Der USP von 60+

Der USP von 60+

«Loslassen». Das Wort springt mich von überall her an. Meine Freunde reden darüber, Meditationslehrer üben es ein, in den Führungsetagen von Unternehmen ist es ein grosses Thema, sogar mein Masseur spricht von «Loslassen». Offenbar bin ich in dem Jahrzehnt meines Lebens angekommen, in dem Loslassen als Titelmelodie gespielt wird. Egal ob mir die Melodie gefällt oder nicht.

Ist das «Loslassen» ein USP (unique selling point) mit 60? Etwas das wir besser können, als damals als wir 50 waren? Oder 40? Oder sollen wir doch lieber Golf spielen, Kreuzfahrten buchen, einen Hund Gassi führen, teure Autos und eine Ferienwohnung kaufen? Und uns dann fragen war’s das?

Ich zum Beispiel kann mehr sein lassen. «So wie es ist, so ist es gut.» Diesen Spruch, der als Kalligraphie seit zwanzig Jahren bei mir an der Wand hängt, kann ich langsam aber sicher akzeptieren. Ich kann mich in Frieden lassen. Ich muss weniger. Ich bin nicht mehr so getrieben, wie noch mit 50 und erst recht mit 40. Ich lasse mich nicht mehr so schnell aus der Ruhe bringen. Nehme nicht mehr alles so persönlich. Auch die Welt muss ich nicht mehr retten, weil ich langsam erkenne, dass die Welt schon recht gut für sich selber schauen kann. Mein Freund, der kürzlich in China über einen grossen Platz spaziert ist, sagt: „Inmitten all der Chinesen habe ich plötzlich erkannt, wie unbedeutend ich bin. Würde jetzt ich oder irgendeiner dieser Chinesen plötzlich in einem Erdloch verschwinden, es wäre vollkommen egal.“ Das stimmt natürlich nicht, weil wir dann nicht mehr jeden Montag miteinander Kaffee trinken und philosophieren könnten; aber ich weiss, was er damit gemeint hat.

Also ab ins Kaffee oder unter die Platanen, Boule-spielen, wie es die alten Männer in Südfrankreich tun? Dummerweise wählen viele dieser Boule-spieler den Front national. Ich nicht. Und deshalb ist es nicht so einfach mit dem Loslassen. Boule-spielen ist keine Lösung. Front national wählen bedeutet eben auch: Festhalten am alten. Es bedeutet, dass man überzeugt ist, dass früher alles besser war. Dass man recht hat. Dass man eigentlich weiss, wie man es machen müsste. 

Mein neues Lebensgefühl am Anfang dieses siebten Lebensjahrzehnts ist anders. An guten Tagen stehe ich auf und bin überrascht, wie tief ich geschlafen habe. Ich erinnere mich an einen Traum und hänge ein paar Momente diesen Erinnerungen nach. Dann merke ich beim Aufstehen, dass meine Beine etwas steif sind, aber das geht in Ordnung. Ich steige die Treppe hinab, mache Frühstück für mich, freue mich, wenn eins der Kinder sich zu mir setzt, beklage mich nicht, wenn es nichts sagt, sondern einfach seine Cornflakes in sich hineinstopft. Vielleicht liefert die Sonne ein Sonnenaufgangsspektakel, vielleicht auch nicht. Und so geht es weiter. Der Tag kommt auf mich zu. Er überrascht mich. Er ärgert mich. Das Wetter ist gut oder schlecht. Ich nehme es hin. Die Schnecken im Garten haben am frisch gepflanzten Ysop geschleimt und gefressen, aber die Wegwarte steht unversehrt, gut so. Ich freue mich aufs Kaffeetrinken mit meinem Freund. Schaue kurz im Büro vorbei und erledige, was zu erledigen ist. Ich bin frei von Stress. Ich kann mit meinen Kolleginnen über Ferien plaudern, aber ich muss nicht. Ich kann meine Meinung zum neuen Geschäftsbericht sagen, sie hören mir zu, aber ob sie beherzigen, was ich von mir gebe, ist ihre Sache. Und immer wieder, während dieses ganzen, schönen, langen Tages sehe ich, was die Welt alles zu bieten hat. Und ich sehe, dass ich frei bin, mich darauf einzulassen oder auch nicht. Das ist sehr entspannt. Das fühlt sich gut und richtig an. Das hat Weite und Tiefe. An einem solchen Tag ist nichts Grossartiges erreicht worden, aber es war ein guter Tag in Frieden mit mir und der Welt.

Es gibt auch die schlechteren Tage, an denen sich der Frieden nicht einstellt, an denen ich immer noch meine, ich müsse, an denen etwas nicht so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe und ich damit nicht klarkomme. Tage an denen ich damit hadere, dass ich nicht wie ein junger Hund aus dem Bett springe, an denen der Rücken schmerzt und ich darunter leide. Dann bin ich nicht im Tao, zweifle an mir und der Welt, weiss nicht, was ich mit mir und der Welt anfangen und was in den nächsten zehn Jahren noch abgehen soll. Aber wenn ich an solch schlechten Tagen viel Glück habe, erkenne ich irgendwann oder vielleicht erst wenn die Nacht hereinbricht, dass auch das sein darf. Dass weder meine Frau noch meine Kinder mich weniger lieben oder mich verlassen, selbst wenn ich einen Tag lang nörgelig und unleidig war. Und dass die Welt mir am nächsten Tag genau den gleichen Strauss an Fülle und Wundern anbieten wird und ich wieder die Möglichkeit und Freiheit haben werde, dies anzunehmen oder halt nicht.

Es ist dieses neue Lebensgefühl, dass wir im siebten Jahrzehnt als USP und als Fortschritt anzubieten haben. Es ist ein Kunststück und eine Herausforderung. Das war es aber schon immer. Wenn wir die Herausforderung nicht annehmen, landen wir beim Front national, der SVP oder der AfD. Aber wenn uns das Kunststück gelingt, sehen wir die volle Weite und Tiefe des Himmels und das ist nicht nichts.

(14.11.2018)

Überrascht von der Ewigkeit

Überrascht von der Ewigkeit


Lieber Freundeskreis von Ben

Ich stehe hier, weil Ben mich darum gebeten hat, zwei Tage bevor er sich auf den Weg ins Licht jenseits machte. Er wollte nicht, dass jemand seinen Lebenslauf vorliest, vielmehr sagte er, ich solle etwas über ihn erzählen, über das was er sei. Also habe ich mich gefragt, was er mir denn heute ist und in Zukunft sein wird?

Erstens ist da natürlich die Lücke. Ich habe einen Freund verloren, wie ihr alle auch. Aber schaue ich etwas genauer hin, sehe ich etwas ganz anderes: Wo er gestanden hat, ist keine Lücke, sondern ein Leuchten. Wo er gestanden hat, steht einer der aussieht wie Mahatma Gandhi, der hatte auch dieses Leuchten. Und wenn ich mich erinnere an all die Menschen, die schon an mir vorbeigezogen sind, dann muss ich sagen – so ein Leuchten habe ich noch gar nie gesehen.

Zum ersten Mal habe ich es bemerkt, als wir einander wieder einmal in der Café Bar Meridiani getroffen haben. Das war kurz bevor ihm die Ärzte sagten, dass er Metastasen habe. Wir sassen da beisammen und blinzelten in die Herbstsonne und er strahlte und strahlte wie ein kleines Kind an Weihnachten. Er erzählte mir von seinen Träumen. Wie er früher immer von langen dunklen Korridoren und schäbigen Räumen geträumt hat; abblätternde Tapeten und viele Türen von denen keiner weiss, was dahinter liegt. Jetzt sind seine Räume und Träume licht und hell, farbig, gut ausgeleuchtet und schön. 

Von da an waren unsere Treffen immer eine aussergewöhnlich freudige und Kraft spendende Erfahrung. Natürlich hatte ich jedes Mal diese Angst vor dem nächsten Telefon oder dem nächsten Besuch; so wie man halt Ängste mitbringt, wenn man sich mit einem Todkranken trifft. Aber jedes Mal vertrieb Ben diese Ängste schon bei der Umarmung mit der wir einander begrüssten. Und jedes Mal ging ich wieder von ihm weg mit der Ruhe und Gewissheit, dass alles gut war, so wie es ist. Wie mir erging es offenbar auch euch. Zum Beispiel mit Mahatma Ben in Stans im Rollstuhl. Bekannte grüssen ihn, kommen auf ihn zu. Jap, der Hotelier, bietet ihm an, dass jeder der Ben besucht gratis in seinem Motel übernachten könne. Rolf sein alter Freund begegnet ihm und sie finden in wenigen Minuten eine Tiefe ihres Gesprächs, die man sonst wenn überhaupt, nur nach längerer Zeit erreicht. Ben öffnet in diesen letzten Wochen die Türen zu den Herzen der Menschen. Und wir beide stellen fest: so wäre es eigentlich schön, so sollte es immer sein.

Er hat viel Besuch in dieser Zeit. Die Menschen kommen gern zu ihm. Es ist, als ob er ein Tor aufgestossen hat, durch das die anderen hindurchsehendürfen, er aber hindurchgehendarf.

Das war auch das letzte Mal im Spital so, als ich aus dem Tessin nach Stans gefahren kam, um ihm auf Wiedersehen zu sagen. Wir sassen oder lagen auf diesen Spitalbetten. Er machte Witze, wir umarmten einander, er war klar, voller Frieden. Und es war weitaus mehr Frieden in diesem Zimmer als sonst wo auf der Welt. Dies nicht zuletzt, dank der liebevollen Betreuung durch das Stanser Spitalteam. Es war für ihn in dieser Nacht auch klar, dass er bald hinübergehen würde und dass es dort drüben weitergeht.

Wir haben in den letzten zwei Jahren viel über den Tod miteinander geredet und viel über das Leben. Ich erinnere mich noch gut an die Spaziergänge rund um Stans und wie er Augenblick um Augenblick genossen hat. Wie schön ihm die Sonne erschienen ist, wie wertvoll jeder Baum! So viel Leben wie in seinen letzten zwei Jahren, habe er in all den vielen Jahren zuvor nicht gehabt, sagte er. Und das merkte man ihm auch an. Neben all den Schwierigkeiten nach der Operation mit Essen und Übelkeit und Schlafstörungen gesundete er, nicht am Körper, aber an Seele und Geist. Und irgendwann war er gesünder als viele von uns, mich eingeschlossen. Weil er das Leben liebte und es so nehmen konnte, wie es war.

Und deshalb möchte ich in seinem Namen sagen: Was er mir hinterlassen hat – und euch allen – ist das Leben selbst, unser Leben. Er hat uns vorgelebt, was das sein kann. Er hat uns gezeigt, wie man sich fühlt, wenn man von der Ewigkeit überrascht wird. Es ist ein Leben für den Augenblick, Tag für Tag, ganz dankbar, ganz freudig. Es ist das Leben auf einen Tod zu, wie wir alle erfahren werden, aber eben auch auf eine Ewigkeit zu. Und damit dies gelingt, so wie es ihm gelungen ist, müssen wir loslassen, ganz viel und ganz vieles. Heute lassen wir Ben los. Das heisst nicht, dass wir ihn vergessen, aber es heisst, dass wir ihn weitergehen lassen, dort wo er jetzt geht und dass wir selber weitergehen, voller Vertrauen, dass alles gut ist. Vielen Dank dafür, lieber Ben.

(geschrieben 2007 als Totenrede für meinen Freund Ben)