Der Atem von Eihei-ji

Der Atem von Eihei-ji

Wir werden um 3.20 Uhr geweckt und trippeln in den Meditationsraum. Eine halbe Stunde sitzen. Holz auf Holz klappt. Eine Glocke erklingt. Ein Gong, dann Trommeln, dann Stille.

Ich folge meinem Atem, wie Suzuki Roshi gestern Abend empfohlen hat. Einatmen 1. Ausatmen 2. Einatmen 3. Ausatmen 4. Ich folge ihm. Ab und zu höre ich den Gong, er stört mich, aber das ist unwichtig. Ich folge ihm. Der Atem dringt in mich ein und verlässt mich wieder. Ich spüre jeden Zug. Ich beobachte ihn aber auch, wie er in mich einzieht und ich beobachte wie er mich verlässt. Ich bin auch ausserhalb von mir als Beobachter. Und ich mache ganz deutlich die Erfahrung, dass der Atem auch der Atem der anderen ist. Es ist der Atem auch der Bäume. Es ist der Atem der ganzen Menschheitsgeschichte; ich atme auch Dogen, der dieses Kloster gegründet hat. Dieser Atem verbindet alles, ich bin verbunden mit allem, aber ich ist nicht nur mein Körper, sondern dieser Beobachter. Und dieser Beobachter ist ebenfalls der Atem. Ja, ja alles ist eins. Gong. Die halbe Stunde ist um.

Ich kehre nur ungern zurück. Diesen Geschmack hätte ich gerne noch ein bisschen länger  gespürt. Aber es ist auch klar geworden, dass dieser Geschmack immer da ist. In jedem Augenblick und an jedem Ort.

Eve erzählt mir später, als ich mit ihr über diese Erfahrung rede, dass man gar nicht mehr sitzen muss, weil ja die Erfahrung der Einheit immer überall ist. Man muss sie nur wahrnehmen.

Ein Kloster wie Eihei-ji, wo seit siebenhundert Jahren Zen geübt wird, macht solche Erfahrungen zugänglicher. Die Energie hier ist sehr spürbar.

Japan, 20.9.06

Die Stille von Ryoanji

Die Stille von Ryoanji

Eine der grössten Touristenattraktionen von Japan erlebe ich in vollkommener Stille. Nicht weil es heute keine Touristen hat, sondern weil sich ein Schweigen auf sie legt. Dabei besteht die Attraktion bloss aus einer Kiesfläche, 10 auf 25 Meter, mit 15 Steinen drin. Sie wurde um 1500 von einem unbekannten Mönch angelegt und ist inzwischen zum Inbegriff des japanischen Zen-Gartens geworden: Ryoanji.

Ich habe wie alle ein Ticket gekauft und die Schuhe ausgezogen. Und wenn im Zugang noch das Geplauder und Gekicher der freudigen Erwartung herumschwirrt, in einer Ecke der Reiseführer vor dem Modell des Ryoanji einer Touristengruppe den Gartenaufbau erklärt, das Licht von draussen vor der letzten Treppe fast schmerzhaft in den dunklen Gang dringt, ist mit dem einen Schritt in diesen Kiesinnenhof plötzlich alles weg.

Vor allem der Lärm. Auf dem Holzdeck entlang der Kiesfläche sitzen sie, die vorher laut waren, still, andächtig und schauen auf den geharkten Kies. Sogar die Kinder einer Schulklasse verstummen. Und ich werde ebenfalls sofort ruhig, aber vor allem innerlich. Die Ruhe strömt von diesem Zen-Garten aus mit einer solchen Kraft über das Holzdeck, dass sich ihr niemand entziehen kann. Man muss hier gar nicht feinfühlig sein, um das zu spüren.

Es ist eine Stille, die mich hält. Ich kann ihr nichts entgegensetzen. Es gibt hier kein Wort. Alle, jeder und jede ob alt oder jung versinkt im blossen Schauen. Geschaut wird aber nichts. Da sind bloss ein paar mit Moos umwachsene Steine, die lose verstreut im Kies liegen. Ich schaue also ins Leere. Nur dass diese Leere nicht schwarz ist, wie wenn man die Augen schliesst, sondern im Sonnenlicht flimmert. Und natürlich ist auch die Stille nicht so tonlos, wie wenn man einen Ohrstöpsel im Ohr hat, sondern die Holzdielen knarren leise, ab und zu vernehme ich auch ein Flüstern. Aber gerade deshalb wirkt die Leere leerer, die Stille tiefer. Leere und Fülle sind hier eins. Und ich bin ein selbstverständlicher Teil davon. Und noch besser: sie sind auch ein Teil von mir. Aussen ist wie Innen.

Das alles kommt so überraschend und schnell über mich, dass ich das Gefühl habe aus Raum und Zeit zu fallen. Dieser Zustand jenseits von Raum und Zeit dauert wahrscheinlich nur ein paar Augenblicke, ist aber so eindrücklich, dass ich ihn nie mehr vergessen werde. Ryoanji ist ein Wunder. Eine Art ausserirdischer Erscheinung. Eine Reise um die halbe Welt wert.

(Japan, 2006)