Ein Ball, ein Sohn, ein Platz

Ein Ball, ein Sohn, ein Platz

Die Standard-Antwort war: Heute geht es gerade nicht so gut. Oder als Variante: Leider habe ich gerade keine Zeit heute.

Die Glück-bringende Antwort war: Ok, gehen wir!

Die Frage des Sohnes an den Vater war jahrelang dieselbe: Kommst du bitte mit mir auf den Fussballplatz? Ich weiss nicht mehr genau, wie lange ich die Standard-Antwort durchzog, aber es waren nicht Monate, sondern Jahre. Aber irgendwann einmal, da war mein Sohn elf oder zwölf wechselte ich auf die Glück-bringende, obwohl ich damals keine Ahnung davon hatte, wie viel Glück dieses «ok, gehen wir!» mir bescheren würde.

Dazu muss man wissen, dass ich nicht gerne Fussball spielte. Es nie gerne tat. Nicht in meiner Kindheit, nicht in meiner Jugendzeit. Man kann sogar sagen: ich hasste Fussball. Fussball demütigte mich, schon bevor die Schulzeit anfing. Ich war derjenige, der das nicht konnte. Das was alle konnten. Allerhöchstens in der Verteidigung konnte man mich einsetzen. Und eigentlich auch dort nicht. Ich schoss den Ball mit der Fussspitze, worauf der Ball irgendwohin flog und mir die Zehen weh taten. Aber alle wollten immer Fussball spielen, nicht Handball, nicht Korbball, nicht Tennis. Ich spielte Tennis, aber das nützte mir auf dem Fussballfeld weniger als nichts.

Mein Sohn hingegen konnte Fussball spielen, auch Handball. Er kann eigentlich alles, was mit Sport zu tun hat. Und seit er ein kleiner Junge war verbrachte er die meiste Zeit auf dem Fussballplatz neben der Turnhalle. Er war unermüdlich. Was auch bedeutete, dass seine Kollegen irgendwann zu müde waren, während er nicht genug kriegen konnte. Deshalb fragte er mich. Und nachdem ich ihm jahrelang die Standard-Antwort gegeben hatte, gab ich mir irgendwann einmal innerlich einen Ruck und sagte: ok, gehen wir!

Er musste mir alles beibringen. Zuerst einmal gewöhnte er mir das Schiessen mit der Fussspitze ab. Jedes Mal, wenn ich vom Schiessen müde wurde, stellte er mich ins Tor, bis ich wieder etwas Kraft gewonnen hatte. Dann übernahm er als Torhüter und ich war wieder dran mit Schiessen. Er brachte mir bei, wie man flache Bälle schiesst und wie die Halbhohen. Er lernte mich, den Ball anzunehmen. Er unterrichtete mich im Schiessen von angeschnittenen Bällen. Ich konnte mit der Zeit scharfe, schnelle Bälle schiessen und auch langsame. In die linke unter Ecke und in die rechte obere. Auch Weitschüsse. Auch erste Dribblings.

Er war und ist der geborene Fussballtrainer. Ich konnte mich noch so blöd anstellen – er ermunterte mich. Er sah präzis, was ich falsch machte und gab mir die entsprechenden Tipps. Er konnte meine Bewegungen analysieren und ausserdem gut erklären, wie ich sie verbessern könnte. Es war faszinierend! Ich begriff, wieso er ein derart guter Sportler war: Es waren nicht nur seine Beine, seine Instinkte, sein Talent, sondern auch sein Kopf. Und so änderte sich meine Standard-Antwort. 

Die neue Standard-Antwort war: ok, gehen wir! Ab dann verbrachten wir zwei Sommer lang viele, viele, viele Stunden gemeinsam auf dem Fussballplatz. Als Vater und Sohn, wobei die klugen Ratschläge vom Sohn kamen und der Vater sie umzusetzen versuchte. 

Mit der Zeit verblassten all die Jahre, in denen ich mich auf den Fussballfeldern geschämt hatte und ich begann mich auf unsere abendliche Sportstunde zu freuen. Es war ein ganzer, riesengrosser Brocken Scham, der da ausgedribbelt wurde und sich in Freude, Spass und eine wundervolle Vater-Sohn-Beziehung verwandelte.

(Luzern, Steinhofschulhaus, 2013 – 2015)

Der Federer-Effekt

Der Federer-Effekt

Plötzlich sehe ich es. 

All die Jahre, in denen ich Tennis spiele, habe ich es nicht gesehen. Jetzt ist die Sicht da. Ich stehe mit einem Freund auf dem Platz in der Tennishalle Pilatus und realisiere mit einem Mal, wie absolut unglaublich es ist, überhaupt den Ball zu treffen. Ich nehme wahr, mit welch unfassbarem Zusammenspiel aller Muskeln und Sinne er den Ball zum Service hochwirft, ihn trifft und in mein Feld spielt. Und wie in Zeitlupe verfolge ich, wie meine Augen diesen Ball fixieren und mein Gehirn gleichzeitig aus sämtlichen Rohren schiesst, um meine Muskeln dorthin zu bewegen, wo ich den Ball treffen soll. Es kommt mir ganz und gar unwirklich vor, wie so etwas, solch eine Bewegung überhaupt auszuführen ist. Und wie ich mich gleichzeitig mit allen Sinnen im Raum orientiere, die richtige Stellung zum Ball finde, aushole und den Schlag führe. Es ist ein wunderbarer Tanz. Vollkommen perfekt in sich. Es ist ein irrsinniges Zusammenfliessen und Verströmen von Energien, von Reizen, von Antworten darauf. Und alles geschieht in natürlicher Eleganz, eben wie ein Tanz. 

Man könnte auf die Idee kommen, dass das eine Erleuchtung auf dem Tennisplatz war.

Am nächsten Tag schaue ich dann Roger Federer im Fernsehen zu und habe dieses Erlebnis in abgeschwächter Form (höchstens noch 10%) nochmals.

Viel Vergnügen beim Australian Open!!

(Tennisplatz, November 2017)

Klettern heisst Spreizen

Klettern heisst Spreizen

Fontainebleau tönt nach Louis XIV, Schloss in Frankreich. Das ist es auch. Aber ums Schloss herum gibt es einen Wald. Und dieser Wald ist eine einmalige geologische Besonderheit: In ihm liegen zehntausende von grösseren und kleineren Sandsteinblöcken verstreut, die sich ideal dazu eignen, um auf ihnen herumzuklettern. «Bouldern» nennt man das. Im Wald von Fontainebleau wurde das «Bouldern» erfunden und er ist heute der Gral der Boulderwelt.

Die Felsen sind nicht hoch, sechs Meter vielleicht die grössten; die meisten kleiner. Auf fast jedem Felsen ist, oft kaum sichtbar, ein farbiger Punkt gemalt, der den Schwierigkeitsgrad des Kletterns bezeichnet. All dies ist fein säuberlich in Boulderkarten festgehalten. Man schnappt sich also so eine Karte, probiert aus, ob man orange, blau oder schwarz klettern kann und wählt dann eine orange, blaue oder schwarze Tour aus, die einen von Fels zu Fels, oft in einer Rundtour durch den Wald führt.

Bevor man zu Klettern beginnt, zieht man sich «Kletterfinken» über die Füsse. Diese Spezialschuhe sind so eng, dass es weh tut. Aber sie garantieren Halt und engsten Kontakt zwischen Fuss und Fels. Den braucht man.

Ich als Anfänger nehme mir zuerst ein paar einfache Brocken vor. Ich sehe die kleinen Vorsprünge, auf die ich stehen muss, kann den Verlauf der Kletterstufen vom Boden aus nachvollziehen, beginne hochzuklettern und stehe schon bald auf dem ersten, dann dem zweiten, dritten, vierten Brocken. Das ist jedes Mal ein Erfolgserlebnis. 

Dann wechsle ich die Farbe, klettere eine Stufe schwieriger. Die Vorsprünge werden kleiner. Die Anforderungen steigen. Oft kann ich mich nur dank meiner langen Beine und Arme hochziehen. Aber noch geht es. Noch sind die Erfolgserlebnisse häufig.

Nochmals wechsle ich die Farbe. Hier sehe ich noch einzelne Tritte, dazwischen aber ist nichts und es ist nicht klar, wie ich vom einen auf den anderen Tritt kommen soll – ich habe meine Kletterstufe gefunden: die drittleichteste Liga. Ich brauche jetzt mehrere Anläufe bis ich oben ankomme. Einzelne Felsen gehen gar nicht. Ich hänge dann dort irgendwie drin, sehe nicht, wie es weitergehen soll und muss wieder abspringen auf den Boden, um eine neue Route zu probieren. Ich komme ins Schwitzen. Ich lerne, dass ich ganz nah zum Fels gehen muss, der Bauchnabel muss über den Stein schleifen. Ich lerne von einem erfahrenen Kletterer den Satz «Klettern heisst Spreizen». Wenn manchmal kein Tritt, kein Vorsprung vorhanden ist, muss man sich irgendwie zwischen zwei Felsspalten hineinspreizen und dort Halt finden. Gar nicht einfach! Oder man klettert einer einzigen Spalte entlang und verspannt in einem Kraftakt die Arme mit der Spalte, um so hochzukommen.

Manchmal stehe ich auch vor einem Brocken, auf dessen Flanke auf den ersten Blick gar nichts zu sehen ist, kein Tritt, keine Spalte, kein Vorsprung. Erst beim Absuchen entdecke ich da und dort eine kleine Wölbung oder einen winzigen Riss. Das ist dann ganz schwierig und für mich oft nur mit Hilfe meiner Mitkletterer zu lösen, die mehr Erfahrung haben. Doch je schwieriger es wird, umso faszinierender wird es auch. Es ist wie eine Rätselaufgabe, bei der Kopf und Körper zusammenarbeiten müssen. Ganz fokussiert. Ich muss mit dem Fels verschmelzen, ihn zu mir nehmen, damit ich ihn besteigen kann. Wenn das gelingt, ist es ein herrliches Flow-Erlebnis.

(2009)

Tiefschneefahren ist wie Fliegen


Es schneit, gestern schneite es auch. Wir fahren mit den Autos zur Gondel und sind froh um unseren Vierradantrieb. Dann geht’s hinauf auf den Didamskopf im Bregenzerwald. Zuerst sehen wir nichts dort oben. Stecken in den Wolken, fahren die ersten Abfahrten fast blind. Dann reisst es auf. Die Sonne ist plötzlich in ihrer vollen Leuchtkraft da und nun sehen wir den frisch verschneiten Bergwinter in seiner ganzen Pracht. Jungfräuliche Hänge ohne eine einzige Spur überall. Alle Pisten lassen wir links liegen. Ab in den Tiefschnee. Pulverig, beinah einen Meter hoch, göttlich! Wir legen die ersten Spuren, alle von uns, es ist leicht, es ist reines Vergnügen! Der Pulverschnee hält uns und lässt uns doch frei schwingen, er gibt uns unsere Spuren und lässt uns die Linien doch selber ziehen. Es ist das absolut beste Tiefschneefahren der letzten 50 Jahre!

Und das Beste vom Besten ist der Steilhang. Dort liegt der Pulverschnee hüfttief. Der Hang ist so steil, dass man etwas Mut braucht, um oben einzusteigen. Aber heute nicht. Die Pulverschneemasse hält mich am Berg, begrenzt das Tempo und ich schwinge fast im freien Fall den steilen Hang hinunter, ohne Zwischenhalt, fast wie Fliegen fühlt es sich an. Ich flute mich mit Adrenalin und mein Herz stampft. An der Brille hängt Schnee, ich sehe fast nichts, aber das Schwingen geht auch so. Nocheinmal und nocheinmal rauf und wieder den Steilhang runter. Auch mit den Spuren drin gibt es kein Problem, so leicht ist der Schnee heut. Wir fahren, nein befliegen ihn bis zur Erschöpfung, bis zur letzten Bahn.

(Bregenzerwald, Österreich, Dezember 2013)