Der Atem von Eihei-ji

Der Atem von Eihei-ji

Wir werden um 3.20 Uhr geweckt und trippeln in den Meditationsraum. Eine halbe Stunde sitzen. Holz auf Holz klappt. Eine Glocke erklingt. Ein Gong, dann Trommeln, dann Stille.

Ich folge meinem Atem, wie Suzuki Roshi gestern Abend empfohlen hat. Einatmen 1. Ausatmen 2. Einatmen 3. Ausatmen 4. Ich folge ihm. Ab und zu höre ich den Gong, er stört mich, aber das ist unwichtig. Ich folge ihm. Der Atem dringt in mich ein und verlässt mich wieder. Ich spüre jeden Zug. Ich beobachte ihn aber auch, wie er in mich einzieht und ich beobachte wie er mich verlässt. Ich bin auch ausserhalb von mir als Beobachter. Und ich mache ganz deutlich die Erfahrung, dass der Atem auch der Atem der anderen ist. Es ist der Atem auch der Bäume. Es ist der Atem der ganzen Menschheitsgeschichte; ich atme auch Dogen, der dieses Kloster gegründet hat. Dieser Atem verbindet alles, ich bin verbunden mit allem, aber ich ist nicht nur mein Körper, sondern dieser Beobachter. Und dieser Beobachter ist ebenfalls der Atem. Ja, ja alles ist eins. Gong. Die halbe Stunde ist um.

Ich kehre nur ungern zurück. Diesen Geschmack hätte ich gerne noch ein bisschen länger  gespürt. Aber es ist auch klar geworden, dass dieser Geschmack immer da ist. In jedem Augenblick und an jedem Ort.

Eve erzählt mir später, als ich mit ihr über diese Erfahrung rede, dass man gar nicht mehr sitzen muss, weil ja die Erfahrung der Einheit immer überall ist. Man muss sie nur wahrnehmen.

Ein Kloster wie Eihei-ji, wo seit siebenhundert Jahren Zen geübt wird, macht solche Erfahrungen zugänglicher. Die Energie hier ist sehr spürbar.

Japan, 20.9.06

Die Entdeckung der Musik

Die Entdeckung der Musik

Ich sitze mit dem Rücken zum Chor auf der Kirchenbank. Es ist Allerheiligen 2017 und es wird ein göttlicher Abend. Als erstes bemerke ich, dass für dieses Konzert meine Ohrmuscheln falsch herum montiert sind. Da der Chor hinter mir auf der Empore singt, wirken meine Ohrmuscheln nicht wie Schalltrichter, sondern wie Lärmschutzwände. Ich schaue nach vorn in den leeren Kirchenraum, wo es nichts zu sehen gibt. Also schliesse ich die Augen.

Und plötzlich höre ich es: Wie die Musik nicht von den Sängerinnen und Sängern des Chors kommt, sondern durch sie hindurch fliesst. Aus etwas Tieferem entströmt sie. Ich sehe nicht woher. Ich höre nicht woher. Es sind Töne, die durch die Kehlen fliessen, von irgendwoher durch diese Kirche, diese Kehlen, durch diese meine Ohren hindurch und weiter. Als ob ich nicht dasitzen würde, fliessen sie auch durch mich hindurch. Bei dieser Art Hören verlieren meine Ohren ihre Festigkeit, meine Haut wird durchlässig, ich bin hier nicht mehr der sitzende Körper auf der Kirchbank, sondern höchstens Zwischenraum; die weite Leere zwischen den Atomen meines Körpers.

Während dem das mit mir geschieht, realisiere ich, wie der Chor hinter mir nicht Quelle, sondern Teil des Klangs ist. Ein Klang, der schon vor dem Chor war und auch nach dem Chor sein wird.

Und selbst die Quelle dieser Musik aus der Tiefe ist noch nicht die ganze Tiefe. Es ist nicht nur das «Requiem aeternam» von Maurice Duruflé, das hier ertönt, sondern hinter diesem Requiem tönt noch alle Musik von früherer Zeit. Sie quillt sozusagen in die Melodie des Aeternam hinein und wird mitgenommen.

So sitze ich mit geschlossenen Augen mehr als eine Stunde in der zweiten Reihe der Hofkirche in Luzern und halte meine Augen fast während des ganzen Requiems geschlossen. «Der Chor» singt hinten auf der Orgelempore. Die Orgel zusammen mit der Zuger Sinfonietta begleitet den Chor zusammen mit einer Mezzosopranistin, die ein wunderbares Solo gibt. Ein göttlicher Abend!

Überrascht von der Ewigkeit

Überrascht von der Ewigkeit


Lieber Freundeskreis von Ben

Ich stehe hier, weil Ben mich darum gebeten hat, zwei Tage bevor er sich auf den Weg ins Licht jenseits machte. Er wollte nicht, dass jemand seinen Lebenslauf vorliest, vielmehr sagte er, ich solle etwas über ihn erzählen, über das was er sei. Also habe ich mich gefragt, was er mir denn heute ist und in Zukunft sein wird?

Erstens ist da natürlich die Lücke. Ich habe einen Freund verloren, wie ihr alle auch. Aber schaue ich etwas genauer hin, sehe ich etwas ganz anderes: Wo er gestanden hat, ist keine Lücke, sondern ein Leuchten. Wo er gestanden hat, steht einer der aussieht wie Mahatma Gandhi, der hatte auch dieses Leuchten. Und wenn ich mich erinnere an all die Menschen, die schon an mir vorbeigezogen sind, dann muss ich sagen – so ein Leuchten habe ich noch gar nie gesehen.

Zum ersten Mal habe ich es bemerkt, als wir einander wieder einmal in der Café Bar Meridiani getroffen haben. Das war kurz bevor ihm die Ärzte sagten, dass er Metastasen habe. Wir sassen da beisammen und blinzelten in die Herbstsonne und er strahlte und strahlte wie ein kleines Kind an Weihnachten. Er erzählte mir von seinen Träumen. Wie er früher immer von langen dunklen Korridoren und schäbigen Räumen geträumt hat; abblätternde Tapeten und viele Türen von denen keiner weiss, was dahinter liegt. Jetzt sind seine Räume und Träume licht und hell, farbig, gut ausgeleuchtet und schön. 

Von da an waren unsere Treffen immer eine aussergewöhnlich freudige und Kraft spendende Erfahrung. Natürlich hatte ich jedes Mal diese Angst vor dem nächsten Telefon oder dem nächsten Besuch; so wie man halt Ängste mitbringt, wenn man sich mit einem Todkranken trifft. Aber jedes Mal vertrieb Ben diese Ängste schon bei der Umarmung mit der wir einander begrüssten. Und jedes Mal ging ich wieder von ihm weg mit der Ruhe und Gewissheit, dass alles gut war, so wie es ist. Wie mir erging es offenbar auch euch. Zum Beispiel mit Mahatma Ben in Stans im Rollstuhl. Bekannte grüssen ihn, kommen auf ihn zu. Jap, der Hotelier, bietet ihm an, dass jeder der Ben besucht gratis in seinem Motel übernachten könne. Rolf sein alter Freund begegnet ihm und sie finden in wenigen Minuten eine Tiefe ihres Gesprächs, die man sonst wenn überhaupt, nur nach längerer Zeit erreicht. Ben öffnet in diesen letzten Wochen die Türen zu den Herzen der Menschen. Und wir beide stellen fest: so wäre es eigentlich schön, so sollte es immer sein.

Er hat viel Besuch in dieser Zeit. Die Menschen kommen gern zu ihm. Es ist, als ob er ein Tor aufgestossen hat, durch das die anderen hindurchsehendürfen, er aber hindurchgehendarf.

Das war auch das letzte Mal im Spital so, als ich aus dem Tessin nach Stans gefahren kam, um ihm auf Wiedersehen zu sagen. Wir sassen oder lagen auf diesen Spitalbetten. Er machte Witze, wir umarmten einander, er war klar, voller Frieden. Und es war weitaus mehr Frieden in diesem Zimmer als sonst wo auf der Welt. Dies nicht zuletzt, dank der liebevollen Betreuung durch das Stanser Spitalteam. Es war für ihn in dieser Nacht auch klar, dass er bald hinübergehen würde und dass es dort drüben weitergeht.

Wir haben in den letzten zwei Jahren viel über den Tod miteinander geredet und viel über das Leben. Ich erinnere mich noch gut an die Spaziergänge rund um Stans und wie er Augenblick um Augenblick genossen hat. Wie schön ihm die Sonne erschienen ist, wie wertvoll jeder Baum! So viel Leben wie in seinen letzten zwei Jahren, habe er in all den vielen Jahren zuvor nicht gehabt, sagte er. Und das merkte man ihm auch an. Neben all den Schwierigkeiten nach der Operation mit Essen und Übelkeit und Schlafstörungen gesundete er, nicht am Körper, aber an Seele und Geist. Und irgendwann war er gesünder als viele von uns, mich eingeschlossen. Weil er das Leben liebte und es so nehmen konnte, wie es war.

Und deshalb möchte ich in seinem Namen sagen: Was er mir hinterlassen hat – und euch allen – ist das Leben selbst, unser Leben. Er hat uns vorgelebt, was das sein kann. Er hat uns gezeigt, wie man sich fühlt, wenn man von der Ewigkeit überrascht wird. Es ist ein Leben für den Augenblick, Tag für Tag, ganz dankbar, ganz freudig. Es ist das Leben auf einen Tod zu, wie wir alle erfahren werden, aber eben auch auf eine Ewigkeit zu. Und damit dies gelingt, so wie es ihm gelungen ist, müssen wir loslassen, ganz viel und ganz vieles. Heute lassen wir Ben los. Das heisst nicht, dass wir ihn vergessen, aber es heisst, dass wir ihn weitergehen lassen, dort wo er jetzt geht und dass wir selber weitergehen, voller Vertrauen, dass alles gut ist. Vielen Dank dafür, lieber Ben.

(geschrieben 2007 als Totenrede für meinen Freund Ben)