Forever in Bluejeans

Forever in Bluejeans


Es gibt Freunde, denen kann man sogar ein Neil Diamond-Konzert zumuten. Oder eines von Reinhard Mey. Der Song «Forever in Bluejeans» ist heute zwar so etwas von out, zumal ein 77-Jähriger vor uns steht und das Lied singt, aber was soll’s. Die Freundschaft ist ebenso alt und wird mit jeder Zumutung noch fester gezurrt. Es geht um Hans. Ich habe ihn vor drei Jahren in ein Reinhard Mey-Konzert gezerrt, weil ich diesen Liedermacher einmal im Leben live sehen wollte und weil er mich mit seiner Nickelbrille und dem kurz geschorenen Haar, dem verschmitzten Lächeln, seiner Weinseligkeit und seinem absolut soliden und verlässlichen Wesen immer an meinen Freund Hans erinnert hat. Viele Lieder von Mey gehören zudem zu meinen Lieblingsliedern, vor allem wegen seiner Texte, die mal witzig, mal poetisch, immer elegant sind. Und so besuchten Hans und ich den Reinhard in der Tonhalle Zürich. Ich fand’s genial und Hans stand zu mir als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Die Retourkutsche war eines der letzten Neil Diamond-Konzerte vor seinem Rücktritt von der Bühne, zu dem mich Hans mitschleppte. „Wenn der noch Mal kommt, will ich ihn unbedingt sehen“, war seine Begründung und mir war das genug. Wir bestiegen zusammen den Zug Richtung Hallenstadion, genossen, was zu geniessen war und übersahen geflissentlich, was ein bisschen peinlich daherkam. Sowohl Mey wie Diamond haben unsere Jugend beschallt. Lang ist’s her. Aber seitdem sind wir Freunde. Durch all die Jahrzehnte hindurch. Und jedes Mal, wenn wir einander wiedersehen ist es wie ein Heimkommen.

Die Eltern von Hans sind gestorben. Das heisst, für ihn gibt es kein nach Hause kommen mehr dort. Er hat zwar noch Schwestern, aber das ist nicht das Gleiche. Und er hat mich und ich ihn, um dieses Gefühl des Heimkommens zu zelebrieren. Wir tun jeweils nicht viel, wenn wir einander sehen. Eine kleine Wanderung, ein gemeinsames Essen oder eben ein Konzertbesuch. Wir müssen diese Freundschaft nicht weiterentwickeln, sondern einfach immer mal wieder zu ihr zurückkehren. Vom Meer her, das manchmal stürmisch ist, anlanden auf dieser Freundschaftsinsel, die immer dort steht, wie der Fels in der Brandung seit jeher. Diese Wiedersehen gehören zu den ruhigsten und entspanntesten Stunden meines Lebens. Da ist nichts, was gemusst wird, nichts, das gezeigt werden könnte, nur da sein und einander versichern, dass man immer noch da ist. Das reicht vollkommen.

(Freundschaft mit Hans, 1968 – …)

Hier ist der Text meines Lieblingsliedes von Reinhard Mey. Es geht um’s nach Hause kommen:

Viertel vor Sieben (Reinhard Mey)

Dunkle Regenwolken sind aufgezogen,

Die Dämmerung fällt auf einmal ganz schnell.

Überm Stahlwerk flackert blau der Neonbogen,

Die Fenster im Ort werden hell.

„Wo hast du dich nur wieder rumgetrieben,

Zieh die klatschnassen Schuh‘ erstmal aus!“

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Und es soll Sonnabend sein und es soll Topfkuchen geben

Und der soll schon auf dem Küchentisch stehn

Und eine Kanne Kakao und meine Tasse daneben

Und ich darf die braune Backform umdrehn.

Schokoladenflocken mit der Raspel gerieben

In der Schaumkrone meines Kakaos.

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Ein Brief zwischen Zeitung und Werbung im Kasten

Erschüttert dein Fundament:

Anna und Hans, die so gut zusammenpaßten,

Haben sich einfach getrennt.

Wie hast du sie beneidet, zwei, die sich so lieben!

Und plötzlich ist doch alles aus.

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Und Vater soll im Wohnzimmer Radio hör´n

In den steinalten Grundig versenkt.

Und die Haltung sagt mir: Bloß jetzt nicht stören!

Und wenn er den Blick auf mich lenkt,

Mit der vorwurfsvoll‘n Geste die Brille hochschieben,

„Menschenskind, wie siehst du wieder aus!“

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Das Fell wird dünner und leerer der Becher,

Der Zaubertrank wirkt nur noch schwer.

Der Kummer ist tiefer, der Trost scheint schwächer,

Und es heilt nicht alles mehr.

Wo ist meine Sorglosigkeit geblieben,

Was machte Erkenntnis daraus?

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Nur einen Augenblick noch mal das Bündel ablegen

Und mit argslosem Übermut,

Durch dunkle Wege, der Zuflucht entgegen

Und glauben können: Alles wird gut!

Manchmal wünscht‘ ich, die Dinge wär‘n so einfach geblieben

Und die Wege gingen nur gradeaus,

Manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben

Und ich wünschte, ich käme nach Haus!

Weit weg am Laghetto di Pianca

Weit weg am Laghetto di Pianca

Die Freiheit hat zwei Gesichter. Das eine steht auf der Bergspitze, schaut in das weite Alpenpanorama, sieht dort im Abendrot den Monte Rosa glühen, den höchsten Gipfel der Schweiz, und fühlt sich entbunden von allem, was unten im Tal vor sich hin dämmert. Das andere schaut mich an und fragt: was willst du?

Unser Kursleiter, Bergführer, Koch und Künstler hat mich und ein paar andere zum kleinen Bergsee Laghetto di Pianca mitgenommen. Der See bedeutet ihm viel. „Es ist der schönste Platz, den ich in meinem Leben gefunden habe“, sagt er. Das Seelein liegt über dem Maggiatal im Tessin und es dauerte über sechs Stunden bis wir es erreichten, die Rucksäcke voll mit Proviant für eine Woche, mit Zelt und Schlafsack. Der Aufstieg, die Anstrengung bis an die Grenze unserer Kraft und der Schweiss waren der Preis für das erste Gesicht der Freiheit. Hier oben sind wir allein. Kein Haus, keine Strasse, nur ein Fussweg. Nicht einmal eine Telefonverbindung kommt hier zustande. Die Zivilisation und damit alle Anforderungen, Termine, Bindungen, Routinen haben wir unten im Tal gelassen. Ich spüre wie die Brust weit und der Atem frei wird. Die Luft schmeckt nach Harz und Holzfeuer und Wind. Es ist wunderbar still hier. Ab und zu zwitschert ein Vogel oder singt und wenn ich es rascheln höre, könnte es eine Schlange sein, die von mir in ihrer Ruhe oder ihrem Sonnenbad aufgescheucht wird. Das Wasser des Sees kräuselt sich nur, wenn wir selber reinsteigen; niemand anders macht hier Wellen. Und wenn ich auf den ruhigen Seespiegel blicke, sehe ich das andere Gesicht der Freiheit. Es schaut mich an und fragt: was willst du?

Eine Woche verbringe ich hier oben. Wir stehen am Morgen früh mit der Sonne auf, geweckt vom Gesang unseres Bergführers, essen etwas, bekommen einen heissen Kaffee und haben dann den ganzen Tag für uns. Am Abend kehren wir zurück ans Lagerfeuer, im Topf köchelt ein Risotto, wir essen, tauschen uns aus und gehen dann schlafen. Zum ersten Mal seit Jahren schlafe ich hier tief und fest. Und während des ganzen Tages schaut mich das zweite Gesicht an und fragt: was willst du? Ich kann auf einem Felssporn sitzen und nichts tun. Ich kann etwas gestalten mit Ästen, mit Steinen oder den uralten, gedrungenen Wacholderwurzeln. Ich kann mich ins kalte Wasser des Sees gleiten lassen und von einem Ufer zum andern schwimmen. Ich kann auf der Bergwiese in der Sonne liegen. Ich bin frei zu tun oder zu lassen, was ich will. Es ist ein Zustand, wie H.D.Thoreau ihn so gut in «Walden» beschreibt. Ungewohnt, überraschend, vor allem für mich. Wobei ich schnell merke, dass auch die zwei anderen Männer unserer kleinen Gruppe viel Mühe haben mit dieser inneren Freiheit.

Ich bin es gewohnt zu leisten, Pflichten zu erfüllen, Resultate zu liefern. Wie es mir selber dabei geht, ist weniger wichtig. Mein Selbstwert bemisst sich am Erfolg in der Welt. Dass ich es mir wert bin, selber zu entscheiden, was mir Spass und Freude macht, um das dann auch zu tun, frei und einfach weil ich ausprobieren möchte, ob es wirklich Spass macht, muss ich erst noch lernen. Ich habe keine Erfahrung damit, zu wissen, was ich wirklich will. Ich weiss nicht, was ich wirklich will. Ich weiss auch nicht, wer ich wirklich bin. 

Deshalb probiere ich einiges aus in dieser Woche, die sich als ein grosses Geschenk entpuppt. Der Kurs hier am Laghetto ist mit «Land Art» übertitelt. Das heisst, wir versuchen kreativ zu sein, mit Naturmaterialien etwas Schönes oder Wahres zu schaffen, zu spielen. Was da entsteht, kommt aus uns selber, von niemandem sonst. Unser Kursleiter begleitet uns dabei, das heisst, er kommt einmal pro Tag vorbei und fragt, ob und wie er behilflich sein kann. Dann geht es um Handwerkliches, aber meist öfter um Seelisches, um unseren Umgang mit dieser unbekannten Freiheit am See.

Das beste, was mir diese Woche gelingt, ist ein Alpenrosenbild. Ich steige vom Laghetto di Pianca hoch zum nächsten, etwas kleineren See. Das dauert eine halbe Stunde. Dort bin ich ganz allein. Dann tue ich etwas Verbotenes. Ich kneife die gesetzlich geschützten Alpenrosenblüten aus ihrem Blütenstand, sammle hunderte von ihnen und lasse sie zwischen zwei schwarz glänzenden Steinen am Seeufer zu Wasser. Es entsteht ein blutroter Blütenteppich in einem kleinen Fjord. Am Ausgang dieses Fjords klemme ich eine gebleichte Wacholderwurzel zwischen die schwarzen Steine, eine Art Brücke oder ein Tor zur offenen See. Dann mache ich ein Foto von dieser Komposition. Die Farbkontraste gefallen mir. Und beim Fotografieren bemerke ich, wie einzelne Blüten sich aus dem Teppich lösen. Sie gleiten unter dem Tor hindurch ins offene Wasser. Wahrscheinlich ist es der Wind, der sie sanft vor sich her bewegt. Hinaus in die Freiheit schwimmen sie, aus der Enge der schützenden Felsen ins offene Wasser. Ein gutes Bild.

Die Woche am Laghetto wird eine der besten meines Lebens. Einmal verbringe ich die halbe Nacht im Schlafsack unter freiem Himmel und schaue den Sternen zu, wie sie über das Firmament ziehen. Einmal kämpfen wir Männer mit schweren Stämmen eine Art Titanenkampf gegeneinander, lassen die Stämme aufeinander krachen, wieder und wieder bis wir nicht mehr können. Einmal klettere ich auf den äussersten Felssporn, setze mich dort hin und schaue abwechselnd ins Tal weit unter mir und in die Weite des Alpenpanoramas einen ganzen Morgen lang. Und immer wieder steige ich in den See und immer wieder gibt es Risotto zum Nachtessen, liebevoll zubereitet von unserem Koch und Leiter. Schon nach einem Tag legt sich eine grosse Ruhe auf uns und in uns, die uns bis zum Ende der Woche nicht mehr verlässt. Ich bin hier und bei mir angekommen. Alles ist gut.

(Laghetto di Pianca, Tessin, 2006)

(www.karijoller.ch)