Smalltalk mit einem Berg

Smalltalk mit einem Berg

Die Greina ist eine der schönsten Hochebenen der Schweiz, eine Landschaft von nationaler Bedeutung und ein Symbol des erfolgreichen Politwiderstands. Denn die Greina sollte überflutet werden, weil Stromfirmen einen Stausee bauen wollten. Deshalb ist die Greina unter Linken und Grünen ein beliebtes Wanderziel. Ich bin allerdings mit einem Zeitungsredaktor der bürgerlich orientierten Neuen Zürcher Zeitung unterwegs, völlig unideologisch, einfach weil uns die Landschaft hier oben fasziniert.

Wir kommen vom Süden her, aus dem Tessin und steigen über einen kleinen Pass in die Hochebene hinunter. Es ist Frühsommer. Der Schnee ist geschmolzen, aber überall fliesst noch reichlich Wasser. So viel, dass es gar nicht so einfach ist, das namensgebende Flüsschen Greina zu überqueren. Wir müssen eine Passage suchen, bei der wir von Felsblock zu Felsblock springen können. Das Wasser ist hier noch reissend, eisig kalt und von milchiger Farbe.

Weiter unten wird es dann klarer und durch die Ebene schlängelt und windet sich die Greina als einer der letzten, freien Flüsse der Schweiz. Es ist ein herrlicher Anblick! Er erinnert uns an nordische Landschaften. Wollgras winkt bereits mit seinen schneeweissen Zotten im Wind. Noch weiter unten grasen ein paar Pferde. Die ganze Landschaft wirkt unberührt, heil. 

Über diese Hochebene zu wandern dauert ungefähr eine Stunde. Wir geniessen sie sehr. Reden kaum miteinander. Machen Fotos. Bleiben immer wieder auch stehen. Am unteren Ende der Hochebene, dort, wo die Ebene gegen das Tal abknickt, steht eine rostig orange Stahlskulptur, ein Engel. Mir gefällt sie. Ich bleibe lange neben ihr stehen und folge ihrem Blick. Er ist über den Fluss hinweg auf den Bergkegel vis-à-vis gerichtet. Ich geniesse nochmals die Ruhe, blicke zurück auf das breite Tal mit dem mäandrierenden Fluss, freue mich, dass dieses Tal unversehrt geblieben ist und gehe dann weiter. Mein Freund ist jetzt bereits ein paar hundert Meter vorausgelaufen. Aber wir haben Zeit, eilen muss ich nicht. Und so schaue ich mir den Bergkegel auf der anderen Talseite etwas genauer an. Er hat gegen Süden eine trockene, felsige Flanke und eine Felskante, die den Süden vom Norden trennt. Nördlich der Felskante ist es schattig und dunkelgrün und nass. Hier fliesst Schmelzwasser zur Greina hinab. Es ist Mitte Nachmittag und die Sonne wirft ihre Strahlen schräg auf den Berg. Dieses Licht macht seine Konturen sehr lebendig. Dann höre ich ihn sagen: „Alles ist gut.“

Mit einem Ruck bleibe ich stehen. Was habe ich gerade gehört? Ich schaue hinüber zum Berg und er wiederholt: “Alles ist gut.“ Der Berg spricht. Ich schaue ihn verdattert an. Sehe wie das Wasser in Rinnsalen seine Flanken hinunterfliesst. Alles ist gut? Er stehe schon sehr, sehr lange hier, sagt er. Und werde auch noch sehr, sehr lange hierstehen. „Einfach da sein“, meint er. „Friedlich ruhen in sich selbst.“ Ich merke, wie das Zeitgefühl dieses Berges auf mich übergreift, wie die Jahrmillionen spürbar werden. Die Staumauer, die hier hätte gebaut werden sollen – ein Wimpernschlag in seiner Zeit. Der politische Widerstand, der sich hier manifestierte – schon vorbei. Mein eigenes Leben – einmal einatmen des Berges und einmal ausatmen. Unheimlich die Ruhe und Beständigkeit, die mir der Berg in diesem Moment entgegenbringt! „Vertraue, alles ist gut“, wiederholt er. Aber die ganze Umweltzerstörung in der Welt!? All die Katastrophen, Meeresverschmutzung, Artensterben?! „In meinen Zeiträumen ist das nur ein Zittern an der Oberfläche“, versichert er. „Ich reiche tief bis ins Innere der Erde und gegen oben weit in den Himmel hinein. Deshalb kann ich sagen, in meinem Empfinden ist alles gut so wie es ist.“

Ich stehe immer noch auf diesem Weg, wie angewurzelt, und sehe mich plötzlich von aussen, wie ich mit diesem Berg gegenüber rede. Ich nehme wahr, wie dieser Mann und dieser Berg und dieser Engel aus Stahl eins sind, zutiefst miteinander verbunden. Dass es deshalb gar nicht verwunderlich ist, was dieser Mann tut, nämlich mit einem Berg sprechen. Und dass es ganz natürlich ist, dass dieser Berg mit diesem Mann spricht. Ich nehme das alles wahr und lache. Gleichzeitig höre ich, wie dieser Mann lacht, sehe wie er sich leicht vor dem Berg verneigt, ihm adieu sagt und weitergeht.

Gott ruht im Herzen der Steine, atmet mit den Pflanzen, träumt in den Tieren und erwacht im Menschen. (aus Indien)

Harmonie im Bauch

Harmonie im Bauch

Ich bin kein Feinschmecker, aber dieses Hirschfilet von Ueli macht Essen zu etwas Neuem. Ueli trägt Bart und sieht aus wie ein Bergler. Das ist er auch. Sein Restaurant liegt im Rocksresort in Laax, in den Schweizer Alpen und heisst «Grandis». Viel Holz im Innern, rustikale, aber moderne Formen. Eine grosse Vinothek und vor allem: die offene Küche mit dem Holzfeuer, um das sich alles dreht und das man fast von jedem Tisch aus im Auge hat.

Auf diesem Feuer wird das Hirschfilet, die Spezialität des Hauses, grilliert. Dazu servieren sie Polenta und ein bisschen Gemüse. Auch der auserlesene Rotwein gehört zum Gesamtbouquet. Genauso wie der aufmerksame, fast familiäre Service.

Schon beim Ansetzen des Messers auf das Fleisch spüre ich, wie zart es sein wird. Und dann genügt ein einziger, weicher Schnitt, um den Bissen abzutrennen. Kann Fleisch so zart sein, fährt es mir überrascht durch den Kopf? Doch dann liegt das Stück bereits auf der Zunge – und es zergeht! Es zerfliesst in meinem Mund und der Geschmack von Holzfeuer, Wildnis in den Wäldern, Bergluft und röhrender Kraft des Hirsches entfaltet sich zuerst in meinem Gaumen, dann in meinem ganzen Kopf. Wow! Einen Moment fühlt es sich an wie ein Drogentrip. Und meiner Frau, die mir gegenübersitzt, ergeht es genau gleich; ihre Augen weiten sich und über ihr Gesicht legt sich Entzückung. „Ist das gut!!!!!“.

Wir essen weiter und merken, wie sich die Polenta wie eine Bassnote unter den Hirsch legt und ihm Boden gibt. Die Polenta ist sämig und die kleinen Maisstücke darin sind fest und geben Halt, damit das Hirschfilet noch markanter zerfliessen kann.

Und die Gemüse würzen und bringen das Herbale der Bergwiesen ins Spiel. Wir kommen nicht aus dem Staunen und Geniessen raus. Jeder einzelne Bissen ist ein Erlebnis. Und der Teller leert sich viel zu schnell. Aber auch hier beweist Ueli, dass er etwas vom Handwerk versteht: Die Portionen sind exakt von richtiger Grösse, damit keine Schwere im Bauch entsteht und sich diese Bergnaturerfahrung auch im Bauch weiter entfalten kann.

Auf dem kurzen Heimweg vom «Grandis» in unsere Wohnung geschieht dann das, was ich so noch nie erlebt habe: Vom Bauch aus verbreitet sich eine Harmonie in meinem Körper, so dass sich der Körper anfühlt wie ein einziger Klang. Und kaum habe ich diesen Klang wahrgenommen, weitet er sich über meinen Körper hinaus und erfasst den Boden unter mir, die Hauswand neben mir, die ganze Bergwelt um mich herum. Ich spaziere in einem einzigen schönen Klang und das Instrument dafür ist mein Bauch. Ich kann den Klang halten bis ins Treppenhaus und bis fast vor die Wohnungstür, dann verebbt er wieder, zieht sich in meinen Körper zurück, bleibt dort noch als Harmonie bis ich einschlafe und ist als Erinnerung auch heute noch präsent.

(Laax, Schweiz, Winter 2017)