
Ich sitze mit dem Rücken zum Chor auf der Kirchenbank. Es ist Allerheiligen 2017 und es wird ein göttlicher Abend. Als erstes bemerke ich, dass für dieses Konzert meine Ohrmuscheln falsch herum montiert sind. Da der Chor hinter mir auf der Empore singt, wirken meine Ohrmuscheln nicht wie Schalltrichter, sondern wie Lärmschutzwände. Ich schaue nach vorn in den leeren Kirchenraum, wo es nichts zu sehen gibt. Also schliesse ich die Augen.
Und plötzlich höre ich es: Wie die Musik nicht von den Sängerinnen und Sängern des Chors kommt, sondern durch sie hindurch fliesst. Aus etwas Tieferem entströmt sie. Ich sehe nicht woher. Ich höre nicht woher. Es sind Töne, die durch die Kehlen fliessen, von irgendwoher durch diese Kirche, diese Kehlen, durch diese meine Ohren hindurch und weiter. Als ob ich nicht dasitzen würde, fliessen sie auch durch mich hindurch. Bei dieser Art Hören verlieren meine Ohren ihre Festigkeit, meine Haut wird durchlässig, ich bin hier nicht mehr der sitzende Körper auf der Kirchbank, sondern höchstens Zwischenraum; die weite Leere zwischen den Atomen meines Körpers.
Während dem das mit mir geschieht, realisiere ich, wie der Chor hinter mir nicht Quelle, sondern Teil des Klangs ist. Ein Klang, der schon vor dem Chor war und auch nach dem Chor sein wird.
Und selbst die Quelle dieser Musik aus der Tiefe ist noch nicht die ganze Tiefe. Es ist nicht nur das «Requiem aeternam» von Maurice Duruflé, das hier ertönt, sondern hinter diesem Requiem tönt noch alle Musik von früherer Zeit. Sie quillt sozusagen in die Melodie des Aeternam hinein und wird mitgenommen.
So sitze ich mit geschlossenen Augen mehr als eine Stunde in der zweiten Reihe der Hofkirche in Luzern und halte meine Augen fast während des ganzen Requiems geschlossen. «Der Chor» singt hinten auf der Orgelempore. Die Orgel zusammen mit der Zuger Sinfonietta begleitet den Chor zusammen mit einer Mezzosopranistin, die ein wunderbares Solo gibt. Ein göttlicher Abend!