Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Abendrot als ob es kein Morgen gäbe

Wir wollten auf Muottas Muragl, das ist ein 2400 Meter hoher Berg im Engadin, übernachten. Das Wetter war den ganzen Tag über trüb gewesen. Und es war saukalt, fast – 20 Grad Celsius. Wir sassen im Speisesaal des Hotels am Fenster und blickten auf die Engadiner Seen hinunter. Ausser weissen schnee- und eisbedeckten Flächen war da allerdings nicht viel zu sehen. Der Wein ging langsam zur Neige. Eigentlich hatten wir vorgehabt noch einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen, aber das da draussen war wenig einladend. Also aufs Zimmer? Wir blickten nochmals durch die grossen Fenster hinaus auf die Bergwelt. Da zeigte sich plötzlich ein kleiner schwacher gelber Streifen am Himmel. Mickrig aber stark genug, um uns rauszulocken, nur kurz, ohne Jacken und Mützen, für eine kurze Runde.

Als wir draussen ankamen war der Streifen ein klein bisschen gewachsen. Wir gingen ein paar Schritte, hundert Meter vielleicht, bis wir auf eine Fotografin trafen. Sie hatte ihr Stativ aufgestellt und wartete. Wir blickten in die Richtung ihres Objektivs: Der gelbe Streifen war deutlich gelber geworden und auch breiter. Also gingen wir nochmals 50 Meter weiter, um in die andere Talseite zu schauen. Dort war nichts zu sehen, alles grau in grau. Aber als wir uns umdrehten war der Streifen zu einer gelb, hell orangen Fläche über den weissen Gipfeln angeschwollen. Und mit jedem Schritt, den wir machten, schüttete der Himmel weiter Farbe ins Firmament. Als wir wieder bei der Fotografin ankamen war sie bereits am Bilder machen.

Wir nahmen unsere Kamera beziehungsweise das Handy ebenfalls zur Hand und taten es ihr nach. Der Himmel pumpte weiter Farbe. Und jetzt holte er auch den grossen Pinsel heraus und strich die Wolkenbalken. Hinter uns übergoss er die weissen Gipfel mit Orange und Rosa. Dann begann er richtig zuzulangen. Die Wolken wurden jetzt tief orange. Zwischendrin leuchteten türkisfarbene Himmelsfetzen aus dem All. Und jetzt begann er auch mit Rot um sich zu werfen. 

Wir schlotterten schon die ganze Zeit. Und um das zu ändern rannten wir wie junge Hunde über den Schnee Richtung Hotel. Dort auf der Terrasse fotografierten und staunten und bewunderten wir weiter. Der Himmel kannte nun kein Halten mehr. Purpur erschien. Orange wurde noch oranger. Wir konnten die Farben nicht mehr nur sehen, sie flossen so stark über, dass wir sie auch fliessen hören konnten. Es war alles symphonisch. Es gab keine Grenzen mehr. Alles zerfloss ineinander und zueinander in einem überwältigenden Farbenrausch. Wir wurden trunken. Auch wir zerflossen. Überall war Farbe. Orange auf unseren Gesichtern. Gelb und Rot auf unseren Händen. Ich lachte und weinte abwechslungsweise. Ich spürte wie es kein Entrinnen vor der Erkenntnis gab, dass hier für uns ein Wunder an Farbenfülle und Lebenslust inszeniert wurde, in das wir eingetaucht waren, ohne zu wissen wie uns geschah. Wir waren einfach mitgenommen worden in dieses grosse Gestalten. Es war ein einziges, riesiges Fest von Farben über den weissen Gipfeln der Engadiner Berge. Ein Fest fürs Leben.Und irgendwann war es vorbei. Wir waren äusserlich halb erfroren, aber innerlich so heiss vor Freude und Glück, dass die kalten Nasen, Finger und Zehen nichts ausmachten.

24.2.22

Herzerwärmend

Herzerwärmend

Das Angebot von tausend Kernen bringt mir im Winter den herzerwärmenden Besuch von zwanzig Vogelarten. Amseln, Finken, Meisen, Kleiber, Spechte und Rotbrüstchen tummeln sich um unser Vogelhäuschen vom kalten November an. Fünf Kilogramm Futter vertilgen sie pro Woche. Sie werden umgesetzt in Lebendigkeit an dunklen Wintertagen.

Aus einer im Winter toten Ecke des Balkons wird ein lebendiges Geflatter und Gezwitscher. Meisen hämmern auf den Sonnenblumenkernen herum. Amseln und Kleiber schmeissen missliebige Samen in hohem Bogen aus dem Häuschen. Finken hocken oft eine Viertelstunde unter dem Vogelhausdach und schlagen sich den Bauch voll. Und ab und zu erscheinen die Seltenen und Besonderen: der Gimpel, der Kirschkernbeisser, der Kreuzschnabel oder der Buntspecht, die Schwanzmeise und die Bartmeise.

Am meisten Freude habe ich an den kleinen Zeisigen, die in Gruppen einfallen und am Boden herumhüpfen wie Federbällchen. Sie picken auf, was runtergefallen ist.

Seit meiner Kindheit habe ich Freude an Vögeln. Und meine Grossmutter, meine Mutter und jetzt wir haben sie im Winter immer gefüttert. Es ist eine Familientradition. Vor allem aber macht es Spass und Freude. Es sind keine überschwänglichen Momente, die ich vor dem Vogelhäuschen verbringe. Es ist die Konstanz und Verlässlichkeit des Erscheinens dieser Vögel, die mich beeindruckt. Sie signalisiert: der Kälte und Erstarrung des Winters zum Trotz geht das Leben weiter, wir sind immer noch da; wir widerstehen dem Gefrorenen wie du und freuen uns am Körnerangebot.

Das Bild der flatternden Vögel prägt mir jeden Morgen, vier oder fünf Wintermonate lang. Wenn sich alle Pflanzen draussen in die Erde zurückgezogen haben, kein Blatt an den Bäumen hängt und die Menschen, wenn überhaupt, nur vermummt durch die Strassen gehen, sind die Vögel immer noch da. Erscheinen wie aus dem Nichts, sobald ich ihnen ein paar Körner hinlege und bringen luftige Grüsse zum Teil von weit her oder auch nur vom nächsten Waldrand.