Die Erlösung ist im «Tatort» angekommen

Die Erlösung ist im «Tatort» angekommen

In einem normalen «Tatort» werden immer am Sonntagabend, seit 49 Jahren, Mordfälle gelöst. Beim Tatort «Murot und das Murmeltier» hingegen wird nicht ge- sondern erlöst. 

Der Schauspieler Ulrich Tukur als Kommissar Murot und der Regisseur, Drehbuchautor und Musiker Dietrich Brüggemann bringen in dieser Tatort-Episode in nur 90 Minuten das grossartige Kunststück fertig, die Essenz der Erlösung glaubhaft zu inszenieren. Das geht so: Nachdem Murot in einer Zeitschleife immer und immer wieder den gleichen Banküberfall durchlebt und dabei jedes Mal erschossen wird, sitzt er am Filmende mit dem Täter am Seeufer, drückt ihm seine Pistole in die Hand und spielt ein paar wenige, simple Sätze so eindringlich, das plötzlich aufscheint, was mit «Erlösung» gemeint sein könnte. Er sagt:

«Sie haben jetzt die Wahl.

Sie können uns jetzt beide erschiessen. 

Dann geht alles von vorne los und wir sitzen wieder in der Bank. 

Oder sie lassen uns am Leben. 

Dann ist jeder Tag neu. 

Und die Chance besteht, dass es ein beschissener Tag wird. 

Oder auch mal ein sehr schöner. 

Oder ein ganz normaler Tag, mit wechselnder Bewölkung und 30 Prozent Regenwahrscheinlichkeit.»

Der Verbrecher schiesst nicht, sondern legt seinen Kopf auf Murots Schulter und Murot umarmt ihn.

Das ist alles.

So ist die Erlösung, 2019 Jahre nach Christus, im «Tatort» angekommen.

In den Ohren und Augen vieler war das eine Zumutung  – 57% der Zuschauer hat dieser «Tatort» nicht gefallen. 

Ich finde diese Schlusssequenz nach 90 Minuten Wirren und Irrungen mutig und in ihrer Einfachheit genial. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen zum Thema Erlösung. Aber spielen muss man das können und Tukur kann das und bringt diese Schlichtheit auf den Punkt.

Wir alle befinden uns in dieser Endlosschlaufe. Das repetitive Tatort-Schauen jeden Sonntagabend ist ein gutes Indiz dafür.  Die einen sehen das klarer, andere haben kein Bewusstsein dafür und wieder andere sind in dieser Routine abgestumpft. Aber die einzige Möglichkeit da rauszukommen ist – und genau das macht uns Tukur in seinem Tatort unnachahmlich vor -, jeden Tag als neuen Tag zu erfahren. Ein neuer Tag mit tausend Möglichkeiten, einer von dem man am Morgen nicht weiss, was er bis zum Abend bringen wird. Das immer wieder neu zu sehen und zu spüren ist hohe Kunst. So hohe Kunst, dass es kaum jemandem in Vollendung gelingen wird. Aber sobald es hin und wieder gelingt, und es dann immer öfter gelingt, spürt man Freiheit. Und je freier man sich fühlt, um so grosszügiger und verschwenderischer erscheint einem das Leben.

Der Kern der Erlösung ist simpel und zwar in allen Weltreligionen. Buddha soll einmal die Essenz seiner Lehre so zusammengefasst haben:

«Meditiere.

Lebe genügsam.

Sei still.

Verrichte deine Arbeit meisterlich.

Komme hinter den Wolken hervor,

wie der Mond.

Und scheine.»

Das reicht.

Das reicht nicht, um eine Weltreligion am Laufen zu halten. Dazu braucht es goldene Gongs, Räucherwerk, Roben und Rituale; aber im Grunde genommen ist das alles Marketing.

Um ein erfülltes Leben zu leben, reicht es, sich an diese sieben Zeilen zu halten. Oder «Murot und das Murmeltier» zu schauen.

Baum sein

Baum sein

Der Meditationslehrer heisst Anand und ruckelt mit seinem Kopf, wie es so elegant und vielsagend nur Inder können. Wir liegen alle auf dem Rücken und machen Atemübungen. Auch die Hände haben wir auf die Handrücken gelegt, wie um etwas zu empfangen. Mit einem Mal geschieht es, als sei es das Selbstverständlichste: Ich bin plötzlich der Baum draussen vor der Meditationshalle. Ich stehe da als Baum, atme als Baum, bin es. Augenblicklich erschliessen sich mir auch all die komplizierten Lebensprozesse im Baum. Ich sehe, wie aus der Luft und der Sonne Energie entsteht, sehe den Mitochondrien bei der Arbeit zu, überschaue wie die Nährstoffe und das Wasser aus den Wurzeln aufsteigt und zu den Blättern fliesst.

Wie lange ich Baum bin, kann ich nicht sagen. Die Meditationsblöcke dauern normalerweise 20 – 30 Minuten. Als Anand uns auffordert wieder die Augen aufzumachen, tue ich das und verlasse mich als Baum, um wieder zurückzukehren als ich Reto.

Das war mein erstes Einheitserlebnis während einer Meditation. Ich weiss noch, wie ich dachte: aha, so ist das also. Und ich war auch etwas stolz, das mir so etwas passiert ist.

Danach dauerte es Jahre bis ich wieder ein solches Erlebnis hatte. Diese Jahre brauchte ich, um zu lernen, dass solche Erfahrungen zwar extrem eindrücklich und schön sind, dass aber das Leben nicht aus der Sammlung dieser Einheitserlebnisse besteht, sondern aus unseren Montagen und Dienstagen, Wochen, Monaten und Jahren. Sich mit jedem Montag zu verbinden ist wert- und kunstvoller als Baum zu sein.

(Lassalle-Haus, Zug, Schweiz, 2003)

Der Atem von Eihei-ji

Der Atem von Eihei-ji

Wir werden um 3.20 Uhr geweckt und trippeln in den Meditationsraum. Eine halbe Stunde sitzen. Holz auf Holz klappt. Eine Glocke erklingt. Ein Gong, dann Trommeln, dann Stille.

Ich folge meinem Atem, wie Suzuki Roshi gestern Abend empfohlen hat. Einatmen 1. Ausatmen 2. Einatmen 3. Ausatmen 4. Ich folge ihm. Ab und zu höre ich den Gong, er stört mich, aber das ist unwichtig. Ich folge ihm. Der Atem dringt in mich ein und verlässt mich wieder. Ich spüre jeden Zug. Ich beobachte ihn aber auch, wie er in mich einzieht und ich beobachte wie er mich verlässt. Ich bin auch ausserhalb von mir als Beobachter. Und ich mache ganz deutlich die Erfahrung, dass der Atem auch der Atem der anderen ist. Es ist der Atem auch der Bäume. Es ist der Atem der ganzen Menschheitsgeschichte; ich atme auch Dogen, der dieses Kloster gegründet hat. Dieser Atem verbindet alles, ich bin verbunden mit allem, aber ich ist nicht nur mein Körper, sondern dieser Beobachter. Und dieser Beobachter ist ebenfalls der Atem. Ja, ja alles ist eins. Gong. Die halbe Stunde ist um.

Ich kehre nur ungern zurück. Diesen Geschmack hätte ich gerne noch ein bisschen länger  gespürt. Aber es ist auch klar geworden, dass dieser Geschmack immer da ist. In jedem Augenblick und an jedem Ort.

Eve erzählt mir später, als ich mit ihr über diese Erfahrung rede, dass man gar nicht mehr sitzen muss, weil ja die Erfahrung der Einheit immer überall ist. Man muss sie nur wahrnehmen.

Ein Kloster wie Eihei-ji, wo seit siebenhundert Jahren Zen geübt wird, macht solche Erfahrungen zugänglicher. Die Energie hier ist sehr spürbar.

Japan, 20.9.06

Sein wo man ist

Sein wo man ist

Eine Zeit lang bin ich jeden Donnerstagmorgen in unseren Garten gegangen und habe dort zwanzig Minuten lang achtsam gearbeitet; mal Rosen geschnitten, mal Wege gejätet, mal Beeren angebunden, … Das hat mir sehr viel Ruhe in den Alltag gebracht. So viel, dass ich über diese stillen zwanzig Minuten ein kleines Buch geschrieben habe. «Meditatives Gärtnern» (https://www.google.com/search?client=firefox-b-ab&q=Meditatives+G%C3%A4rtnern)

Es sind kurze Texte. Einer davon ist der Folgende:

Sechs Uhr in der Früh. Der Garten ist ohne mich gewachsen in den vergangenen zwei Monaten. Das tut er, einfach so. Das Leben darin hat sich ohne mich abgespielt. Ich stand daneben, einfach so.

Jetzt versuche ich, wieder hinein zu kommen. Die Stille ist schon da, wie sie es immer ist. Sie wartet nur auf mich. Ich gehe hinein. Es hat geregnet in der Nacht. Jetzt donnert es. Ich gehe ein Stück des Weges in den Garten, atme, spüre, wie der Atem kommt und geht, aber nicht fliesst. Dann beginnt es zu tröpfeln. Das Räucherwerk, das ich in den Händen halte, darf nicht nass werden – ich gehe zurück, stelle mich unter das Garagendach, lege das Räucherwerk ins Trockene.

Nur ein warmer Sommerregen, denke ich. Den Hut habe ich vergessen. Ich trete wieder hinaus, spüre die Tropfen auf meinem Schädel, hole die Grasschere und beginne mit Gras schneiden rund um die kleine Buddhastatue aus Stein. Die Messer wetzen gegeneinander, ritsch-ratsch, schön regelmässig. Der Regen hat die Halme gebeugt, gerade so, dass ich deutlich sehen kann, wo ich zu schneiden habe. Ritsch-ratsch ist ein leises, schönes Geräusch, nicht unähnlich demjenigen einer Sichel. Ich schneide gebückt die zwei Quadratmeter, denke an die Millionen von Sicheln, die jetzt gerade, im selben Augenblick den Reis schneiden in Asien, fühle mich verbunden, vergessen ist der Regen, ritsch-ratsch.

Der Buddha kommt frei. Ich hole das tiefgelbe Tuch, das mir eine Leserin geschenkt hat, um unseren Buddha zu schmücken. Es liegt noch im Trockenen. Ich binde es ihm um die Schultern. Es ist Licht. Ich hole die Räucherstäbchen, die sie mitgegeben hat und zünde sie an, trotz Regen. Dann trete ich drei Schritte zurück und blicke ihn an. Ich weiss, dass es nicht stimmt, aber er lächelt jetzt etwas breiter, schaut etwas zufriedener, befreit von Gras und zwei Schnecken, geschmückt mit einem leuchtenden Tuch und dem süsslichen Duft seiner Heimat in der Nase.

Ich lächle auch. Es regnet trotzdem. Ich bin nass. Es ist gut so. Ich gehe zurück, putze die Grasschere und lege sie zurück in den Schrank. Jetzt ist die Achtsamkeit da. Ich spüre, wie die Streichhölzer in meiner Hosentasche gegen den Schenkel drücken, gehe nochmals zurück, um auch sie an ihren Ort zu verstauen. Und weil ich dafür nochmals in den Regen hinaustreten muss, werde ich nochmals nass und genau in diesem Augenblick bin ich verbunden mit all den vielen, die durchhalten, die Disziplin üben, die tun, was getan werden muss, ob es regnet oder schneit, auch wenn es dunkel ist und mühselig und nichts als ihre Pflicht, ihr Tun an dem Ort, an den sie hingekommen sind.

Ihnen widme ich diese Zeilen. Und ihnen wünsche ich, dass sie beschenkt werden, wie ich heute, mit einem hellen, gelben Tuch, das Licht in den Regentag bringt.

(geschrieben am 29.6.06)