Vorhang
auf, grosse Bühne. Darauf ein Turm von Trommeln, Congas, Bongos, Cimbeln und
Zeugs, das ich noch nie gesehen habe … dann schlendert der erste Musiker
rein, setzt sich irgendwo in diesen Wirrwarr und gibt einen Rhythmus vor. Ein
zweiter kommt, nimmt den Rhythmus mit einem anderen Instrument auf. Ein Dritter
klettert auf den Turm, setzt ein. Ein Vierter, Fünfter. Die ganze Bühne
schwingt sich ein, dann kommen mehr Musiker. Der Rhythmus schwappt über den
Bühnenrand hinaus. Das Stadion beginnt zu schwingen. Boden, Stühle, Wände. Dann
die Leute. Dann noch mehr Musiker auf der Bühne, fast zwei Dutzend jetzt, nur
Rhythmus. Dieser Teppich bläst mich glatt weg, rollt über mich und hört nicht
auf zu stampfen und zu schwingen und zu pumpen.
Dann
erst kommen die Bläser, die Gitarristen, die Akkordeonisten und beginnen die
Rhythmen mit Melodien zu bearbeiten, walzen sich durch, kneten das Bummern.
Mein Zwerchfell ist ein einziger Resonanzboden inzwischen. Ich darf nicht
vergessen Luft zu holen! Jetzt ist die Musik auch bei den Füssen angelangt.
Nicht nur bei mir. Das ganze ausverkaufte Hallenstadion wippt, stampft und
grooved. Ein Hexenkessel!
Und
erst jetzt, zehn Minuten nach dem ersten Taktschlag, kommt der Star auf die
Bühne. Ein kleiner, winziger Paul Simon vor diesem riesigen wummernden Turm mit
einer Gitarre in der Hand, die er zusammen mit seiner Stimme zum Mikrofon
trägt. Er hat diese «Rhythm of the Saints» inszeniert, war in Brasilien, hat
Musiker von dort mitgenommen, Lieder zu den Rhythmen geschrieben und die
spielen sie jetzt, direkt für unsere Zwerchfelle, wo die Fröhlichkeit, die
Ausgelassenheit und die Lebensfreude explodieren. Mitten im Bauch. Und das
halten sie durch, zwei Stunden lang, ein Lied ins andere rein, immer tranceartiger
bis zur Erschöpfung, bis unsere Felle nur noch schlaff zwischen den Knochen
hängen und die Füsse es kaum mehr bis zum Ausgang schaffen.
Ich sitze mit dem Rücken zum Chor auf der Kirchenbank. Es ist Allerheiligen 2017 und es wird ein göttlicher Abend. Als erstes bemerke ich, dass für dieses Konzert meine Ohrmuscheln falsch herum montiert sind. Da der Chor hinter mir auf der Empore singt, wirken meine Ohrmuscheln nicht wie Schalltrichter, sondern wie Lärmschutzwände. Ich schaue nach vorn in den leeren Kirchenraum, wo es nichts zu sehen gibt. Also schliesse ich die Augen.
Und plötzlich höre ich es: Wie die Musik nicht von den Sängerinnen und Sängern des Chors kommt, sondern durch sie hindurch fliesst. Aus etwas Tieferem entströmt sie. Ich sehe nicht woher. Ich höre nicht woher. Es sind Töne, die durch die Kehlen fliessen, von irgendwoher durch diese Kirche, diese Kehlen, durch diese meine Ohren hindurch und weiter. Als ob ich nicht dasitzen würde, fliessen sie auch durch mich hindurch. Bei dieser Art Hören verlieren meine Ohren ihre Festigkeit, meine Haut wird durchlässig, ich bin hier nicht mehr der sitzende Körper auf der Kirchbank, sondern höchstens Zwischenraum; die weite Leere zwischen den Atomen meines Körpers.
Während dem das mit mir geschieht, realisiere ich, wie der Chor hinter mir nicht Quelle, sondern Teil des Klangs ist. Ein Klang, der schon vor dem Chor war und auch nach dem Chor sein wird.
Und selbst die Quelle dieser Musik aus der Tiefe ist noch nicht die ganze Tiefe. Es ist nicht nur das «Requiem aeternam» von Maurice Duruflé, das hier ertönt, sondern hinter diesem Requiem tönt noch alle Musik von früherer Zeit. Sie quillt sozusagen in die Melodie des Aeternam hinein und wird mitgenommen.
So sitze ich mit geschlossenen Augen mehr als eine Stunde in der zweiten Reihe der Hofkirche in Luzern und halte meine Augen fast während des ganzen Requiems geschlossen. «Der Chor» singt hinten auf der Orgelempore. Die Orgel zusammen mit der Zuger Sinfonietta begleitet den Chor zusammen mit einer Mezzosopranistin, die ein wunderbares Solo gibt. Ein göttlicher Abend!
Es gibt Freunde, denen kann man sogar ein Neil Diamond-Konzert zumuten. Oder eines von Reinhard Mey. Der Song «Forever in Bluejeans» ist heute zwar so etwas von out, zumal ein 77-Jähriger vor uns steht und das Lied singt, aber was soll’s. Die Freundschaft ist ebenso alt und wird mit jeder Zumutung noch fester gezurrt. Es geht um Hans. Ich habe ihn vor drei Jahren in ein Reinhard Mey-Konzert gezerrt, weil ich diesen Liedermacher einmal im Leben live sehen wollte und weil er mich mit seiner Nickelbrille und dem kurz geschorenen Haar, dem verschmitzten Lächeln, seiner Weinseligkeit und seinem absolut soliden und verlässlichen Wesen immer an meinen Freund Hans erinnert hat. Viele Lieder von Mey gehören zudem zu meinen Lieblingsliedern, vor allem wegen seiner Texte, die mal witzig, mal poetisch, immer elegant sind. Und so besuchten Hans und ich den Reinhard in der Tonhalle Zürich. Ich fand’s genial und Hans stand zu mir als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Die Retourkutsche war eines der letzten Neil Diamond-Konzerte vor seinem Rücktritt von der Bühne, zu dem mich Hans mitschleppte. „Wenn der noch Mal kommt, will ich ihn unbedingt sehen“, war seine Begründung und mir war das genug. Wir bestiegen zusammen den Zug Richtung Hallenstadion, genossen, was zu geniessen war und übersahen geflissentlich, was ein bisschen peinlich daherkam. Sowohl Mey wie Diamond haben unsere Jugend beschallt. Lang ist’s her. Aber seitdem sind wir Freunde. Durch all die Jahrzehnte hindurch. Und jedes Mal, wenn wir einander wiedersehen ist es wie ein Heimkommen.
Die Eltern von Hans sind gestorben. Das heisst, für ihn gibt es kein nach Hause kommen mehr dort. Er hat zwar noch Schwestern, aber das ist nicht das Gleiche. Und er hat mich und ich ihn, um dieses Gefühl des Heimkommens zu zelebrieren. Wir tun jeweils nicht viel, wenn wir einander sehen. Eine kleine Wanderung, ein gemeinsames Essen oder eben ein Konzertbesuch. Wir müssen diese Freundschaft nicht weiterentwickeln, sondern einfach immer mal wieder zu ihr zurückkehren. Vom Meer her, das manchmal stürmisch ist, anlanden auf dieser Freundschaftsinsel, die immer dort steht, wie der Fels in der Brandung seit jeher. Diese Wiedersehen gehören zu den ruhigsten und entspanntesten Stunden meines Lebens. Da ist nichts, was gemusst wird, nichts, das gezeigt werden könnte, nur da sein und einander versichern, dass man immer noch da ist. Das reicht vollkommen.
(Freundschaft mit Hans, 1968 – …)
Hier ist der Text meines Lieblingsliedes von Reinhard Mey. Es geht um’s nach Hause kommen:
Viertel vor Sieben (Reinhard Mey)
Dunkle Regenwolken sind aufgezogen,
Die Dämmerung fällt auf einmal ganz schnell.
Überm Stahlwerk flackert blau der Neonbogen,
Die Fenster im Ort werden hell.
„Wo hast du dich nur wieder rumgetrieben,
Zieh die klatschnassen Schuh‘ erstmal aus!“
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Und es soll Sonnabend sein und es soll Topfkuchen geben
Und der soll schon auf dem Küchentisch stehn
Und eine Kanne Kakao und meine Tasse daneben
Und ich darf die braune Backform umdrehn.
Schokoladenflocken mit der Raspel gerieben
In der Schaumkrone meines Kakaos.
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Ein Brief zwischen Zeitung und Werbung im Kasten
Erschüttert dein Fundament:
Anna und Hans, die so gut zusammenpaßten,
Haben sich einfach getrennt.
Wie hast du sie beneidet, zwei, die sich so lieben!
Und plötzlich ist doch alles aus.
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Und Vater soll im Wohnzimmer Radio hör´n
In den steinalten Grundig versenkt.
Und die Haltung sagt mir: Bloß jetzt nicht stören!
Und wenn er den Blick auf mich lenkt,
Mit der vorwurfsvoll‘n Geste die Brille hochschieben,
„Menschenskind, wie siehst du wieder aus!“
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Das Fell wird dünner und leerer der Becher,
Der Zaubertrank wirkt nur noch schwer.
Der Kummer ist tiefer, der Trost scheint schwächer,
Und es heilt nicht alles mehr.
Wo ist meine Sorglosigkeit geblieben,
Was machte Erkenntnis daraus?
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben
Und ich wünschte, ich käme nach Haus!
Nur einen Augenblick noch mal das Bündel ablegen
Und mit argslosem Übermut,
Durch dunkle Wege, der Zuflucht entgegen
Und glauben können: Alles wird gut!
Manchmal wünscht‘ ich, die Dinge wär‘n so einfach geblieben
Und die Wege gingen nur gradeaus,
Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben