden unter mir, die Hauswand neben mir, die ganze Bergwelt um mich herum. Ich spaziere in einem einzigen schönen Klang und das Instrument dafür ist mein Bauch. Ich kann den Klang halten bis ins Treppenhaus und bis fast vor die Wohnungstür, dann verebbt er wieder, zieht sich in meinen Körper zurück, bleibt dort noch als Harmonie bis ich einschlafe und ist als Erinnerung auch heute noch präsent.
Ich stehe hier, weil Ben mich darum gebeten hat, zwei Tage bevor er sich auf den Weg ins Licht jenseits machte. Er wollte nicht, dass jemand seinen Lebenslauf vorliest, vielmehr sagte er, ich solle etwas über ihn erzählen, über das was er sei. Also habe ich mich gefragt, was er mir denn heute ist und in Zukunft sein wird?
Erstens ist da natürlich die Lücke. Ich habe einen Freund verloren, wie ihr alle auch. Aber schaue ich etwas genauer hin, sehe ich etwas ganz anderes: Wo er gestanden hat, ist keine Lücke, sondern ein Leuchten. Wo er gestanden hat, steht einer der aussieht wie Mahatma Gandhi, der hatte auch dieses Leuchten. Und wenn ich mich erinnere an all die Menschen, die schon an mir vorbeigezogen sind, dann muss ich sagen – so ein Leuchten habe ich noch gar nie gesehen.
Zum ersten Mal habe ich es bemerkt, als wir einander wieder einmal in der Café Bar Meridiani getroffen haben. Das war kurz bevor ihm die Ärzte sagten, dass er Metastasen habe. Wir sassen da beisammen und blinzelten in die Herbstsonne und er strahlte und strahlte wie ein kleines Kind an Weihnachten. Er erzählte mir von seinen Träumen. Wie er früher immer von langen dunklen Korridoren und schäbigen Räumen geträumt hat; abblätternde Tapeten und viele Türen von denen keiner weiss, was dahinter liegt. Jetzt sind seine Räume und Träume licht und hell, farbig, gut ausgeleuchtet und schön.
Von da an waren unsere Treffen immer eine aussergewöhnlich freudige und Kraft spendende Erfahrung. Natürlich hatte ich jedes Mal diese Angst vor dem nächsten Telefon oder dem nächsten Besuch; so wie man halt Ängste mitbringt, wenn man sich mit einem Todkranken trifft. Aber jedes Mal vertrieb Ben diese Ängste schon bei der Umarmung mit der wir einander begrüssten. Und jedes Mal ging ich wieder von ihm weg mit der Ruhe und Gewissheit, dass alles gut war, so wie es ist. Wie mir erging es offenbar auch euch. Zum Beispiel mit Mahatma Ben in Stans im Rollstuhl. Bekannte grüssen ihn, kommen auf ihn zu. Jap, der Hotelier, bietet ihm an, dass jeder der Ben besucht gratis in seinem Motel übernachten könne. Rolf sein alter Freund begegnet ihm und sie finden in wenigen Minuten eine Tiefe ihres Gesprächs, die man sonst wenn überhaupt, nur nach längerer Zeit erreicht. Ben öffnet in diesen letzten Wochen die Türen zu den Herzen der Menschen. Und wir beide stellen fest: so wäre es eigentlich schön, so sollte es immer sein.
Er hat viel Besuch in dieser Zeit. Die Menschen kommen gern zu ihm. Es ist, als ob er ein Tor aufgestossen hat, durch das die anderen hindurchsehendürfen, er aber hindurchgehendarf.
Das war auch das letzte Mal im Spital so, als ich aus dem Tessin nach Stans gefahren kam, um ihm auf Wiedersehen zu sagen. Wir sassen oder lagen auf diesen Spitalbetten. Er machte Witze, wir umarmten einander, er war klar, voller Frieden. Und es war weitaus mehr Frieden in diesem Zimmer als sonst wo auf der Welt. Dies nicht zuletzt, dank der liebevollen Betreuung durch das Stanser Spitalteam. Es war für ihn in dieser Nacht auch klar, dass er bald hinübergehen würde und dass es dort drüben weitergeht.
Wir haben in den letzten zwei Jahren viel über den Tod miteinander geredet und viel über das Leben. Ich erinnere mich noch gut an die Spaziergänge rund um Stans und wie er Augenblick um Augenblick genossen hat. Wie schön ihm die Sonne erschienen ist, wie wertvoll jeder Baum! So viel Leben wie in seinen letzten zwei Jahren, habe er in all den vielen Jahren zuvor nicht gehabt, sagte er. Und das merkte man ihm auch an. Neben all den Schwierigkeiten nach der Operation mit Essen und Übelkeit und Schlafstörungen gesundete er, nicht am Körper, aber an Seele und Geist. Und irgendwann war er gesünder als viele von uns, mich eingeschlossen. Weil er das Leben liebte und es so nehmen konnte, wie es war.
Und deshalb möchte ich in seinem Namen sagen: Was er mir hinterlassen hat – und euch allen – ist das Leben selbst, unser Leben. Er hat uns vorgelebt, was das sein kann. Er hat uns gezeigt, wie man sich fühlt, wenn man von der Ewigkeit überrascht wird. Es ist ein Leben für den Augenblick, Tag für Tag, ganz dankbar, ganz freudig. Es ist das Leben auf einen Tod zu, wie wir alle erfahren werden, aber eben auch auf eine Ewigkeit zu. Und damit dies gelingt, so wie es ihm gelungen ist, müssen wir loslassen, ganz viel und ganz vieles. Heute lassen wir Ben los. Das heisst nicht, dass wir ihn vergessen, aber es heisst, dass wir ihn weitergehen lassen, dort wo er jetzt geht und dass wir selber weitergehen, voller Vertrauen, dass alles gut ist. Vielen Dank dafür, lieber Ben.
(geschrieben 2007 als Totenrede für meinen Freund Ben)
Die Freiheit hat zwei Gesichter. Das eine steht auf der Bergspitze, schaut in das weite Alpenpanorama, sieht dort im Abendrot den Monte Rosa glühen, den höchsten Gipfel der Schweiz, und fühlt sich entbunden von allem, was unten im Tal vor sich hin dämmert. Das andere schaut mich an und fragt: was willst du?
Unser Kursleiter, Bergführer, Koch und Künstler hat mich und ein paar andere zum kleinen Bergsee Laghetto di Pianca mitgenommen. Der See bedeutet ihm viel. „Es ist der schönste Platz, den ich in meinem Leben gefunden habe“, sagt er. Das Seelein liegt über dem Maggiatal im Tessin und es dauerte über sechs Stunden bis wir es erreichten, die Rucksäcke voll mit Proviant für eine Woche, mit Zelt und Schlafsack. Der Aufstieg, die Anstrengung bis an die Grenze unserer Kraft und der Schweiss waren der Preis für das erste Gesicht der Freiheit. Hier oben sind wir allein. Kein Haus, keine Strasse, nur ein Fussweg. Nicht einmal eine Telefonverbindung kommt hier zustande. Die Zivilisation und damit alle Anforderungen, Termine, Bindungen, Routinen haben wir unten im Tal gelassen. Ich spüre wie die Brust weit und der Atem frei wird. Die Luft schmeckt nach Harz und Holzfeuer und Wind. Es ist wunderbar still hier. Ab und zu zwitschert ein Vogel oder singt und wenn ich es rascheln höre, könnte es eine Schlange sein, die von mir in ihrer Ruhe oder ihrem Sonnenbad aufgescheucht wird. Das Wasser des Sees kräuselt sich nur, wenn wir selber reinsteigen; niemand anders macht hier Wellen. Und wenn ich auf den ruhigen Seespiegel blicke, sehe ich das andere Gesicht der Freiheit. Es schaut mich an und fragt: was willst du?
Eine Woche verbringe ich hier oben. Wir stehen am Morgen früh mit der Sonne auf, geweckt vom Gesang unseres Bergführers, essen etwas, bekommen einen heissen Kaffee und haben dann den ganzen Tag für uns. Am Abend kehren wir zurück ans Lagerfeuer, im Topf köchelt ein Risotto, wir essen, tauschen uns aus und gehen dann schlafen. Zum ersten Mal seit Jahren schlafe ich hier tief und fest. Und während des ganzen Tages schaut mich das zweite Gesicht an und fragt: was willst du? Ich kann auf einem Felssporn sitzen und nichts tun. Ich kann etwas gestalten mit Ästen, mit Steinen oder den uralten, gedrungenen Wacholderwurzeln. Ich kann mich ins kalte Wasser des Sees gleiten lassen und von einem Ufer zum andern schwimmen. Ich kann auf der Bergwiese in der Sonne liegen. Ich bin frei zu tun oder zu lassen, was ich will. Es ist ein Zustand, wie H.D.Thoreau ihn so gut in «Walden» beschreibt. Ungewohnt, überraschend, vor allem für mich. Wobei ich schnell merke, dass auch die zwei anderen Männer unserer kleinen Gruppe viel Mühe haben mit dieser inneren Freiheit.
Ich bin es gewohnt zu leisten, Pflichten zu erfüllen, Resultate zu liefern. Wie es mir selber dabei geht, ist weniger wichtig. Mein Selbstwert bemisst sich am Erfolg in der Welt. Dass ich es mir wert bin, selber zu entscheiden, was mir Spass und Freude macht, um das dann auch zu tun, frei und einfach weil ich ausprobieren möchte, ob es wirklich Spass macht, muss ich erst noch lernen. Ich habe keine Erfahrung damit, zu wissen, was ich wirklich will. Ich weiss nicht, was ich wirklich will. Ich weiss auch nicht, wer ich wirklich bin.
Deshalb probiere ich einiges aus in dieser Woche, die sich als ein grosses Geschenk entpuppt. Der Kurs hier am Laghetto ist mit «Land Art» übertitelt. Das heisst, wir versuchen kreativ zu sein, mit Naturmaterialien etwas Schönes oder Wahres zu schaffen, zu spielen. Was da entsteht, kommt aus uns selber, von niemandem sonst. Unser Kursleiter begleitet uns dabei, das heisst, er kommt einmal pro Tag vorbei und fragt, ob und wie er behilflich sein kann. Dann geht es um Handwerkliches, aber meist öfter um Seelisches, um unseren Umgang mit dieser unbekannten Freiheit am See.
Das beste, was mir diese Woche gelingt, ist ein Alpenrosenbild. Ich steige vom Laghetto di Pianca hoch zum nächsten, etwas kleineren See. Das dauert eine halbe Stunde. Dort bin ich ganz allein. Dann tue ich etwas Verbotenes. Ich kneife die gesetzlich geschützten Alpenrosenblüten aus ihrem Blütenstand, sammle hunderte von ihnen und lasse sie zwischen zwei schwarz glänzenden Steinen am Seeufer zu Wasser. Es entsteht ein blutroter Blütenteppich in einem kleinen Fjord. Am Ausgang dieses Fjords klemme ich eine gebleichte Wacholderwurzel zwischen die schwarzen Steine, eine Art Brücke oder ein Tor zur offenen See. Dann mache ich ein Foto von dieser Komposition. Die Farbkontraste gefallen mir. Und beim Fotografieren bemerke ich, wie einzelne Blüten sich aus dem Teppich lösen. Sie gleiten unter dem Tor hindurch ins offene Wasser. Wahrscheinlich ist es der Wind, der sie sanft vor sich her bewegt. Hinaus in die Freiheit schwimmen sie, aus der Enge der schützenden Felsen ins offene Wasser. Ein gutes Bild.
Die Woche am Laghetto wird eine der besten meines Lebens. Einmal verbringe ich die halbe Nacht im Schlafsack unter freiem Himmel und schaue den Sternen zu, wie sie über das Firmament ziehen. Einmal kämpfen wir Männer mit schweren Stämmen eine Art Titanenkampf gegeneinander, lassen die Stämme aufeinander krachen, wieder und wieder bis wir nicht mehr können. Einmal klettere ich auf den äussersten Felssporn, setze mich dort hin und schaue abwechselnd ins Tal weit unter mir und in die Weite des Alpenpanoramas einen ganzen Morgen lang. Und immer wieder steige ich in den See und immer wieder gibt es Risotto zum Nachtessen, liebevoll zubereitet von unserem Koch und Leiter. Schon nach einem Tag legt sich eine grosse Ruhe auf uns und in uns, die uns bis zum Ende der Woche nicht mehr verlässt. Ich bin hier und bei mir angekommen. Alles ist gut.
Ich gehe immer unter. Wenn ich nicht strample und rudere, versinke ich im Wasser. So ist das seit ich lebe. Als Kind war das traumatisch. Ich habe mich auf der Toilette versteckt, zusammen mit einem Schulfreund, als die anderen Schwimmunterricht hatten. Und als wir entdeckt wurden, warf uns der Schwimmlehrer in hohem Bogen in den See. Davon habe ich mich jahrelang nicht erholt. Einigermassen Schwimmen lernte ich dann erst, als meine grosse Liebe mit mir eine kleine Bucht auf der Mittelmeerinsel Elba durchschwimmen wollte. Dass ich das nicht kann, konnte ich nicht zugeben in dieser frühen Verliebtheitsphase. Also bin ich hinter ihr hergeschwommen. Mit einem kleinen, aufblasbaren Ball von Nivea als Notnagel in der einen Hand. Als es unter mir so richtig tief blau wurde, musste ich meine Panik niederkämpfen, indem ich einfach stur auf die schönen Beine meiner Geliebten vor mir starrte. Und als wir dann endlich am anderen Ufer ankamen, konnte ich kaum aus dem Wasser steigen, so stark schlotterten meine Knie. Aber ab dann war der Bann gebrochen. Das Trauma überwunden.
Und kürzlich, als wir wieder einmal in Camogli an der ligurischen Küste ein paar Tage Ferien machten, stieg ich ins Wasser ohne zu Zögern oder zu Zaudern, legt mich auf die Wellen, schwamm und schwebte und hatte zum ersten Mal das sichere Gefühl, dass ich gar nicht untergehen könne. Das Wasser trug mich. Kein Strampeln mehr nötig. Ich konnte ruhige, langsame Schwimmzüge machen. Mein Atem ging regelmässig, leicht und tief. Und ich konnte mich sogar unbeweglich auf den Rücken legen und es geniessen vom Wasser getragen zu werden. So fühlt sich das also an! Ein tiefes Vertrauen in mich selbst und ins Meer stieg in mir hoch. Ich lag da auf dem Rücken in den Wellen, blinzelte zur Sonne hoch und konnte mich einfach treiben lassen.
Zuerst Liebe, dann Vertrauen und du gehst nicht mehr unter!
(Elba, 1998 und Camogli, Liguria, Italien, Frühling 2016)
Es schneit, gestern schneite es auch. Wir fahren mit den Autos zur Gondel und sind froh um unseren Vierradantrieb. Dann geht’s hinauf auf den Didamskopf im Bregenzerwald. Zuerst sehen wir nichts dort oben. Stecken in den Wolken, fahren die ersten Abfahrten fast blind. Dann reisst es auf. Die Sonne ist plötzlich in ihrer vollen Leuchtkraft da und nun sehen wir den frisch verschneiten Bergwinter in seiner ganzen Pracht. Jungfräuliche Hänge ohne eine einzige Spur überall. Alle Pisten lassen wir links liegen. Ab in den Tiefschnee. Pulverig, beinah einen Meter hoch, göttlich! Wir legen die ersten Spuren, alle von uns, es ist leicht, es ist reines Vergnügen! Der Pulverschnee hält uns und lässt uns doch frei schwingen, er gibt uns unsere Spuren und lässt uns die Linien doch selber ziehen. Es ist das absolut beste Tiefschneefahren der letzten 50 Jahre!
Und das Beste vom Besten ist der Steilhang. Dort liegt der Pulverschnee hüfttief. Der Hang ist so steil, dass man etwas Mut braucht, um oben einzusteigen. Aber heute nicht. Die Pulverschneemasse hält mich am Berg, begrenzt das Tempo und ich schwinge fast im freien Fall den steilen Hang hinunter, ohne Zwischenhalt, fast wie Fliegen fühlt es sich an. Ich flute mich mit Adrenalin und mein Herz stampft. An der Brille hängt Schnee, ich sehe fast nichts, aber das Schwingen geht auch so. Nocheinmal und nocheinmal rauf und wieder den Steilhang runter. Auch mit den Spuren drin gibt es kein Problem, so leicht ist der Schnee heut. Wir fahren, nein befliegen ihn bis zur Erschöpfung, bis zur letzten Bahn.